1 Einleitung
Die Gastronomie wurde als Sektor für kontaktintensive Dienstleistungen durch die Corona-Pandemie mit ihren gesetzlich verpflichtenden Lockdowns und den freiwilligen Verhaltensreaktionen massiv getroffen. Die Politik hat auf diese für viele Betriebe existenzielle Bedrohung umfangreich reagiert. Zu nennen sind hier die ausgeweiteten Kurzarbeiterhilfen und die finanzielle Direkthilfen über Zuschüsse und Kredite.
1 Außerdem wurde im Zuge der fiskalischen Krisenmaßnahmen in der Corona-Pandemie durch das Corona-Steuerhilfegesetz 2020 der anwendbare Umsatzsteuersatz für Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen mit Ausnahme der Abgabe von Getränken zum 1. Juli 2020 temporär auf den ermäßigten Umsatzsteuersatz von sieben Prozent abgesenkt.
2 Die damit verbundenen Steuerausfälle werden mit gut drei Milliarden Euro pro Jahr quantifiziert (Deutscher Bundestag
2023). Ursprünglich nur bis zur Jahresmitte 2021 befristet, wurde diese Krisenmaßnahme zweimal verlängert und ist zum Jahresende 2023 ausgelaufen. Seit Januar 2024 wird Essen in der Gastronomie nach dem aktuellen Rechtsstand somit nun wieder zum Regelsatz besteuert.
Der Rückkehr zur Normalbesteuerung war eine intensive öffentliche Debatte vorausgegangen. Branchenverbände, aber auch viele Politiker und Politikerinnen in der Regierung und Opposition haben sich dabei nicht nur für eine Verlängerung der Steuersenkung, sondern für eine Entfristung ausgesprochen und dabei verschiedenartige Argumente in die Diskussion eingebracht, die über unmittelbar krisenbezogene Aspekte hinausgehen (Dehoga
2023).
Im Beitrag werden die Argumente beleuchtet, die in der Debatte zugunsten einer verlängerten oder gar dauerhaften Steuerermäßigung für die Gastronomie vorgebracht worden sind. Die Motivation für diesen vertieften Blick auf diese Subvention
3 geht über den spezifischen Beispielfall hinaus. Ganz allgemein ist das Umsatzsteuersystem in Deutschland und in anderen EU-Staaten durch eine umfangreiche Anwendung des ermäßigten Steuersatzes gekennzeichnet, die immer wieder aus ökonomischer Perspektive als verteilungspolitisch wenig zielgenau, ineffizient und bürokratisch kritisiert worden ist. Beispielsweise hat der Sachverständigenrat (
2010) empfohlen, die Anwendung des ermäßigten Satzes weitgehend zu beseitigen und dafür den Normalsatz aufkommensneutral abzusenken. Entsprechend der damaligen Berechnungen bestünde dann ein Spielraum für eine Absenkung des Normalsatzes von 19 % auf 16,5 % (Sachverständigenrat
2010). Die Debatte um den exemplarischen Fall der Gastronomie liefert Erkenntnisse zur Art und zum Gehalt der Argumente, die zur Unterstützung einer (aus übergeordneter Sicht kritisch zu betrachtenden) weiteren Ausweitung der ermäßigten Besteuerung angeführt werden.
Auch in politökonomischer Hinsicht ist die Debatte um diese spezifische Steuervergünstigung aufschlussreich. Der Druck in Richtung einer Ausweitung der Anwendung des Normalsatzes kennzeichnet die Umsatzsteuer international. De La Feria und Walpole (
2020) zeigen, dass in Abwesenheit externer Handlungszwänge im Zeitablauf die Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes kontinuierlich ausgeweitet wird. Diese sich verringernde Steuerdurchsetzung geht mit Steueraufkommensverlusten und Verzerrungen von Relativpreisen einher. Außerdem wachsen die Kosten der Steuererhebung und -befolgung, weil sich die Abgrenzungs- und Interpretationsprobleme und der Verwaltungsaufwand mit jeder Ermäßigung vermehren. Die Fallstudie der Gastronomie-Mehrwertsteuer ist somit nicht untypisch – auch im Hinblick auf die maßgebliche Rolle externer Handlungszwänge für eine Abwehr der Interessengruppen. Erst das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Nachtragshaushalt 2021 des Bundes (BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 15. November 2023 – 2 BvF 1/22 –, Rn. 1–231) und der damit verbundene Konsolidierungsdruck brachten die vorläufige Klärung und die Entscheidung der Ampel-Koalition, die Steuerermäßigung für die Gastronomie nicht erneut zu verlängern. Aber auch danach bleibt die Thematik angesichts weiterhin großer politischer Unterstützung auf der Tagesordnung.
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Der Beitrag gliedert sich wie folgt: Im zweiten Kapitel werden die grundlegenden steuersystematischen Hintergründe der deutschen Umsatzsteuer dargelegt, bevor im dritten Kapitel ökonomische und politökonomische Erkenntnisse zur Wirkungsweise und Wahrnehmung der Umsatzsteuer zusammengefasst werden, die für die Analyse der vorgebrachten Argument hilfreich sind. Im vierten Kapitel werden die in der aktuellen Diskussion vorgebrachten Argumente für eine Entfristung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes in der Gastronomie umfassend bewertet. Der Beitrag schließt mit abschließenden Überlegungen zu dieser steuerpolitischen Thematik in künftigen Debatten.
2 Steuersystematischen Hintergrund
2.1 Rechtlicher Rahmen für ermäßigte Umsatzsteuersätze in Deutschland
Die aktuell geltende Umsatzsteuer wurde in Deutschland im Jahr 1967 als Ersatz für die bisherige Allphasen-Bruttoumsatzsteuer eingeführt. Durch den eingeführten Vorsteuerabzug sollten Kumulationseffekte abgebaut werden und eine einmalige wirtschaftliche Belastung auf Ebene des Endverbrauchers (d. h. eine Belastung der Kaufkraft des Konsumenten) sichergestellt werden. Die Umsatzsteuer stellt für Unternehmen, die die Umsatzsteuer für den Kunden erheben und ans Finanzamt abführen, formal einen durchlaufenden Posten dar.
In der Ausgestaltung der Umsatzsteuer unterliegt Deutschland europäischen Vorgaben. Seit der Umsetzung der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie der Europäischen Kommission im Jahr 1980 mit einer einheitlichen Bemessungsgrundlage ist die Umsatzsteuergesetzgebung in der EU weitgehend harmonisiert. In Bezug auf die anwendbaren Steuersätze haben die Länder allerdings einen gewissen Spielraum, dürfen jedoch bestimmte Mindeststeuersätze für den Regelsteuersatz und die ermäßigten Steuersätze nicht unterschreiten (Art. 97, Art. 99 (1) MwStSystRL). Deutschland befindet sich mit einem Regelsatz von 19 % zwar vier Prozentpunkte über dem Mindeststeuersatz von 15 %, aber gleichzeitig im unteren Spektrum der von den Mitgliedstaaten genutzten Steuersätze.
