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2021 | OriginalPaper | Chapter

5. Die Allgemeinverbindlicherklärung in Deutschland

Author : Wolfgang Günther

Published in: Staatliche Stützung der Tarifpolitik

Publisher: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Dieses Kapitel zeigt die Entwicklung der Allgemeinverbindlicherklärung und des Tarifsystems in Deutschland auf. Es arbeitet anhand dreier Fallbeispiele aus dem Baugewerbe, dem Einzelhandel und dem Wach- und Sicherheitsgewerbe branchenspezifische, aber im Gesamtkontext erklärungskräftige Interessenlagen und Konfliktkonstellationen heraus. Das deutsche Modell stellt einen zentralen Fall des institutionellen Wandels koordinierter Marktwirtschaften dar (Hall/Thelen 2009; Thelen 2009), der auch und insbesondere in den Arbeitsbeziehungen und im Tarifsystem stattfindet (Hassel 1999b, 2014; Thelen 2014; Baccaro/Benassi 2017; Baccaro/Howell 2017a).

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Footnotes
1
Das Schlichtungssystem der Weimarer Republik sah die „Verbindlicherklärung“ eines Tarifvertrags vor, was die Erstreckung eines verbindlichen Schiedsspruchs auf tarifunwillige Arbeitgeber meinte. Dies ist nicht zu verwechseln mit der Allgemeinverbindlicherklärung, die ebenfalls in der Tarifvertragsverordnung von 1918 festgelegt und von den Tarifpartnern akzeptiert war (Goldschmidt 1932; Bähr 1989: 99–100).
Dem Zwangsschlichtungssystem standen die Gewerkschaften ambivalent gegenüber. Unter guten konjunkturellen Bedingungen Mitte der 1920er Jahre sahen sie in manchen Fällen durchaus das Potenzial einer institutionellen Machtressource, um mithilfe des Staates tarifunwillige Arbeitgeber zu erfassen. Spätestens als Schiedssprüche seit dem Ruhreisenstreit 1928 gegen Gewerkschaften ausfielen und sie zur Durchsetzung Brünings und von Papens Austeritätspolitik instrumentalisiert wurden, lehnten sie diese Form staatlicher Intervention ab (Hüllbüsch 1976; Mommsen 1995; Bähr 1989; Steiger 1998). Der ADGB sah jedoch in der staatlichen Schlichtung einen Einflusskanal auf dem Weg zur Wirtschaftsdemokratie (Nautz 1985: 38; Naphtali/Kuda 1977).
 
2
Die Konflikte um ein liberal-korporatistisches oder staatskorporatistisches Tarifvertragsgesetz verliefen auch zwischen den Besatzungsmächten. Das Zentralamt für Arbeit der britischen Zone und die Verwaltung für Arbeit des wiedervereinigten Wirtschaftsgebiets setzten sich durchaus für eine stärkere staatliche Rolle ein, während die US-Besatzungsmächte und die Gewerkschaften und Arbeitgeber die Staatsferne wünschten (Nautz 1985). Für eine knappe Übersicht der Geschichte des TVG siehe Fehmel (2010: 31–36) sowie ausführlich Nautz (1985, 1991, 1998).
 
3
Mit Tariftreueregelungen bei der öffentlichen Auftragsvergabe, die in der Landesgesetzgebung geregelt sind, verfügen die Bundesländer über eine weitere Möglichkeit, die normsetzende Kraft von Flächentarifverträgen zu unterstützen. Dieses als „kleine AVE“ (Schulten 2012: 487) bezeichnete Instrument ist auf öffentliche Aufträge beschränkt. Der Staat kann die Tarifbindung oder die Orientierung an tarifliche Standards als Vergabekriterium festlegen und damit Unterbietungswettbewerb verhindern. Angesichts des Rüffert-Urteils des EuGH (C-346/06) 2008 mussten Tariftreueklauseln in landesspezifischen Vergabegesetzen den europarechtlichen Vorgaben angepasst werden (siehe hierzu Sack 2010, 2012; Schulten/Pawicki 2008; Schulten et al. 2012).
 
