Skip to main content
Top

2005 | Book

Der Selbe und der Andere

Formen und Strategien der Erfahrung der Fremde bei Franz Kafka

Author: Patrice Djoufack

Publisher: Deutscher Universitätsverlag

Book Series : Literaturwissenschaft

insite
SEARCH

Table of Contents

Frontmatter

Einleitung

Einleitung
Zusammenfassung
Kafka war Jude, lebte in Prag unter Tschechen und schrieb in deutscher Sprache. Untersucht wird in dieser Arbeit die Art, wie interkulturelle Erfahrungen Kafkas Schreibweise geprägt haben, und auf welche Weise sie zugleich in seinem Werk thematisiert werden.
Patrice Djoufack

Erster Teil

Frontmatter
1. Interkulturelle Erfahrung und ethnographischer Reiz
Zusammenfassung
Die vorliegende Untersuchung geht von der Feststellung aus, dass die Lektüre von Kafkas interkultureller und ästhetischer Erfahrung besonders dadurch erschwert ist, dass das Wort in seinem Werk doppeldeutig ist Es widerspricht sich und schließt sich ständig aus, so dass die Helden, mithin der Leser gar nicht wissen, worauf sie sich beziehen oder was sie verstehen sollen, zumal der Gegenstand, den das Wort darstellt, dynamisch ist, mitunter verschwimmt und sich folglich nicht erfassen lässt. Aus diesem Grunde scheint es mir vonnöten zu sein, Kafkas Redeweise über Interkulturalität aus seinen Schriften zu rekonstruieren. Aus dieser Rekonstruktion lassen sich, so hoffe ich, Kategorien herausarbeiten, die eine Analyse seines Diskurses ermöglichen.
Patrice Djoufack
2. Ästhetische als interkulturelle Erfahrung
Zusammenfassung
Meine Analyse von Kafkas Wahrnehmung und Beschreibung von Interkulturalität beruht auf der Arbeitshypothese, dass seine interkulturelle Erfahrung erst im Schreibprozess manifest wird, und zwar in dem von ihm gesprochenen Deutsch, einer Sprache, die er von Geburt an spricht, in der Schule gelernt hat und die er schreibt. Er tritt erst spät in Kontakt mit dem Jiddischen; Hebräisch fangt er erst spät an zu lernen. Und wenn er auch mit dem Tsche-chischen umgeht, hat es nicht denselben Status bei ihm wie die (dominierende) deutsche Sprache. Dennoch stellt ihm diese Sprache Schwierigkeiten im Schaffensprozess, und er zweifelt an ihr. Seine Skepsis offenbart seinen problematischen Bezug zum Deutschen, eine Krise, die mit der in Verbindung gebracht werden kann, die Jacques Derrida in Bezug auf seine eigene Einsprachigkeit, auf das Französische, so zum Ausdruck bringt: „Oui, je n’ai qu’une langue, or ce n’est pas la mienne.“38 Das von Kafka gesprochene Deutsch entpuppt sich ihm als die Sprache des Anderen. Wie beschreibt und begründet er seinen Zweifel an der Sprache? Welche Bedeutung misst er der Sprache bei und wie reflektiert diese seine inter-kulturelle Erfahrung. Dass interkulturelle Erfahrung durch Sprache reflektiert wird, erscheint in diesem Zusammenhang als Handicap im Schreibprozess.
Patrice Djoufack
3. Von der Suspension des Ethischen im Glauben zur Säkularisierung des Religiösen
Zusammenfassung
Die Analyse von Kafkas Beschäftigung mit Kierkegaard verfolgt nicht nur den Zweck, Kafkas Verhältnis zur christlichen Religion und zum Kierkegaardschen religiösen Diskurs zu beschreiben. Damit zusammenhängend setzt sie sich zum Ziel, Kafkas Verfahrensweise bei seiner Auseinandersetzung mit dem Abraham-Motiv, seine Transformation der Abraham- Allegorie, zu untersuchen. Es ist ein Verfahren, das ich vorläufig interkulturell nennen möchte. Über die Gespaltenheit des Wortes hinaus ist die Transformation oder Bearbeitung die zweite Dimension des Gebrauchs der Sprache bei Kafka. Worin sie besteht, werden die Analysen zeigen.
Patrice Djoufack
4. Kafkas Erfahrungsweise der jüdischen Tradition und deren Wirkung auf sein Schreiben
Zusammenfassung
Wenn sich Kafka dermaßen von Christen abzugrenzen sucht, stellt er sich doch nicht schlicht und einfach auf die Seite der Juden. Seine Äußerungen über sein Verhältnis zu Prager Juden sind sehr ambivalent. Am 8. Januar 1914 versucht er in seinem Tagebuch, seine Position unter den Juden folgendermaßen zu bestimmen: „Was habe ich mit Juden gemeinsam? Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam und sollte mich ganz still, zufrieden damit, dass ich atmen kann, in einen Winkel stellen.“ (T. 255) Sein Abgrenzungswille verrät aber paradoxerweise das Bewusstsein seiner Nähe zu Juden. Damit wird die Gemeinsamkeit mit Juden nicht negiert. Vielmehr „werden Zweifel geäußert, die aber nicht bis zur Negation gesteigert werden.“80 Was Kafka in Frage stellt, ist die Möglichkeit und Sicherheit seiner Identifikation mit der eigenen Kultur und Tradition. Dabei muss betont werden, dass er, nachdem er den Bruch mit der Welt der Väter vollzogen hat, mit der Welt der sich eifrig an die europäische Kultur assimilierenden Juden, seine Stellung in Bezug auf jene Prager Juden zu definieren sucht, welche unter der geistigen Führung von Martin Buber die jüdische Tradition wiederbeleben und erneuern wollen, und die Hartmut Binder einmal als Nationaljuden bezeichnet hat, nicht ohne Kafka undifferenziert zu ihnen zu zählen.81
Patrice Djoufack
5. Zur Funktion der Literatur
Zusammenfassung
Die Beschäftigung mit dem Ostjudentum und mit dem ostjüdischen Theater spornen, neben seinen vielfältigen Erfahrungen in der Gesellschaft, Kafkas Nachdenken über Literatur und ihre Funktion an.
Patrice Djoufack