Die Zielsetzung der deutschen Umsatzsteuer und deren Konzeption sahen bei der Einführung steuersystematisch eigentlich keine Begünstigungen bestimmter Sektoren vor. Kommt es dennoch zur Einführung von Begünstigungen in Form eines ermäßigten Umsatzsteuersatzes, ergeben sich unter anderem durch verfassungsgerichtliche Vorgaben sowie EU-Recht Einschränkungen. Systemgerecht sind gemäß des deutschen Bundesverfassungsgerichts demnach nur Vergünstigungen im Interesse der Verbraucher, nicht im Interesse einzelner Unternehmensgruppen (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. November 1999 – 2 BvR 1820/92 –, Rn. 1–18). Erfolgt dennoch die Einführung eines ermäßigten Umsatzsteuersatzes, der nach Umsatzart oder Unternehmen unterscheidet, muss diese Ermäßigung durch besondere sachliche Gründe gerechtfertigt werden (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 29. Oktober 1999 – 2 BvR 1264/90 –, Rn. 1–30). Im Jahr 2019 hat die Bundesregierung zudem eingeräumt, dass ermäßigte Umsatzsteuersätze nicht ausschließlich im Interesse des privaten Konsumenten, sondern auch zur Förderung des Leistungserbringers (d. h. Unternehmern) und der Privilegierung bestimmter förderungswürdiger Umsätze gerechtfertigt sein könnten (Deutscher Bundestag
2019a).
Zur Vermeidung von binnenmarktrelevanten Wettbewerbsverzerrungen dürfen EU-Mitgliedstaaten grundsätzlich nur auf Umsätze von Gegenständen und Dienstleistungen, die in Anhang III der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (MwStSystRL) ausdrücklich aufgeführt sind, ermäßigte Umsatzsteuersätze anwenden (Art. 98, 99 MwStSystRL). Die Richtlinienbestimmungen haben dabei fakultativen Charakter, d. h. die Mitgliedstaaten sind nicht verpflichtet einen ermäßigten Steuersatz anzuwenden oder alle aufgeführten Gegenstände und Dienstleistungen diesem ermäßigten Steuersatz zu unterwerfen (Rondorf
2020).
Deutschland nutzt bereits seit der Einführung der Mehrwertsteuer in 1967 einen ermäßigten Umsatzsteuersatz für ausgewählte Waren und Dienstleistungen, vor allem solche zur Deckung von Grundbedürfnissen und zur Teilhabe im Sozial- und Kulturbereich. Dieser liegt seit 1983 konstant bei sieben Prozent. Neben dem ermäßigten Steuersatz auf Lebensmittel im Einkauf, d. h. auf die reine Lieferung von Lebensmitteln oder verzehrfertigen Speisen, nutzt Deutschland seinen unionsrechtlichen Spielraum, in dem es den ermäßigten Satz auch im Gastronomiebereich für Außer-Haus-Bestellungen anwendet. Insbesondere die Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes für Lebensmittel kann sich auf das Argument bedeutender Verteilungswirkungen stützen, da diese im Warenkorb ärmerer Haushalte einen relativ hohen Anteil aufweisen (siehe hierzu u. a. Gaarder
2019). Allerdings hat sich Deutschland bisher in der Ausübung des europäischen Wahlrechts eher zurückhaltend gezeigt.
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Seit dem 1. Juni 2009 könnte Deutschland gemäß EU-Recht auch auf Gastronomieumsätze (inklusive Getränke) einen ermäßigten Steuersatz erheben (Richtlinie 2009/47/EG zur Änderung der MwStSystRL in Bezug auf ermäßigte Steuersätze, ABl EU 2009 Nr. L 116). Im Gegensatz zum Lebensmitteleinkauf und bei Außer-Haus-Bestellungen kommt es bei Restaurationsleistungen jedoch zu einer vermehrten Dienstleistung, da nicht mehr nur der Konsum der Speisen im Vordergrund steht, sondern auch andere Faktoren wie die Atmosphäre des bereitgestellten Raumes, der Service und das soziale Miteinander (Rondorf
2022). Somit lässt sich die Inanspruchnahme von Restaurationsdienstleistungen nicht mit der Deckung des Grundbedarfs der Bürgerinnen und Bürger begründen (Deutscher Bundestag
2019b).
Im Zuge der fiskalischen Krisenmaßnahmen in der Corona-Pandemie wurde durch das Corona-Steuerhilfegesetz 2020 der anwendbare Umsatzsteuersatz für Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen mit Ausnahme der Abgabe von Getränken zum 1. Juli 2020 temporär auf den ermäßigten Umsatzsteuersatz von sieben Prozent abgesenkt (Corona-Steuerhilfegesetz 2020).
6 Ursprünglich nur bis zur Jahresmitte 2021 befristet, wurde diese Krisenmaßnahme im Frühjahr 2021 und 2022 durch das dritte Corona-Steuerhilfegesetz sowie das achte Gesetz zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzten noch einmal bis Ende 2023 verlängert und ist zum 31. Dezember 2023 ausgelaufen, so dass seit dem 1. Januar 2024 Speisen zum direkten Verzehr in der Gastronomie nach dem aktuellen Rechtsstand wieder regulär zum Regelsatz besteuert werden.
2.2 Einordnung des temporär ermäßigten Umsatzsteuersatzes auf Gastronomieumsätze als Subvention
Gemäß der Definition des Subventionsberichts des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) ist eine Subvention definiert „als mittelbare oder unmittelbare Leistung beziehungsweise Begünstigung privater Unternehmen und Wirtschaftssektoren im Verhältnis zu anderen Sektoren. Subventionen umfassen hierbei Finanzhilfen sowie Steuervergünstigungen. Eine steuerliche Sonderregelung wird dann als Subvention und somit als Steuervergünstigung im Sinne des Subventionsberichts eingestuft, wenn es sich um mittel- oder unmittelbar wirkende Begünstigungen einzelner Sektoren oder Teilbereiche der Wirtschaft handelt“ (Bundesministerium der Finanzen und BMF
2021). Es muss sich daher um steuerliche Ausnahmeregelungen handeln, die sektoral differenzieren und für die öffentliche Hand zu Steuermindereinnahmen führen.