4
Sie forderten lediglich die Beteiligung der Sozialpartner am Beantragungsprozess und das Recht auf Anhörung bei der Entscheidung (Nautz 1985: 96).
 
5
Nachdem die SPD einen Entwurf, bei dessen Gestaltung die Gewerkschaften beteiligt waren, einbrachte, verabschiedete der Wirtschaftsrat das TVG 1948. Erst nach Verhandlungen mit dem Bipartite Control Office (BICO) der alliierten Militärregierung, das demokratische Repräsentativitätskriterien (50 %-Tarifbindung) weiter konkretisiert sehen wollte, wurde das Gesetz dahingehend geändert. Im April 1949 trat es in Kraft (Nautz 1985: 124–140).
 
6
Eine kleine Ergänzung des § 5 TVG geschah 1951/52. Das BICO wirkte bei der Gesetzesformulierung 1948 auf die Streichung des Kriteriums eines sozialen Notstands ein, das ihnen zu unspezifisch und willkürlich erschien. Um Branchen abzudecken, die nicht verbandlich organisiert sind, sollte die Bedingung des sozialen Notstands wieder aufgenommen werden (Wiedemann 1977: 35). Der Bundestag nahm den Gesetzesentwurf der CDU-Regierung im Konsens aller Parteien an (BT-Drs. 1/2396 1951; BT-PP 1/159 1951).
 
7
Aufgrund der Verzögerungen bei der Verabschiedung der EU-Entsenderichtlinie wurde das deutsche AEntG bereits vor der Richtlinie umgesetzt (Eichhorst 1999, 2000; Menz 2001).
 
8
Baugewerbe, Dachdeckerhandwerk, Elektrohandwerk (1997), Maler- und Lackiererhandwerk (2003), Gebäudereinigung (2008), Wäschereidienstleistungen (2009), Abfallwirtschaft, Pflegebranche (2010), Arbeitnehmerüberlassung/Zeitarbeit (2012, nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz), Aus- und Weiterbildungsbranche, Gerüstbauerhandwerk, Steinmetz- und Steinbildhauerhandwerk (2013), Fleischwirtschaft (2014), Geld- und Wertdienste, Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft, Textil- und Bekleidungsindustrie (2015).
 
9
Dieser wird nach gemeinsamem Vorschlag der Sozialpartner von der Bundesregierung berufen; kommt kein gemeinsamer Vorschlag zu Stande, beruft die Bundesregierung den Vorsitzenden im zweijährigen Wechsel auf Vorschlag eines Sozialpartners.
 
10
Diese Koppelung an den Index ruft bei Gewerkschaften Unmut hervor, da der Handlungsspielraum der Kommission durch die Indexierung stark eingeschränkt ist.
 
11
Auf dem Gewerkschaftstag 2006 blieb nur die IG BCE bei ihrer ablehnenden Haltung.
 
12
Die Linke bzw. damals PDS war bereits ab 2002 für einen gesetzlichen Mindestlohn, als der DGB selbst noch gespalten war. Meyer (2016) erklärt dies überzeugend mit der wahlstrategischen Ausrichtung der PDS/Linken auf prekär Beschäftigte, die direkt von Niedriglöhnen betroffen aber nicht notwendigerweise gewerkschaftlich organisiert sind. Die SPD nahm dagegen bei ihrer Entscheidung auf die Präferenzen des DGB und der Einzelgewerkschaften Rücksicht.
 
13
In diesem auf Freiwilligkeit aufbauenden System konnten die Gewerkschaften ihre Mitglieder nicht disziplinieren, in wilden Streiks forderten sie, die durch restriktive Lohnpolitik entstandene Lohndrift auszugleichen (Swenson 1989; Jacobi et al. 1998: 207). Um die Legitimität der Gewerkschaftsführung bei der Basis wiederherzustellen, praktizierten die Gewerkschaften 1970/71 entgegen der Orientierungsdaten der Konzertierten Aktion eine expansive Lohnpolitik und kehrten erst nach dem Druck steigender Inflation 1972 zu Lohnmoderation zurück (Scharpf 1984: 283). Nach Beendigung des Austauschs 1977 kam es bis Ende der 1990er Jahre zu keiner erneuten korporatistischen Einbindung, weshalb diese Episode als „moderate Macrocorporatism“ (Jacobi et al. 1998: 207) gilt.
 