Zweiter Teil

Frontmatter
1. Die Verwandlung
Zusammenfassung
Die am 15 November 1912 begonnene, schon einen Monat später abgeschlossene Erzählung Die Verwandlung konnte Kafka erst drei Jahre später, im November 1915, zusammen mit dem ersten Kapitel des Romans Amerika, Der Heizer, in der von René Schickele herausgegebenen Monatsschrift Die Weißen Blätter veröffentlichen. Dass sich die Veröffentlichung in die Länge zog, beruht nicht nur auf der Schwierigkeit, einen Verleger zu finden - die geplante Edition in der Neuen Rundschau war gescheitert -, sondern auch auf Kafkas Absicht, diese Erzählung mit anderen Texten gemeinsam zu edieren, die mit ihr inhaltlich Zusammenhängen. So äußert er am 11. April 1913 in einem an den Verlag Kurt Wolff geschriebenen Brief den Wunsch, die Erzählungen Das Urteil, Die Verwandlung und Der Heizer in einem Band zu veröffentlichen, der den Titel Die Söhne tragen würde,155 weil diese Erzählungen „eine offenbare und eine noch mehr geheime Verbindung“ (Br. 116) hätten.
Patrice Djoufack
2. Das Urteil
Zusammenfassung
Die Erzählung Das Urteil entsteht „in der Nacht vom 22. bis 23.“ September 1912 „von zehn Uhr abends bis sechs Uhr früh in einem Zug” (T. 214), und zwar zu einer Zeit, da Kafka noch an der Geschichte Die Verwandlung und an dem Roman Amerika arbeitet. Im Gegensatz zu letzteren Werken sowie zu seiner übrigen literarischen Arbeit bezeichnet Kafka die Entstehung von Das Urteil als „eine regelrechte Geburt” (ebd., 217), das heißt, als eine gelungene Produktion, die Freude am Geschriebenen auslöst und, da das Ergebnis seinen Erwartungen entspricht, ein erfolgreiches künstlerisches Schaffen dokumentiert. Diese Produktionsweise definiert aber zudem als Modell seines literarischen Schaffens die ununterbrochene Niederschrift einer Geschichte. Darüber äußert er sich am 23. September 1912 in seinem Tagebuch: „Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die Geschichte von mir entwickelte, wie ich in einem Gewässer vorwärtskam. […] Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.“ (Ebd., S. 214. Herv. i.O.)
Patrice Djoufack
3. Das Schloss
Zusammenfassung
In der Kafka-Forschung wird vermutet, dass Kafka seinen Roman Das Schloss wahrscheinlich im Januar 1922 begann311 und ihn spätestens im September desselben Jahres liegen ließ, ohne dass er ihn abgeschlossen hätte.312 Anders als die bereits analysierten Erzählungen wurde der Roman im Jahr 1926 gegen Kafkas Willen von Max Brod posthum veröffentlicht, zwei Jahre nach dem Tod des Autors. Dass Kafka seine Geschichte nicht bis zu Ende schreiben konnte, ist offensichtlich auf seinen physischen Zusammenbruch zurückzufuhren, wie er im Brief vom 11. September 1922 an Max Brod schreibt Aber bei näherer Betrachtung kann man feststellen, dass dieser Roman dasselbe Schicksal erfahrt wie die beiden ersten Romanen Der Verschollene (Amerika) (1911/12) und Der Prozess (1914/15), die auch fragmentarisch blieben. Auf die Frage, ob die Unmöglichkeit, seine Romane abzuschließen, mit einer Unfähigkeit Zusammenhänge, sich in einem größeren epischen Werk zu äußern, und er deswegen ein Autor sei, dessen schriftstellerisches Vermögen vornehmlich in Erzählungen zum Ausdruck komme, möchte ich hier nicht eingehen.
Patrice Djoufack
4. Amerika
Zusammenfassung
Als Kafka den Roman, der später den Titel Amerika tragen wird, im Jahr 1911 beginnt, hat er vor, ihn Der Verschollene zu nennen. (Vgl. F. 86) Es ist sein erster Romanversuch, den er aber nicht „in einem Zug“ zu realisieren vermag, wie er es bei der Niederschrift der Erzählung Das Urteil getan hatte. Er wird zeitweise unterbrochen durch die Arbeit an anderen Erzählungen wie Das Urteil und Die Verwandlung. Dennoch möchte er sich bis zum letzten Atemzug für seinen Roman „aufbrauchen“. (F. 86) Im Grunde ist er sich der Schwierigkeiten bewusst, die sein Projekt ihm bereitet. An seine Geliebte Felice schreibt er, dass die Geschichte, die er schreibe, „ins Endlose angelegt“ (F. 86) sei. In dem Moment, in dem er ihr ankündigt, dass fünf Kapitel vorläufig fertig seien und das sechste fast beendet sei, scheint er, wie man seinen Worten entnehmen kann, schon zu wissen, dass er den Roman nicht werde beenden können. Nachdem er sich vergeblich gewünscht hat, ihn in den Weihnachtsfeiertagen des Jahres 1912 abzuschließen, bringt er am 9./10. März 1913 in einem Brief an Felice seine Unzufriedenheit mit den schon geschriebenen Kapiteln zum Ausdruck. Er hält lediglich das erste Kapitel, Der Heizer, für gelungen, weil „nur dieses aus innerer Wahrheit herkommt, während alles andere, mit Ausnahme einzelner kleinerer und größerer Stellen natürlich, gleichsam in Erinnerung an ein großes und durchaus abwesendes Gefühl hingeschrieben und daher zu verwerfen ist.“ (F. 331f.) Dieses erste Kapitel veröffentlicht er dann im Mai 1913 im Kurt WolfF Verlag. Der Roman wird erst posthum, im Jahre 1927, von Max Brod mit dem Titel Amerika herausgegeben.
Patrice Djoufack