Im Kontext der Umsatzsteuer ist der ermäßigte Umsatzsteuersatz als eine steuerliche Ausnahmeregelung von der Anwendung des Regelsteuersatzes von 19 % zu verstehen. Bereits die Begründungen für die Einführung im Gesetzgebungsprozess zeigen,
7 dass die primäre Intention des Gesetzgebers nicht die finale Entlastung des Endkonsumenten sondern die Unterstützung einer spezifischen Branche war (Gehm
2023). Im Gegensatz zur ermäßigten Besteuerung der Lebensmittel, bei der auf die finale Entlastung des Endkonsumenten abgezielt wird,
8 wird der ermäßigte Steuersatz auf Speisen für den sofortigen Verzehr in der Gastronomie von der Bundesregierung daher explizit als Subvention behandelt. Als solche ist auch der Gesetzgeber verpflichtet, diese entsprechend der subventionspolitischen Leitlinien der Bundesregierung regelmäßig und systematisch zu überprüfen.
Die Kosten dieser Steuersubvention belaufen sich derzeit nach Berechnungen der Bundesregierung auf gut drei Milliarden Euro pro Jahr und stellt damit betragsmäßig die drittgrößte Steuersubvention des Jahres 2023 dar (Bundesministerium der Finanzen und BMF
2023). Für das Jahr 2024 ist mit 3,3 Mrd. € zu rechnen (Deutscher Bundestag
2023). Im Unterschied zu einer in Absolutbeträgen festgelegten Finanzhilfe wäre bei Entfristung der Steuersubvention im Gleichklang mit dem weiteren nominalen Wachstum der Umsätze mit einem Anstieg der jährlichen Kosten zu rechnen.
Nicht nur aufgrund der wachsenden Steuermindereinnahmen der Steuervergünstigung, sondern auch durch die fehlende gesetzliche Verpflichtung zur Weitergabe der Umsatzsteuersatzsenkung an den Endkonsumenten (falls dies zur Rechtfertigung der Steuervergünstigung angeführt wird), sollte daher immer geprüft werden, ob anstelle einer Subvention nicht eine direkte Förderung und Transfers der bessere Weg wären (Bundesrechnungshof
2022). Zudem ist zu beachten, dass mit einer weiteren Ausweitung der Anwendung des ermäßigten Steuersatzes Aufkommensverluste durch eine Erhöhung der Umsatzsteuersätze (oder anderer Steuersätze) gegenfinanziert werden müssten. Aus all diesen Gründen gelten für Ausnahmen vom Regelsatz hohe Anforderungen an deren Begründungspflicht.
3 Finanzwissenschaftliche und politökonomische Aspekte
3.1 Inzidenzwirkung einer Umsatzsteuer
Wie bereits zuvor ausgeführt, erheben Einzelhandel, Handwerk und Dienstleister die Umsatzsteuer vom Kunden, um sie ans Finanzamt abzuführen. Über die tatsächliche ökonomische Lastenteilung („Inzidenz“) dieser Steuer entscheiden jedoch nicht die formalen Zahllasten, weil die Höhe der Steuer auch das Marktgleichgewicht und damit die Preise beeinflusst. Inwieweit die Anbieter oder die Nachfrager die Belastung final tragen, hängt davon ab, wie sensibel Konsumenten auf höhere Preise reagieren und inwieweit die Anbieter angesichts ihrer Kostensituation, Gewinnmargen und der Wettbewerbssituation die Steuer voll oder nur eingeschränkt in den Bruttopreisen weitergeben können.
Damit ermäßigte Umsatzsteuersätze die in den Rechtfertigungen häufig angestrebten verteilungspolitischen und sozialen Ziele erreichen können, müsste die Senkung des Steuersatzes in Form von Preissenkungen an die Verbraucher weitergegeben werden. Empirische Studien zeigen allerdings heterogene Effekte in der Weitergabe der Steuer in Bezug auf die jeweilige Umsatzsteuerreform, Unternehmens- und Produkteigenschaften.
9 So werden Änderungen im Regelsteuersatz nahezu komplett an den Konsumenten weitergegeben, wohingegen die Weitergabe bei Änderungen in ermäßigten Steuersätzen deutlich geringer ausfällt und beim Wechsel vom Regelsteuersatz zum begünstigten Steuersatz nahezu gar nicht erfolgt (Benedek et al.
2020). Im Gegensatz zu dem, was die Steuerinzidenztheorie besagt, zeigen Benzarti et al. (
2020), dass Preise doppelt so stark auf Erhöhungen als auf Senkungen reagieren. Diese asymmetrische Reaktion zeigt sich vor allem bei Unternehmen mit niedriger Gewinnspanne. Basierend auf ihrer Untersuchung schlussfolgern die Autoren, dass befristete Umsatzsteuersenkungen zur Entlastung der Konsumenten paradoxerweise das Gegenteil des beabsichtigten Effekts bewirken können: Langfristig können sie zu höheren Gleichgewichtspreisen führen, sobald die Umsatzsteuersenkung aufgehoben wird. Des Weiteren zeigen Studien, dass Einzelhändler – und nicht Verbraucher, Arbeitnehmer oder Lieferanten – die Hauptnutznießer von Umsatzsteuersenkungen sind (Benzarti und Carloni
2019; Tax Policy Associates
2022,
2023).
Auf Basis der bestehenden empirischen Evidenz spricht daher sehr wenig für die Einführung reduzierter Mehrwertsteuersätze zur Erreichung von verteilungspolitischen Zielen (vgl. auch Bettendorf und Cnossen
2015, für die Niederlande). Die Ausweitung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes ist auch insofern problematisch, als dass die daraus resultierenden Aufkommensverluste Spielräume für öffentliche Ausgaben einschränken, von denen insbesondere ärmere Haushalte profitieren könnten, da diese Haushalte naturgemäß am meisten von den öffentlichen Ausgaben profitieren – sei es in Form von Sozialleistungen oder anderen Leistungen wie Bildungs- oder Gesundheitsdiensten (De La Feria und Walpole
2020).
3.2 Verzerrungswirkung einer Umsatzsteuer
Wie jede Steuer ist auch die Umsatzsteuer mit Verzerrungen verbunden, weil sie in der Tendenz die Transaktionen im Markt reduziert (oder in die Schattenwirtschaft verdrängt) und die Akteure daran hindert, ein wohlfahrtsoptimales Niveau des Austausches zu realisieren. Viele der jetzt in der Diskussion vorgebrachten Argumente, unter anderen das der Belastung einer Branche in schwieriger Markt- und Kostensituation bis hin zum Problem, dass die Steuerbelastung für manche Unternehmen sogar die Geschäftstätigkeit gefährden könnte, gelten ganz allgemein für jede Art der Besteuerung und sind nicht spezifisch für die Mehrwertbesteuerung der Gastronomie.
Die Umsatzsteuer fungiert primär als Instrument zur Einnahmeerzielung, zusätzlich zur Ertragsbesteuerung (Bettendorf und Cnossen
2015). Ramsey (
1927) empfiehlt bei einer alleinigen Güterbesteuerung eine Ausgestaltung, die umgekehrt proportional zur Elastizität der Nachfrage des repräsentativen Verbrauchers gestaltet ist. Somit wären Güter mit unelastischer Nachfrage höher zu besteuern. Eine solche Differenzierung von Mehrwertsteuersätzen wird in der Forschung heute jedoch aus verschiedenen allokativen, distributiven und steuerpraktischen Gründen nicht vertreten (Krause-Junk et al.