14
Der erste Versuch für ein Bündnis, noch unter der Kanzlerschaft Helmut Kohls, scheiterte 1996 an der Frage der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und für Gewerkschaften nicht zu akzeptierenden Forderungen des BDI (Fehmel 2010: 198; Streeck 2003b: 5). Nach dem rot-grünen Regierungswechsel wurde das Bündnis auf Initiative der SPD-geführten Regierung und der IG Metall neu belebt.
 
15
Bereits der 1984 ausgehandelte Kompromiss im Streit um die Einführung der 35-Stunden-Woche in der Druck- und Metallindustrie bedeutete eine Verlagerung der Entscheidung von Arbeitszeiten auf betriebliche Ebene. In diesen Branchen sollten Betriebsräte und Unternehmensleitung in Betriebsvereinbarungen die Rahmenregelungen zur betrieblichen Arbeitszeitgestaltung regeln.
 
16
In Deutschland ist der Begriff Flächentarifvertrag gebräuchlicher. Da in bestimmten Branchen und für bestimmte Regelungsmaterien (z. B. Mindestlöhne, Verfahrensbestimmungen zu Sozialkassen) deutschlandweite Tarifverträge existieren und in den anderen Länderfällen der Begriff Branchentarifvertrag üblich ist, wird hier für den deutschen Fall mehrheitlich der abstraktere Begriff Branchentarifvertrag verwendet.
 
17
Di Carlo (2018) macht jedoch darauf aufmerksam, dass das Paradigma des deutschen Pattern Bargainings empirisch nicht untermauert ist und dass man lediglich von einer intra-sektoralen, keiner inter-sektoralen Lohnkoordinierung ausgehen könne.
 
18
Concession Bargaining meint, dass Betriebsräte im Betrieb gezwungen sein können, in Absprache mit der Betriebsführung Tarifstandards aus Flächentarifverträgen zu unterlaufen, um drohende Betriebsschließungen oder Entlassungen abzuwenden.
 
19
Darüber hinaus existieren mit dem Beamtenbund und Tarifunion (dbb), der v. a. Beamte des öffentlichen Dienstes organisiert (etwa 1,29 Mio. Mitglieder) und dem Christlichen Gewerkschaftsbund (CGB, mit etwa 270.000 Mitgliedern) zwei weitere Gewerkschaftsbünde, sowie kleinere, nicht affiliierte unabhängige Gewerkschaften, etwa der Marburger Bund als Ärztevertretung, die Pilotenvereinigung Cockpit oder die Flugbegleitervereinigung UFO, die aufgrund ihrer strukturellen Macht sehr konfliktfähig sind.
 
20
Der Strukturwandel und der (teilweise) Niedergang mancher Sektoren führten zu Mitgliedsverlusten der besonders vom Strukturwandel betroffenen Gewerkschaften, weshalb es Mitte der 1990er Jahre zu Gewerkschaftsfusionen kam. Hierzu gehören die Fusionen von IG Bauen-Steine-Erden und Gewerkschaft Gartenbau-Land- und Forstwirtschaft zur IG BAU (1996), von IG Bergbau und Energie, IG Papier-Chemie-Keramik und Gewerkschaft Leder zur IG BCE (1997) und der Beitritt der Gewerkschaften Textil und Bekleidung (1998) und Holz und Kunststoff (2000) zur IG Metall. Im Jahr 2001 gründete sich die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di aus der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, IG Medien, der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, der Postgewerkschaft und der zuvor nicht im DGB organisierten Deutschen Angestelltengewerkschaft DAG. Die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands benannte sich 2000 in Transnet um und fusionierte im Jahr 2010 mit der aus dem dbb kommenden Verkehrsgewerkschaft Gewerkschaft Deutscher Bundesbahnbeamten und Anwärter (GDBA) zur Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG).
Die Abbildung beruht auf den Bezeichnungen der Gewerkschaften im Jahr 2018 und erfasst die Mitgliedszahlen der fusionierten Einzelgewerkschaften unter der aktuellen Gewerkschaftsbezeichnung.
 