Schlusswort: Katkas Inszenierung der Interkulturalität

Schlusswort: Kafkas Inszenierung der Interkulturalität
Zusammenfassung
Am 12 November 1917 notiert Kafka in seinem dritten Oktavheft: „Das Glück begreifen, daß der Boden, auf dem du stehst, nicht größer sein kann, als die zwei Füße ihn bedecken.“ (H.61) Diese Eintragung erinnert an eine Stelle in einem Brief an Max Brod, in der von der ungemütlichen Stellung der Juden zwischen zwei verschiedenen kulturellen Traditionen die Rede ist. Die jungen Juden klebten mit den Hinterbeinchen noch am Judentum der Väter, und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Situiert man sich in diesem Kontext, darf Kafkas Notiz im Oktavheft geradezu als Ausbruch von Optimismus begriffen werden, vor allem wenn man weiß, dass er sich Zeit seines Lebens über den mangelnden Boden beklagt hatte. Die von seinem Vater ererbten, aus seiner Sicht unbrauchbaren Reliquien eines Judentums, die im übennittlungsprozess auch noch fast gänzlich verloren gingen, und die Unmöglichkeit, in einer fremden Kultur Fuß zu fassen, hatten ihn - und andere Juden seiner Generation - dazu verurteilt, auf Dauer im Zwischen zweier oder mehrerer Welten zu leben, dabei nie das Gefühl der Verankerung in einer kulturellen Tradition empfinden zu können. Die aus dieser ungemütlichen Stellung sich ergebende Desorientierung und Verzweiflung Kafkas und seiner Generation äußert sich vor allem im Vorgang des Schreibens, als Zweifel am Geschriebenen, am Medium Sprache. Aber mit dieser als ungemütlich bezeichnete Situation muss er fertig werden. Ohne jeden Zweifel deutet Kafka metaphorisch auf die ererbten Reste d~s Judentums hin, wenn er den Boden, der nicht größer sein könne, als die zwei Füße ihn bedecken, als eine glückliche Situation nennt.
Patrice Djoufack
Backmatter
Metadata
Title
Der Selbe und der Andere
Author
Patrice Djoufack
Copyright Year
2005
Publisher
Deutscher Universitätsverlag
Electronic ISBN
978-3-322-81348-0
Print ISBN
978-3-8244-4584-4
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-81348-0