2010; Sachverständigenrat
2010). Erstens fehlen dem Staat in der Praxis die Informationen über alle Elastizitäten. Zweitens wäre die Umsetzung derart nach der Ramsey-Regel differenzierender Steuersätze mit einem erheblichen steueradministrativen Aufwand verbunden. Dazu zählen Auslegungs- und Qualifikationsprobleme, Möglichkeiten zur Steuerplanung und -umgehung sowie höhere Befolgungs- und Verwaltungskosten (Cnossen
2022; De La Feria und Walpole
2020). Drittens wäre die Ramsey-Regel verteilungspolitisch problematisch, da bei ihrer Anwendung möglicherweise z. B. Grundnahrungsmittel besonders hoch besteuert würden. Viertens bestehen theoretische Einwände gegen unterschiedliche Steuersätze: So zeigen Diamond und Mirrlees (
1971) sowie Atkinson und Stiglitz (
1976), dass unter bestimmten Annahmen eine nicht-lineare Einkommensteuer in Verbindung mit einer uniformen Güterbesteuerung optimal sein kann. Das Argument für eine einheitliche Güterbesteuerung besagt hier, dass negative Anreizeffekte minimiert werden können, wenn Konsumentscheidungen unverzerrt bleiben (Mankiw et al.
2009). Aus dieser Sichtweise ergibt sich für ein effizientes Design einer Umsatzsteuer und zur Sicherstellung der Neutralität, dass sie nicht ohne überzeugende Gründe zwischen verschiedenen Gütern und Dienstleistungen diskriminieren und soweit wie möglich mit einem einheitlichen Satz operieren sollte.
Differenzierte Mehrwertsteuersätze sollten daher nur dann verwendet werden, wenn mit ihnen ein überzeugend begründbare Förderzielsetzung verbunden wäre und der Regierung für diese Ziele keine zielgenaueren und kostengünstigere Instrumente zur Verfügung stehen (Ebrill et al.
2001). Insgesamt sprechen somit gerade auch allokative Erwägungen eher für ein Zurückdrängen von Steuersatzdifferenzierungen als für neue Tatbestände. Eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und eine Vereinheitlichung der Steuersätze, die durch eine Senkung des Normalsatzes aufkommensneutral ausgestaltet wird, kann zudem das Wirtschaftswachstum fördern (Acosta Ormaechea und Morozumi
2021).
3.3 Der Einfluss der öffentlichen Wahrnehmung von Konsumsteuern
Ungeachtet der (empirischen) Erkenntnisse, dass die Anwendung mehrerer Mehrwertsteuersätze mit erheblichen rechtlichen Schwierigkeiten verbunden ist, zu wirtschaftlichen Verzerrungen führt und es bestenfalls unklar ist, ob sie tatsächlich die angestrebten sozialen und verteilungspolitischen Auswirkungen hat, ist die Anwendung mehrerer Steuersätze weltweit immer noch weit verbreitet. De la Feria und De La Feria und Walpole (
2020) ziehen vor diesem Hintergrund die Gesetzgebungsgeschichte der Umsatzsteuer in der EU und Australiens heran, um auf Basis von Erkenntnissen aus der politischen Ökonomie, Politikwissenschaft, Verhaltenswissenschaft und Regulierungstheorie Schlussfolgerungen zu den Hindernissen evidenzbasierter Umsatzsteuerreformen zu ziehen.
Sie zeigen, dass bestehende Informationsasymmetrien von speziellen Interessengruppen instrumentalisiert werden, um sich Reformen zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage zu widersetzen. Insbesondere wird hierzu ein Fairness-zentriertes Narrativ (u. a. Schutz der Ärmsten, Schaffung von Arbeitsplätzen, Zugang zu Kultur) vermittelt, um den Anschein von mangelndem Eigeninteresse zu erwecken. Dieses Narrativ fällt oft auf fruchtbaren Boden und Fehlwahrnehmungen werden durch die nicht-intuitive Natur der Umsatzsteuer verstärkt: Eine gerechtigkeitsorientierte Argumentation, die auf vermeintlich günstige Umverteilungseffekte ermäßigter Steuersätze auf wesentliche Produkte verweist, klingt intuitiv plausibel; die Erklärung, dass diese Zugeständnisse in Wirklichkeit negative Verteilungseffekte haben können, hingegen nicht.
Des Weiteren heben die Autoren das Risiko einer sich beschleunigenden Verringerung der Steuerbemessungsgrundlage in der Umsatzsteuer hervor, da mit jeder Ausnahme das Argument der relativen Fairness leichter verfängt. Wenn für andere Produkte oder Dienstleistungen bereits ermäßigte Steuersätze oder Steuerbefreiungen gelten, ist es naheliegend, dass Debatten über den relativen Wert von Gegenständen entstehen, für die noch keine ähnlichen Zugeständnisse gelten.
Im Hinblick auf die Hinwendung zu einer rationalen Umsatzsteuerpolitik zeigen die Autoren auf, dass die Komplexität des Widerstands gegen allgemeine Verbrauchssteuern auf breiter Basis verstanden werden muss. Dabei sind Information und Aufklärung zwar entscheidende Elemente, aber auch die Art und Weise, in der diese Informationen vermittelt werden. Die Korrektur irreführender Fairness-Narrative einschließlich ihrer emotionalen und intuitiven Dimensionen erachten die Autoren als wirksamer als eine Darstellung, die in erster Linie auf Effizienzgewinne ausgerichtet ist.
Nach diesen Vorüberlegungen werden im nächsten Schritt systematisch die in der Debatte zugunsten einer Entfristung vorgebrachten Argumente durchleuchtet und auf ihren Gehalt überprüft.
4 Analyse der vorgebrachten Argumente zur Entfristung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes in der Gastronomie
4.1 Krisenkontext
4.1.1 COVID-19 und Energiekrise
Die Corona-Pandemie ist überwunden und Kontaktbeschränkungen spielen heute keine Rolle mehr für das gesellschaftliche Leben und Wirtschaften. Dennoch hat die Pandemie auf vielen Gebieten zu Verhaltensänderungen und strukturellen Umbrüchen geführt. Dies betrifft etwa das dauerhaft vermehrte Arbeiten im Home Office und die gewachsene Bedeutung von digitalen Meetings, wodurch Geschäftsreisen eingespart werden (Ifo
2023). Damit können permanente Einbußen für die Gastronomie in bestimmten Segmenten (z. B. Geschäftsreisen und Mittagstische) verbunden sein. Hier ist subventionspolitisch jedoch genau zwischen den Folgen einer akuten pandemiebedingten Krise und den Konsequenzen eines dauerhaften Strukturwandels zu unterscheiden.