21
Neben der Metall- und Elektroindustrie sind in der IG Metall Beschäftigte der Textilindustrie, Holz- und Kunststoffindustrie sowie Informations- und Kommunikationstechnologie vertreten.
 
22
Ver.di ist in der Organisierung diverser Dienstleistungsbranchen aktiv, von Einzelhandel, öffentlicher Dienst, über Pflege und Gesundheit, zu Telekommunikation und Finanzdienstleistungen. Angestellte in der Pflege und in der Bildung sind wegen verstärkter Organizing-Bemühungen stärker vertreten (Dribbusch et al. 2018: 203).
 
23
Neben der Erosion der organisatorischen Macht besteht eine zusätzliche Herausforderung der DGB-Gewerkschaften in der Fragmentierung der Organisations- und Tariflandschaft. Die Gewerkschaftskonkurrenz des Christlichen Gewerkschaftsbundes CGB und der unabhängigen Gewerkschaften (Marburger Bund, Cockpit) stellt den DGB vor die Herausforderung, seine organisatorische und institutionelle Macht gegenüber diesen zu sichern (Bispinck/Dribbusch 2008; Dribbusch 2009). Einerseits treten sie in Konkurrenz bei der Rekrutierung von Beschäftigten, andererseits bieten sie sich als konzessionsbereite Verhandlungspartner an, deren Tarifergebnisse bestehende DGB-Tarifverträge unterlaufen. Prominente Fälle der Tarifkonkurrenz waren Konflikte in der Zeitarbeitsbranche mit der CGB-Gewerkschaft Zeitarbeit und Personal-Service-Agenturen (CGZP) oder im liberalisierten Postgewerbe mit der Gewerkschaft der Neuen Brief- und Zustelldienste (GNBZ). Sie stehen stellvertretend für Bereiche, in denen DGB-Gewerkschaften schwach sind, CGB-Gewerkschaften diese Lücke füllen und denen der DGB Unterbietungskonkurrenz vorwirft (Bispinck/Dribbusch 2008; Dribbusch 2009).
 
24
Mit der Einführung von OT-Mitgliedschaften ist dieser Proxy schwierig, da Unternehmen noch immer Verbandsmitglieder sind, aber den Tarifvertrag nicht anwenden müssen.
 
25
Äußere Erosion meint, ob der Flächentarifvertrag durch seine Abdeckung noch eine Mehrheit der Beschäftigten erreicht. Mit innerer Erosion ist die Frage gemeint, ob er bei formellem Aufrechterhalten noch Normsetzungskraft besitzt oder durch tarifabweichendes Verhalten unterminiert wird, z. B. durch kontrollierte Dezentralisierung mit Öffnungsklauseln oder unkontrolliert mit „wilden“ Tarifunterschreitungen (Bispinck 2003a).
 
26
Dies kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ursachen des deutschen „Beschäftigungswunders“ negative Konsequenzen bereithielten. Die Erosion der Tariflandschaft besonders in niedrigbezahlten Dienstleistungsbranchen, die Zunahme atypischer Beschäftigungsformen in den meisten Sektoren und ein stabiler Niedriglohnsektor führen zu einem geringeren sozialen Schutz der Beschäftigten in diesen Produktionsbereichen. Zudem stehen die Lohnmoderation und die Ausweitung des Niedriglohnsektors einer konsumgetriebenen Wachstumsstrategie entgegen. Keynesianisch orientierte Wirtschaftswissenschaftler argumentieren zudem, dass eine ausgeglichene deutsche Handelsbilanz für die europäischen Handelspartner eine Möglichkeit wäre, ihre Handelsbilanzdefizite zu verringern.
 
27
Von 2008 auf 2009 wurde die Definition und Erfassung der Sektoren geändert, weshalb hier auf zwei unterschiedliche Tabellen mit unterschiedlichen Sektorenbezeichnungen verwiesen wird.
 
