Die Entwicklung numerischer Simulationsverfahren und experimenteller Methoden zur Untersuchung von Reibungsprozessen auf atomarer Ebene haben in den letzten Jahrzehnten ein schnelles Anwachsen der Anzahl von Forschungsarbeiten im Bereich der Reibung von Festkörpern auf atomarer Skala hervorgerufen. Als Grundlage für viele Untersuchungen der Reibungsmechanismen auf atomarer Skala kann das als „Tomlinson-Modell“ bekannte einfache Modell benutzt werden. Es wurde von Prandtl 1928 zur Beschreibung plastischer Deformation in Kristallen vorgeschlagen. Das in diesem Zusammenhang oft zitierte Paper von Tomlinson enthält das „Tomlinson-Modell“ nicht und ist einer Begründung für den adhäsiven Beitrag zur Reibung gewidmet. Wir werden dieses Modell im Weiteren als „Prandtl-Tomlinson-Modell“ bezeichnen.
Der Erfolg des Modells, das in verschiedenen Variationen und Verallgemeinerungen in unzähligen Publikationen untersucht und zur Interpretation von zahlreichen tribologischen Vorgängen herangezogen wurde, beruht darauf, dass es ein minimalistisches Modell ist, welches die zwei wichtigsten Grundeigenschaften eines beliebigen Reibungssystems abbildet: Es beschreibt einen Körper unter der Wirkung einer periodischen konservativen Kraft mit dem Mittelwert Null in Kombination mit einer geschwindigkeitsproportionalen dissipativen Kraft. Ohne die konservative Kraft könnte es keine Haftung geben, ohne die Dämpfung kann sich keine makroskopische Reibungskraft ergeben. Das Prandtl-Tomlinson-Modell ist in diesem Sinn das einfachste brauchbare Modell eines tribologischen Systems. Im Grunde genommen ist das Prandtl-Tomlinson-Modell eine Umformulierung und eine weitere Vereinfachung der Vorstellungen von Coulomb über die „Verzahnung“ von Oberflächen als Ursache der Reibung.
In diesem Kapitel untersuchen wir das Prandtl-Tomlinson-Modell sowie einige seiner Anwendungen und Verallgemeinerungen.
Tomlinson G.A.: A molecular theory of friction. The London, Edinburgh, and Dublin philosophical magazine and journal of science, 1929, Vol. 7 (46 Supplement), p. 905.).
Als „makroskopisch“ bezeichnen wir hier die Bewegung eines Körpers auf der räumlichen Skala viel größer als die Potentialperiode. Die durch die Potentialperiode bestimmte räumliche Skala bezeichnen wir dagegen als „mikroskopisch“.