In der Corona-Pandemie wurde die temporäre Umsatzsenkung de facto als Instrument der raschen Liquiditätshilfe für die Gastronomie in ihrer akuten Krisensituation eingesetzt. Allerdings war dieses konkrete Instrument bereits im Krisenkontext nicht unumstritten (Deutscher Bundestag
2020b, Feld et al.
2020, Spengel
2020). Kritisiert wurde unter anderem, dass diese selektiv auf die Gastronomie ausgerichtete Maßnahme andere ebenfalls von Kontaktbeschränkungen betroffene Dienstleister vernachlässigt und ihr die Zielgenauigkeit im Hinblick auf die Pandemiebetroffenheit fehle.
Unabhängig von der Frage der richtigen Instrumentenwahl gab es gleichwohl in der Phase der Lockdowns im Grundsatz nachvollziehbare Gründe zugunsten von staatlichen Hilfen für die Gastronomie und andere kontaktintensive Dienstleister. So sollte die Zerstörung lebensfähiger Geschäftsmodelle und Arbeitsverhältnisse verhindert werden, die nach einer vorübergehenden Phase der Kontaktbeschränkungen wieder prosperieren können. Hingegen ist es kaum überzeugend, dauerhafte Verhaltensänderungen, die auf neue Technologien und Lerneffekte zurückgeführt werden können, durch fiskalische Maßnahmen wieder korrigieren zu wollen.
Die Branche argumentiert, dass das Gastronomiegewerbe auch 2022 noch nicht das Vorkrisenniveau wieder erreicht hat und die Zahl der steuerpflichtigen Unternehmen im Sektor deutlich rückläufig ist (Dehoga
2023). Das Schrumpfen einer Branche ist jedoch kein stichhaltiges Argument für staatliche Hilfen, wenn dieses die Folge des allgemeinen Strukturwandels etwa aufgrund sich ändernder Verbrauchgewohnheiten ist. Auch verläuft die Entwicklung in der Gastronomie differenziert. Aktuelle Analysen legen nahe, dass sich dieser Sektor zumindest in den Metropolen wieder erholt hat und die Umsätze hier teilweise preisbereinigt bereits wieder über dem Vor-Corona-Niveau liegen; auch gelang es der Gastronomie, Preiserhöhungen durchzusetzen, die höher ausgefallen sind als in der Gesamtwirtschaft (Krause et al.
2023). Insgesamt ist es zu Verschiebungen gekommen. Aufgrund der gewachsenen Bedeutung des Home Offices haben sich Umsätze an Wochentagen oftmals aus den Innenstädten in die Vororte verlagert. Somit gibt es in der Branche Gewinner und Verlierer.
Strukturelle Veränderungen sind Kennzeichen einer sich wandelnden Wirtschaft und rechtfertigen keine Steuersubvention. Die Politik sollte den Strukturwandel durch gute Rahmenbedingungen, wie beispielsweise einer effektiven Arbeitsmarktpolitik begleiten. Mit dem Wegfall der Pandemie-Beeinträchtigungen ist die (nicht unumstrittene) krisenbezogene Begründung für die Steuersubvention der ermäßigten Umsatzsteuer für die Gastronomie zweifelsfrei entfallen. Insofern müssen die andersgearteten Argumente näher in den Blick genommen werden.
4.1.2 Inflationsfolgen
Für die Beibehaltung des ermäßigten Steuersatzes wurde des Weiteren angeführt, dass die Rückkehr zum Regelsatz zu Preiserhöhungen in der Gastronomie führen und damit die Inflation weiter anheizen würde. Die Branche sprach sogar von einem möglichen „Preisschock“ (Dehoga
2023). Auch dieses Argument ist mit Vorsicht zu betrachten.
Erstens ist unsicher, wie stark der Inflationseffekt der Rückkehr zum Regelsatz sein wird. Auch für die Gastronomie haben sich wichtige Input-Preise wie die für Strom und Gas wieder ermäßigt. Auch sind die starken Preiserhöhungen in Betracht zu ziehen, welche die Branche seit 2020 trotz der gleichzeitig erfolgten temporären Umsatzsteuersenkung durchgesetzt hat (Krause et al.
2023). Hier dürfte somit zumindest für einen Teil der Branche ein gewisser Spielraum in den Margen entstanden sein. Dieser Spielraum sollte somit einen Teil des mit dem Ende der Steuersubvention verbundenen Preisdrucks auffangen können. Auch dürften die erfolgten starken Preiserhöhungen von vorausschauenden Gastronomen vielfach bereits mit der Erwartung der Rückkehr zum normalen Umsatzsatz kalkuliert worden sein. Auch deshalb war die Erwartung eines Preisschocks mit voller Weitergabe der zum 1. Januar 2024 wieder normalisierten Umsatzsteuer nicht plausibel.
Zweitens muss das Argument im Zusammenhang einer auch gesamtwirtschaftlich sinnvollen Strategie der Inflationsbekämpfung betrachtet werden. Aus dieser umfassenden Perspektive ist der Versuch steigende Preise durch Subventionen zu bekämpfen, kein aussichtsreicher Weg zur nachhaltigen Verringerung des Inflationsdrucks. Übersehen werden dabei makroökonomische Zusammenhänge: Die Subventionierung von Gastronomiedienstleistungen wirkt als Stütze privater Konsumausgaben. Diese Nachfragestimulierung wirkt inflationär und ist genau das Gegenteil dessen, was ratsam ist. Während die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank durch hohe Zinsen versucht, die Nachfrage und damit den Inflationsdruck zu dämpfen, sollte die Fiskalpolitik nicht das Gegenteil tun und die Konsumnachfrage stimulieren. Zudem vergrößern die mit dieser Steuersubvention verbundenen Steuerausfälle das gesamtstaatliche Defizit in einer Zeit, in der die Fiskalpolitik zur Inflationsbekämpfung eigentlich ihr Defizit zurückfahren müsste.
Insgesamt kann somit das Inflationsargument keine Rechtfertigung für eine Beibehaltung der Steuersubvention für Restaurantdienstleistungen oder gar eine Entfristung bieten. Ganz im Gegenteil wäre die Aufrechterhaltung von kostspieligen Krisenmaßnahmen trotz Ende der Pandemie letztlich kontraproduktiv für das Ziel einer dauerhaften Preisstabilität.