28
Dieses Abkommen stieß zunächst auf die Zustimmung aller Seiten: Erstens waren die ostdeutschen IG Metall-Organisationen oft von westdeutschen Repräsentanten geführt, die durch die Lohnangleichung Lohnunterbietungskonkurrenz für ihre westdeutschen Mitglieder durch ostdeutsche Kollegen verhindern wollten. Das lag im Interesse der westdeutschen Metallarbeitgeber, wurde durch die ostdeutsche Hochlohnstrategie doch preisgünstigere Konkurrenz aus dem Osten vermieden (French 2000: 205; Sinn/Sinn 1993; Ettl/Wiesenthal 1994). Zweitens sollte durch die Angleichung der Löhne die Abwanderung in den Westen vermieden werden. Und drittens konnten die durch hohe Löhne und mangelnde Produktivität verursachten Kosten der Arbeitslosigkeit leicht auf den Staat externalisiert werden (French 2000: 204).
 
29
Dabei beurteilen Betriebsräte tarifliche Öffnungen durchaus skeptisch, und die Frage ist, ob mit Tarifabweichungen der Flächentarifvertrag tatsächlich gestärkt wird, oder ob der Betriebsrat überlastet und die Gewerkschaftsposition dadurch weiter geschwächt, während die Position des Managements weiter gestärkt wird. Auch betriebliche Lohndrückerei würde die Beschäftigungssicherung nicht garantieren. Siehe hierzu Ergebnisse der Betriebsratsbefragungen in Bispinck/Schulten (2011: 10) und Bispinck/Schulten (2003: 163–164).
 
30
Zur Aufrechterhaltung des Tarifsystems während der Branchenkrise im Baugewerbe führten die Tarifparteien bereits Mitte der 1990er Jahre die Möglichkeit für Einschnitte in tarifliche Leistungen ein, was in ostdeutschen Betrieben ab 1997 mit einer oft angewandten Öffnungsklausel die Kürzung der Gehälter um 10 % ermöglichte. Ab 2002 sind in Westdeutschland Abweichungen vom Weihnachtsgeld möglich, 2004 stand Beschäftigungssicherung gegen Arbeitszeitflexibilisierung und das Einfrieren der Lohnkosten im Vordergrund der Verhandlungen (Bispinck 2004: 242).
 
31
Behrens (2011: 151) geht davon aus, dass im Jahr 2006 von 311 untersuchten Verbänden 34 % die OT-Mitgliedschaft anboten. Bis 2014 sind in der Metall- und Elektroindustrie inzwischen beinahe gleich viele OT- (Anzahl 3.349) wie tarifgebundene Betriebe (3.554) zu finden, wobei sich der Beschäftigtenanteil in OT-Betrieben mit 20 % innerhalb von zehn Jahren verdoppelte (Haipeter 2016: 77–78).
 
32
Die akademische Auseinandersetzung zwischen Autorinnen und Autoren, die die durchgehend liberalisierende Dynamik im deutschen Modell betonen (Baccaro/Benassi 2017; Baccaro/Howell 2011, 2017a; Benassi 2016; Benassi/Dorigatti 2015; Holst 2014; Höpner et al. 2011; Kinderman 2005, 2017), und denen, die die fortbestehenden koordinierenden Eigenschaften der deutschen Ökonomie sehen (Thelen 2000; Thelen/van Wijnbergen 2003; Thelen/Kume 2006; Palier/Thelen 2010; Hassel 2007, 2014), ist eine noch nicht entschiedene. Die Unentschiedenheit liegt in der Betrachtung verschiedener Sektoren, Institutionen und Policies, aber auch an der Tatsache, dass der Wandel inkrementell abläuft und es u. U. 2018 noch ‚too early to call‘ ist.
 
33
Anders als in den seit 1975 veröffentlichten Statistiken des BMAS, in dem die AVEs aufsummiert sind, ist hier nur die Zahl der jährlichen Anträge bzw. Entscheidungen ersichtlich. AVEs können mehrere Jahre in Kraft bleiben und daher zu einer größeren Gesamtzahl akkumuliert werden.
 
34
Für den großen Anteil und die großen Schwankungen der AVE im Groß- und Außenhandel erschließt sich keine plausible Erklärung.
 
