Zusammenfassung
Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte Baron Hirsch einen der prominentesten Versuche, die russländischen Juden aus ihrer Armut zu führen. Die verarmten Stadtbewohner sollten als Pioniere einer grundlegenden Erneuerung des Judentums in neu entstehende jüdische Agrarkolonien nach Argentinien auswandern. Zahlreiche dieser Kolonien scheiterten, einige bestehen bis heute, allesamt bilden sie den Ursprungsmythos des jüdischen Argentiniens. Dessen Langlebigkeit ruft angesichts der numerischen und ökonomischen Schwäche der Kolonien nach einer Erklärung. Dieser Beitrag nähert sich dem Mythos, indem er ihn als Ergebnis eines Migrations- und Kommunikationsprozesses begreift, der mit einer komplexen Migrationsgeschichte begann und erst später die konfliktreiche Geschichte der jüdischen Migration mit der argentinischen Nationalgeschichte harmonisierte. Dabei ging aber der Blick auf jene innerjüdischen Konflikte verloren, die das Migrationsgeschehen bestimmten. Denn im Widerstreit zahlreicher Akteure entfaltete sich ein Migrationsregime, in dem der argentinische Staat, die Migrationsorganisation ICA, die Kolonisten und die urbanen jüdischen Gruppen sowohl das Migrationsgeschehen als auch die Bedeutung der Kolonien aushandelten. Um das evasive Konzept eines Migrationsregimes empirisch zu fassen, schlägt dieser Beitrag eine geschichtete Regimeanalyse vor, anhand derer die konfligierenden Interessen und Praktiken der Akteure eines lokalen Migrationsregimes in seiner transnationalen Vernetzung herausgearbeitet werden können.