4.2 Wirtschaftliche Aspekte
4.2.1 Wirtschaftliche Planbarkeit
Für eine Fortsetzung der Steuersubvention wurde 2023 das Argument angeführt, dass die Unternehmen der Branche Planbarkeit zur Erstellung von Angeboten für das folgende Jahr benötigen. So argumentierte der Gesetzesentwurf der Union: „Die Gastronomie benötigt möglichst frühzeitig Planungssicherheit für die Situation ab 2024, nicht zuletzt aufgrund von Familien- und Betriebsfeiern, die oft viele Monate im Voraus gebucht und entsprechend kalkuliert werden müssen. Kurzfristige Verlängerungen wie kurz vor dem Jahresende 2022 erschweren diese Planung erheblich. Ebenso erwarten Kreditinstitute bei Kreditverlängerungen eine Aussage über Umsatz- und Gewinnerwartungen für die nächsten Jahre“ (Deutscher Bundestag
2023).
Aber auch nach der 2023 geltenden gesetzlichen Lage war die Besteuerungsperspektive hinreichend geklärt, da die Ermäßigung lediglich bis zum Jahresende 2023 befristet war. Diese zeitliche Befristung bei der Absenkung des Umsatzsteuersatzes (im Gegensatz zu anderen Subventionen) wurde insbesondere durch den Bundesrechnungshof positiv hervorgehoben (Bundesrechnungshof
2022). Unternehmen, die im vorherigen Jahr für 2024 Angebote erstellt haben, wussten somit, dass für dieses Jahr der Regelsatz der Umsatzsteuer gelten würde. Auch ist es für etwaige Unsicherheiten ein leichtes und entspricht der geschäftlichen Praxis, das Angebot mit einer Formulierung wie „zuzüglich der jeweils aktuellen Umsatzsteuer“ zu versehen.
4.2.2 Arbeitskräftemangel
Befürworter einer Entfristung des ermäßigten Umsatzsatzes für die Gastronomie argumentieren, dass eine solche Hilfe angesichts des Arbeitskräftemangels in dieser Branche nötig sei. In ihrer Petition argumentiert der Branchenverband, dass die ermäßigte Umsatzsteuer eine Zahlung von „fairen Löhnen“ ermögliche.
Auch dieses Argument hält einer näheren Betrachtung nicht stand. So ist ungewiss, ob eine niedrigere Mehrwertsteuer wirklich dem Personal über höhere Löhne, den Besuchern über niedrigere Preise oder aber den Eigentümern über eine höhere Gewinnmarge zugutekommt. Bestehende empirische Evidenz für eine Umsatzsteuersenkung in Frankreich von 19,6 % auf 5,5 % für den Verzehr in Gaststätten zeigt, dass die Besitzer von Speiselokalen die Hauptnutznießer der Steuersenkung waren, während Arbeitnehmer, Verbraucher und Lieferanten von Sachgütern in weitaus geringerem Maße davon profitierten (Benzarti und Carloni
2019). Ein ermäßigter Umsatzsteuersatz ist daher kein zielgenaues Instrument, das zuverlässig in Richtung höherer Löhne wirkt.
Außerdem ist die deutsche Wirtschaft in der Breite, in allen Sektoren und den meisten Qualifikationsstufen mit einem wachsenden Arbeitskräftemangel konfrontiert (Statista
2023). Die Subventionierung ausgewählter Branchen ist für dieses umfassende Problem kein aussichtsreicher Lösungsweg. Auch ist kaum nachvollziehbar, warum etwa der Arbeitskräftemangel in der Gastronomie für die deutsche Wirtschaft ein schwerwiegenderes Problem darstellen sollte als der im Handwerk, im Einzelhandel oder bei anderen Dienstleistern. Arbeitskräftemangel muss durch Maßnahmen wie Bildungspolitik, eine zielgenaue Migrationspolitik und verbesserte Arbeitsanreize im Steuer- und Transfersystem umfassend für alle Sektoren adressiert werden. Eine sektorale Subvention würde das Problem nur zwischen den Sektoren verlagern.
Übersehen wird in den Branchenargumenten zudem, dass in der Gesamtbetrachtung öffentlicher Haushalte eine kostspielige Steuersubvention für einen Sektor durch höhere Steuern an anderer Stelle gegenfinanziert werden muss. Letztlich würde die ermäßigte Umsatzsteuer in der Gastronomie also etwa durch höhere Abgaben an anderer Stelle erkauft. Hohe Abgaben und damit verbundene Grenzbelastungen in der Einkommensteuer sind aber in Deutschland besonders ausgeprägt und einer der Gründe für zu geringe Arbeitsanreize und den Arbeitskräftemangel (z. B. Bick et al.
2019). Erneut zeigt sich somit, dass eine umfassendere gesamtwirtschaftliche Perspektive die Argumente zugunsten einer sektoralen Einzelmaßnahme ins Leere laufen lässt.
4.3 Wettbewerbsverzerrungen
4.3.1 Internationaler Wettbewerb
Die Gastronomie-Branche verweist darauf, dass in der großen Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten für die Gastronomie ein ermäßigter Umsatzsteuersatz zur Anwendung kommt (Dehoga
2023). Es ist richtig, dass die Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten für Gastronomiedienstleistungen den ermäßigten Satz anwenden. Ein nennenswerter Wettbewerbsnachteil ist damit jedoch nicht verbunden. Gastronomiedienstleistungen sind ihrem Wesen nach lokal. Angesichts des geringen Anteils der Umsatzsteuer für Restaurantdienstleistungen an den Gesamtkosten einer Deutschland-Reise ist es zudem nicht plausibel, aufgrund dieser unterschiedlichen Behandlung nennenswerte Umlenkungseffekte von Touristen oder Geschäftsreisenden zu erwarten. Auch sollten problematische steuerpolitische Entscheidungen nicht mit dem Argument begründet werden, dass dies von einer Mehrheit an EU-Staaten ebenso praktiziert werde.
4.3.2 Ungleichbehandlung mit Essenslieferungen und Supermärkten
Branchenvertreter argumentieren, dass es wettbewerbsverzerren wirken würde, Restaurantdienstleistungen dem Regelsatz zu unterwerfen, „während auf Essen zum Mitnehmen, im Supermarkt oder bei der Essenslieferungen weiterhin nur sieben Prozent Mehrwertsteuer erhoben werden“ (Dehoga
2023).
Der ermäßigte Umsatzsteuersatz auf im Einzelhandel erworbene Lebensmittel wird in Deutschland mit dem verteilungspolitischen Argument begründet, dass Lebensmittel im Warenkorb ärmerer Haushalte einen größeren Anteil besitzen. Feld et al. (
2020) und Ismer et al. (
2010) zeigen, dass eine Anhebung der Umsatzsteuer für Lebensmittel auf den Regelsatz insbesondere kinderreiche Haushalte und Haushalte im unteren Einkommensbereich überdurchschnittlich belasten würde. Darüber hinaus ist die Nachfrage nach Grundnahrungsmitteln relativ unelastisch. Es ist daher zu erwarten, dass die Inzidenz der Steuer auf der Nachfrageseite liegt und die Steuerermäßigung ärmere Haushalte tatsächlich entlastet.