35
Der Verweis auf Ursprungstarifverträge ist hier von Bedeutung, da in der Gesamtzahl der existierenden AVE-Tarifverträge etwa 50 % Änderungs- und Zusatztarifverträge und Protokollnotizen ausmachen und diese in der AVE-Statistik berücksichtig sind. Die Gesamtzahl setzt sich aus Ursprungstarifverträgen und Änderungs- bzw. Zusatztarifverträgen und Protokollnotizen zusammen. Ursprungstarifverträge sind aber die maßgeblichen für die Regulierung von Löhnen, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen (Kirsch 2003: 407).
 
36
Tarifexperten und Praktiker kritisieren jedoch, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die überwiegende Bedeutung noch immer über die mitgliedschaftliche Tarifbindung bestimmt, so dass das 50 %-Quorum faktisch bestehen bleibt (Nassibi 2016).
 
37
Ein Antrag auf AVE wurde nur in einem bekannten Fall von der Arbeitnehmerbank abgelehnt, als ein von einer Christlichen Gewerkschaft ausgehandelter Mindestlohntarifvertrag im Wachgewerbe allgemeinverbindlich werden sollte. Dessen Mindestentgelt lag jedoch unter den bereits bestehenden tariflichen Mindestlöhnen von ver.di-Tarifverträgen (Interview ver.di Grundsatzabteilung).
 
38
Wobei Die Linke einen stärkeren Fokus auf die gesetzliche Untergrenze und die Grünen auf die Öffnung des AEntG legte.
 
39
Mit dieser Gesetzesvorlage wurde auch das Mindestarbeitsbedingungengesetz (MiArbG) von 1952 reformiert, das die dauerhafte Einrichtung eines Hauptausschusses vorsah, der die Notwendigkeit von Mindestlöhnen in Branchen festzustellen hat und die Kontrolle potenzieller Mindestlöhne auf die Zollbehörden übertrug (BT-Drs. 16/11669 2009).
 
40
Die Koalitionäre vereinbarten, dass AVEs nach dem AEntG per Rechtsverordnung im Kabinett „einvernehmlich“ geregelt werden sollten (CDU, CSU, FDP 2009: 21), d. h. dass die Arbeitsministerin Anträge auf allgemeinverbindliche Mindestlöhne nach AEntG im Kabinett diskutiert.
 
41
„Bereits heute gibt es in Deutschland nach Tarifvertragsgesetz, Arbeitnehmer-Entsendegesetz und Mindestarbeitsbedingungengesetz die Möglichkeit, in einzelnen Branchen Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären oder eine Lohnuntergrenze festzulegen. Deshalb haben wir in dieser Legislaturperiode für weit über zwei Millionen Beschäftigte die von Tarifparteien ausgehandelten Tarifverträge neu für allgemeinverbindlich erklärt und damit eine Lohnuntergrenze in der jeweiligen Branche gesetzt.“ (FDP 2013: 30)
 
42
Zuvor wurde im Frühjahr in einem Gesetz bereits die Schlachter- und Fleischerbranche in das AEntG aufgenommen (BT-Drs. 18/910 2014).
 
43
Ein stärkerer Fokus auf die organisationspolitischen, strategischen Entscheidungen und Handlungskapazitäten der Verbände und Gewerkschaften findet sich in Günther (2020).
 
44
Da das Baugewerbe aus unterschiedlichen Gewerbezweigen besteht (z. B. Baubetriebe, Hochbaubetriebe, Stuckateure, Trockenbaubetriebe, Malerbetriebe, Lackierer) könnten all diese Gewerbe dieselbe Tätigkeit ausführen, so dass der Konkurrenzdruck steigt.
 