Dieser Gesichtspunkt rechtfertigt somit tatsächlich die Ungleichbehandlung zwischen Lebensmitteleinzelhandel und Gastronomie, weil gastronomische Dienstleistungen im Anteil des jeweiligen Warenkorbs von ärmeren und kinderreichen Haushalten weniger stark als von reicheren oder kinderlosen Haushalten nachgefragt werden (siehe unten 4.4.1); für im Einzelhandel erworbene Grundnahrungslebensmittel ist es umgekehrt. Im Übrigen ist auch die Steuerermäßigung für Lebensmittel nicht unumstritten aufgrund hoher Mitnahmeeffekte bei reichen Haushalten und vieler Abgrenzungsprobleme, so dass eine zielgenaue Transferlösung für arme Haushalte auch hier der kostengünstigere Weg zum Erreichen von Verteilungszielen sein könnte.
Die Ungleichbehandlung mit den Essenlieferungen ist inhaltlich daraus begründet, dass der Essenslieferant keine umfangreiche Dienstleistung vor Ort anbietet und insofern mit seiner Leistung näher am Lebensmitteleinzelhandel verortet ist.
10 Allerdings ist diese Begründung tatsächlich wenig eindeutig. Dies spricht jedoch eher dafür, die Steuersubvention von Essenlieferungen zu beenden, als diese Steuersubvention weiter auf die Gastronomie vor Ort auszuweiten. Des Weiteren ist anzumerken, dass Gastronomiebetriebe den ermäßigten Steuersatz unter den gleichen Bedingungen wie der Lebensmitteleinzelhandel oder Essenslieferanten in Anspruch nehmen können bei Außer-Haus-Verkäufen, Catering oder Lieferserviceangeboten.
Eine Abschaffung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes auf die Lieferung von verzehrfertigen Speisen (d. h. für den Außer-Haus Verkauf aber auch in Supermärkten) könnte zudem die bestehenden Abgrenzungsprobleme sowie die Komplexität reduzieren und Anreize zur Umsatzsteuervermeidung reduzieren. In der bestehenden Ausgestaltung mit der parallelen Anwendung der beiden Steuersätze ergibt sich mit steigendem Steuersatzunterschied für Gastronomen ein höherer Anreiz Umsätze unter dem ermäßigten Steuersatz zu deklarieren (Hopland und Ullmann
2020).
Es wäre daher steuerpolitisch nicht überzeugend, fragwürdigen Anwendungen des ermäßigten Steuersatzes dadurch zu begegnen, diese immer weiter auf andere Sektoren auszuweiten. So empfiehlt der Bundesrechnungshof in einem aktuellen Bericht zur Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes: „Weitere Steuervergünstigungen sollten vermieden und bestehende Vergünstigungen konsequent gestrichen werden“ (Bundesrechnungshof
2022).
4.4 Soziale Aspekte
4.4.1 Verteilungseffekte
Eine mögliche verteilungspolitische Rechtfertigung würde sich ergeben, wenn diese Steuersubvention besonders ökonomisch schwächere Haushalte begünstigen würde. Branchenvertreter suggerieren in ihren Positionierungen eine entsprechende sozialpolitische Funktion dieser Steuervergünstigung: „Wir wollen, dass für Normalverdiener und Familien auch in Zukunft ein Gaststättenbesuch bezahlbar ist“ (Dehoga
2023).
Empirisch gilt, dass diese Steuervergünstigung wohlhabende Haushalte absolut und relativ stärker begünstigt als ärmere. Ismer et al. (
2010) haben die Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe untersucht. Dabei zeigt sich, dass die durchschnittlichen Haushaltsausgaben für Restaurations- und Verpflegungsleistungen mit dem Haushaltseinkommen steigen und kinderlose Haushalte mehr von diesen Dienstleistungen nachfragen als kinderreiche Haushalte. Die Steuerermäßigung für Restaurants ist somit regressiv: Sie begünstigt relativ reiche und kinderlose Haushalte.
Lediglich für die Subkategorie der in Schulen und Kindergärten angebotenen gastronomischen Dienstleistungen gilt eine Steuerermäßigung im Hinblick auf die Entlastung ärmerer Haushalte als zielgenauer (Ismer et al.
2010). Dies könnte somit allenfalls für ein klar umgrenztes Teilsegment der gastronomischen Dienstleistungen ein valides Argument für eine Entfristung liefern. Allerdings besteht bereits unter dem aktuellen Rechtsstand die Möglichkeit, die Kita- und Schulspeisungen so durchzuführen, dass die Abgabe der Speisen ermäßigt besteuert wird oder sogar steuerbefreit
11 ist (Deutscher Bundestag
2017,
2019b). Der ermäßigte Umsatzsteuersatz findet unter anderem Anwendung, sofern verzehrfertige Speisen von Drittunternehmern an Kitas, Schulen, Krankenhäuser und Altersheime geliefert und dort nicht durch diese Drittunternehmen ausgegeben werden oder die Abgabe von Speisen durch eine gemeinnützige Körperschaft (z. B. Eltern- oder Fördervereine) im Rahmen des Zweckbetriebs erfolgt.
4.4.2 Kulturgut und ländlicher Raum
Für das Anliegen des ermäßigten Umsatzsteuersatzes wird außerdem angeführt, dass er indirekt einen struktur- und regionalpolitischen Beitrag leistet, indem er die Präsenz von Restaurants in den Innenstädten und auf dem Land ermöglicht: „Sterben die Restaurants und Cafés, sterben auch die Innenstädte. Schließt das Gasthaus im Dorf, verschwindet auch ein Stück Heimat und Kultur“ (Dehoga
2023).
Die Sichtweise, dass die Ermäßigung einen nennenswerten Beitrag liefern könnte, Restaurants in Innenstädten oder in Dörfern zu bewahren, die ohne diese Maßnahme schließen müssten, dürfte einer empirischen Grundlage entbehren. Die differenzierte Entwicklung der Gastronomie (Krause et al.
2023) ist wesentlich auf sich verändernde Präferenzen, soziale Interaktionen und Gewohnheiten der Menschen zurückzuführen.
Fraglich ist ohnehin, ob es tatsächlich überzeugende Argumente gibt, dass die „Restaurantkultur“ ein förderungswürdiges öffentliches Gut darstellt, sodass dafür Steuersubventionen gezahlt werden sollten. Mühelos ließen sich genau umgekehrte Argumente finden wie etwa, dass gemeinsames Kochen zu Hause Freundeskreise und Familien in besonderer Weise zusammenführen und damit soziale Interaktionen und wertvolles Wissen über Lebensmittel und deren Zubereitung stärken würde. Letztlich sind aber all derartige Argumente beliebig. Jede Branche könnte ohne Mühe ein ähnliches Argument zur Schutzbedürftigkeit der eigenen Aktivitäten formulieren. Eine derartig extensive Auslegung von „öffentliches Gut“-Argumentationen würde zu einer ungezielt breiten Subventionierung vieler Sektoren führen.
Steuersubventionen sollten mit substanziellen inhaltlichen Argumenten begründet werden, für die es noch dazu empirische Belege gibt. Beide Kriterien sind für dieses „Kultur-Argument“ der Gastronomie nicht erfüllt.
4.4.3 Nachhaltigkeit und Gesundheit
Unter den Argumenten zugunsten der Entfristung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes wird auch ein Nachhaltigkeitsgesichtspunkt angeführt: „Es sind unsere Restaurants, die auf regional erzeugte Produkte von Lieferanten aus der Umgebung setzen und damit nachhaltig wirtschaften. 7 % helfen, einen Beitrag für regionale, gesunde und ausgewogene Ernährung zu leisten“ (Dehoga
2023).
Mit der Steuerermäßigung sind jedoch keinerlei Auflagen dazu verbunden, wie regional, ökologisch oder gesund ein Gastronomieunternehmen seine Speisen anbietet. Ein argentinisches Steakhaus kommt in gleicher Weise in den Genuss dieser Steuersubvention wie ein veganes Restaurant, das nur lokale Lebensmittel verarbeitet. Insofern muss die mehrwertbezogene Steuersubvention bereits im Ansatz als ungeeignet angesehen werden, Nachhaltigkeitsziele auf effektive und effiziente Art und Weise anzusteuern.
5 Fazit
Die Argumente, die Ende 2023 für eine Verlängerung und seitdem für eine Wiedereinführung und Entfristung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes für Speisen in der Gastronomie angeführt wurden, sind insgesamt nicht stichhaltig. Der vorübergehende Grund für die befristete Einführung waren die enormen Härten der Pandemie für diese Branche. Die Post-Pandemie-Zeit mutet der Gastronomie wie anderen Branchen auch einen weiteren Strukturwandel zu, der aber keine Rechtfertigung für eine dauerhafte Subventionierung liefert. Auch darf die Verteilungswirkung dieser Steuersubvention nicht übersehen werden, die eher wohlhabende und kinderlose Haushalte begünstigt, aber letztlich von der Gemeinschaft aller Steuerzahlenden zu finanzieren ist.
Gleichzeitig muss beachtet werden, dass die Umsatzsteuer eine der wichtigsten Quellen zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben darstellt. Die vorübergehende Senkung des Steuersatzes für die Gastronomie war bis zu ihrem Auslaufen eine der kostspieligsten Steuersubventionen (Bundesrechnungshof
2022). Diese Maßnahme hat hauptsächlich einer spezifischen Branche genutzt, löst jedoch nicht grundlegende Probleme wie Fachkräftemangel und Preissteigerungen, die alle Branchen betreffen.
Die Bundesregierung hat die Ermäßigung Ende 2023 auslaufen lassen. Aufgrund fehlender Rechtfertigungsgründe war dies eine sachlich gebotene Entscheidung. Die Art und Weise, wie sie zustande kam, hat allerdings eindrücklich veranschaulicht, wie hoch die Widerstände sind, eine evidenzbasierte und rationale Umsatzsteuerstruktur durchzusetzen (beziehungsweise eine nicht mehr begründbare Begünstigung zurückzunehmen). Im November 2023 brachte erst das Karlsruher Urteil zum Nachtragshaushalt 2021 die endgültige Klärung. Hatte die Ampel-Regierung noch vor dem Urteil eine einjährige Verlängerung in Aussicht gestellt, war erst mit den plötzlichen Sparzwängen diese Verlängerung dann endgültig vom Tisch.
Diese Fallstudie liefert mindestens zwei wichtige allgemeine steuerpolitische Einsichten. Erstens sollte es die Finanzpolitik in Zukunft in Krisensituationen vermeiden, kurzfristige Liquiditätshilfen über temporärer Steuerermäßigungen zu gewähren. Auch als „temporär“ deklarierte Ermäßigungen erzeugen ganz offenbar bei den begünstigten Gruppen ein Besitzstandsdenken, das eine Rückkehr zur Normalbesteuerung politisch stark erschwert. Dies zeigt sich an der Vehemenz mit der Interessensvertreter auch in Abwesenheit stichhaltiger Argumente auf einer Beibehaltung des ermäßigten Satzes beharrten. Die Rücknahme einmal gewährter Vorteile wird als besonders einschneidend wahrgenommen und kommuniziert. Dabei dürfte die besondere Krisenbetroffenheit einer Branche und die Tatsache, dass diese Branche den Menschen aufgrund eigener Konsumerlebnisse vertraut ist, eine Rolle spielen. Interessengruppen können die damit verbundene Emotionalisierung gezielt in ihren Kampagnen nutzen, um für den Übergang zu einer dauerhaften steuerlichen Förderung zu werben. Die Vielzahl der Unternehmen mit ihren Millionen von Kundenkontakten ermöglicht zudem eine breite Kampagnenfähigkeit bei vergleichsweise geringen Kosten. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass temporäre Finanzhilfen in Krisenzeiten temporären Steuervergünstigungen vorzuziehen sind. Aufgrund der hohen Kostentransparenz von Finanzhilfen ist nicht damit zu rechnen, dass Forderungen nach Entfristung von Geldzahlungen für bestimmte Branchen politisch eine ähnlich hohe Chance hätten, wie dies für Steuersubventionen der Fall ist.
Zweitens sollte Deutschland seine Linie beibehalten, in der Ausübung der ermäßigten Umsatzsteuersätze eher zurückhaltend zu bleiben. Jede weitere Ausnahme würde die Schmälerung der Steuerbasis und die Kettenreaktion der Argumente der relativen Fairness beschleunigen. Dies wurde im Gastronomiebeispiel für das Argument der vermeintlich unfairen Ungleichbehandlung der Restaurants im Vergleich zum Verkauf von verzehrfertigen Speisen außer Haus deutlich. Bezeichnenderweise wurde diese Ungleichbehandlung nur für eine Ausweitung der Begünstigung und nicht die umfassende Rücknahme des ermäßigten Steuersatzes seitens der Interessenverbände diskutiert.
Mehr Information und Aufklärung ist nötig, um die Akzeptanz für eine Reduktion der ermäßigten Umsatzsteuersätze oder Steuerbefreiungen zu erhöhen. Essenziell ist dafür die Erkenntnis, dass eine ergiebige und nicht diskriminierende Umsatzsteuer kein abstraktes Gut und kein Selbstzweck ist, sondern ein wichtiges Instrument zur effizienten Finanzierung öffentlicher Güter ist und dass viele Ermäßigungstatbestände zudem nicht mit den Zielen verteilungspolitischer Fairness im Einklang stehen.
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