45
Das BAG bemängelnde, dass das 50 %-Quorum in den drei Fällen nicht erreicht und bei den Entscheidungen 2008 und 2010 nicht die damals zuständigen Arbeitsminister Scholz bzw. von der Leyen mit der AVE-Entscheidung, sondern nur die Referats- bzw. Abteilungsebene befasst waren. Da durch die AVE eine Normsetzung erfolgt, die nach dem Demokratieprinzip des Art. 20 GG eine Befassung durch den zuständigen Minister erfordere, erklärte das BAG beide AVEs auf Grund dieser Formfehler für unwirksam (Bundesarbeitsgericht 2016a, 2016b). Gegen den Beschluss des BAG vom 21.09.2016 erhoben die Sozialkasse und die IG BAU Verfassungsbeschwerde. Das Bundesverfassungsgericht lehnte sie mit Beschluss vom 10.01.2020 ab (1 BvR 4/17), da sich aus der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie kein Anspruch auf die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags ableiten ließe.
Mit Beschluss vom 25.01.2017 beschied das BAG die Allgemeinverbindlicherklärung des Verfahrenstarifvertrags über die Sozialkasse vom 03.05.2012 mangels Vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen als ebenfalls unwirksam (BAG 10 ABR 43/15). Die Urteile vom 21.03.2018 und 20.11.2018 des BAG stellten hingegen die Rechtswirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen mehrerer Tarifverträge im Baugewerbe von 2015 und 2016 fest (BAG 10 ABR 62/16; BAG 10 ABR 12/18).
 
46
DGB, IG BAU und die Arbeitgeber im ZDB sprachen sich für das Gesetz aus. Lediglich der ZVEH lehnte den Gesetzentwurf ab, da es gegen das Rückwirkungsverbot von Gesetzen verstoße (BT-Drs. 18/11001 2017). Die Haltung des ZVEH ist jedoch sehr ambivalent. Einerseits befürwortet er die AVE zur Sicherung seiner Mindestentgelte im Elektrohandwerk (zum ersten Mal 1997 eingeführt), und schätzt hierfür die Möglichkeit der Rückwirkung von allgemeinverbindlichen Mindestentgelten, um eine lückenlose Sicherung der Mindestentgelte zu garantieren. Andererseits strebte er vor dem Bundesverfassungsgericht eine Klage gegen die Abschaffung des 50 %-Quorums im Tarifautonomiestärkungsgesetz an, da dies gegen demokratische Grundsätze widerspräche (Interview ZVEH; Interview DGB).
 
47
Da Klagen wegen administrativer Verfahrensfehler AVEs gefährden können und die Tür für Außenseiterunternehmen zur Abstreifung der AVE öffnen, geht das BMAS in AVE-Verfahren bei der Anwendung der administrativen Kriterien vorsichtig vor. Nachdem mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz das 50 % Quorum zu Gunsten der Betonung der „überwiegenden Bedeutung“ eines Tarifvertrages aufgegeben wurde, beklagen AVE-Antragsteller, dass sie das öffentliche Interesse eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrags mit Mitgliedszahlen belegen müssen, das Quorum informell also weiterbesteht (Interview ZDB; Interview IG BAU, Nassibi 2016).
 
48
Der HDE 2009 nannte sich 2009 in Handelsverband Deutschland um. 2009 löste sich die BAG auf und die meisten ehemaligen Mitglieder traten dem HDE bei.
 
49
Bei der Gewerkschaftsfusion zu ver.di 2001 schlossen sich die Handelsgewerkschaften HBV und DAG, die keine DGB-Gewerkschaft war, als Einzelhandelsvertretung bei ver.di zusammen.
 
50
Das Geschäftsmodell von REWE und EDEKA sieht zwei Geschäftsformen vor, einerseits Konzernfilialen, für die weiterhin ein Tarifvertrag gilt, und von selbstständigen Kaufleuten geführte Filialen, die unter dem Namen des Mutterkonzerns formell geführt werden, in ihrer Personal- und Lohnpolitik aber eigenständig operieren und daher selbst über die Anwendung eines Tarifvertrags entscheiden.
 
51
Eine der Gründe hierfür liegt in versicherungs- und haftungstechnischen Überlegungen (Interview ver.di Besondere Dienstleistungen Bayern).
 
52
Die Streichung des 50 %-Quorums nach der Reform 2014 erleichtert AVEs aus Sicht von Tarifexperten und Praktikern nicht, da das Ministerium zur Feststellung der überwiegenden Bedeutung eines Tarifvertrags für eine Branche noch immer Mitgliedsstatistiken und Beschäftigtenzahlen verbandlich organisierter Unternehmen verlangt.
 
Metadata
Title
Die Allgemeinverbindlicherklärung in Deutschland
Author
Wolfgang Günther
Copyright Year
2021
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-33454-3_5