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Published in: HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik 6/2022

Open Access 03-11-2022 | Schwerpunkt

Die Generation Alpha der Digital Health Innovationen – Eine Fallstudie aus der Multiple Sklerose Versorgung

Authors: Hannes Schlieter, Marcel Susky, Peggy Richter, Emily Hickmann, Tim Scheplitz, Martin Burwitz, Tjalf Ziemssen

Published in: HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik | Issue 6/2022

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Zusammenfassung

Die digitale Transformation im Gesundheitswesen ermöglicht durch die Entwicklung zahlreicher neuer Technologien und Standards eine zunehmend individualisierte, bedarfsgerechte und berufsgruppenübergreifende Versorgung von Patienten. Diese neue Generation von Digital Health Innovationen – die Digital Health Generation Alpha (in Anlehnung an die korrespondierende Alterskohorte) – erfüllt Informations‑, Kommunikations- und Interoperabilitätsanforderungen entlang des gesamten Versorgungsprozesses, die aufgrund von abgegrenzten Leistungs- und Zuständigkeitsbereichen sowie Vergütungsregelungen oft eine unüberwindbare Hürde dargestellt haben. Im Beitrag werden mit der i) Pfadorientierung, ii) Patientenorientierung und -einbeziehung, iii) Qualitätsorientierung und iv) Integrationsfähigkeit vier zentrale Gestaltungsdimensionen von Digital Health Innovationen der Generation Alpha vorgestellt. Diese werden literaturgestützt aufgearbeitet und deren praktische Umsetzung anhand einer Fallstudie im Bereich der Versorgung von Patienten mit Multipler Sklerose aufgezeigt. Zentrale Leitfragen, konkrete Umsetzungsmaßnahmen und literaturgestützte Gestaltungsziele werden anhand eines prototypischen Vorgehensmodells beschrieben. Anhand der Fallstudie werden anschließend Implikationen für die zukünftige Digital Health Agenda abgeleitet, welche insbesondere für die Realisierung innovativer Werteversprechen und deren Integration in komplexe Zielumgebungen des Gesundheitswesens notwendig sind.
Notes
In dieser Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint, soweit es für die Aussage erforderlich ist.
Zu diesem Beitrag ist ein Erratum online unter https://​doi.​org/​10.​1365/​s40702-022-00935-z zu finden.

1 Einleitung

Die allgegenwärtige Digitale Transformation hinterfragt und verändert traditionelle Denk‑, Handlungs- und Rollenmuster in der Gesundheitsversorgung (McKinsey und Company 2022). Beispielsweise verlagert sich durch technische Innovationen wie kontext-sensitive Coaching-Anwendungen die Versorgung vom stationären Bereich in das Lebensumfeld von Bürgern (Vesnic-Alujevic et al. 2018; Weimann et al. 2022). Den Patienten selbst wird dabei zunehmend eine aktive, informierte sowie selbstbestimmte Rolle zugesprochen, z. B. durch die Verwendung von Patient Reported Outcomes und Experiences1 als Gütekriterium zur Bewertung des Behandlungserfolges (Tecic et al. 2009) oder durch die Erstellung von Patientenpfaden, in denen der evidenzbasierte Behandlungsprozess in einem Netzwerk von Leistungserbringern aus Patientensicht konzipiert wird (Richter und Schlieter 2019).
Aus Sicht der Anwendungssysteme ergeben sich entlang der Behandlungsprozesse zahlreiche Interaktions‑, Informations- und Integrationsaufgaben, die aufgrund organisatorischer und technologischer Gegebenheiten in der Vergangenheit meist unüberwindbare Hindernisse darstellten, wie bspw. die Bereitstellung von Schnittstellen in der heterogenen Systemlandschaft eines klinischen Informationssystems oder ein Mangel an semantischer Interoperabilität (Interop Council 2022). Mit der Entwicklung und Verbreitung von Standards wie HL7 Fast Healthcare Interoperability Resources (FHIR), Integrating the Healthcare Enterprise (IHE)-Profile oder nationalen Initiativen wie der Telematikinfrastruktur stehen inzwischen entsprechende Werkzeuge zur Verfügung, um diese Hürden zu überwinden. Eine neue Generation von Digital Health Lösungen wird sich etablieren, deren Präsenz, Fähigkeiten und Synergien dazu führen, dass der Umgang mit ihnen selbstverständlicher (Hess et al. 2014) und ihre Wirkung einen signifikanten Beitrag zur öffentlichen Gesundheit leisten wird.
In diesem Beitrag wird anhand einer Fallstudie im Bereich der digitalisierten Multiple Sklerose (MS)-Versorgung gezeigt, welche Herausforderungen gemeinschaftlich zu adressieren sind, um einen klassischen Versorgungsansatz in ein neues Zeitalter digitaler Gesundheitsversorgung zu überführen. Diese werden, in Anlehnung an das Konzept der Alterskohorten (McCrindle und Fell 2021), im vorliegenden Beitrag als „Generation Alpha Digitaler Health Innovationen“ getauft. Diese Bezeichnung pointiert zum einen das Ablösen tradierter Lösungen, zum anderen zeigt es, wie digitale Möglichkeiten als allumfassendes Merkmal der Gesundheitsversorgung begriffen werden kann. Bezogen auf diesen Transformationsprozess werden folgende Gestaltungsdimensionen fokussiert:
1.
die Orientierung entlang des Versorgungsprozesses (Pfadorientierung),
 
2.
die Orientierung an und Teilhabe von Patienten im Versorgungsgeschehen,
 
3.
die qualitätsgetriebene Entwicklung und Implementierung der Interventionen sowie
 
4.
die Fähigkeit, neue digitale Lösungen effektiv und effizient in vorhandene digitale Ökosysteme zu integrieren.
 
Der Beitrag fasst am Ende eine Reihe von Implikationen zusammen, die bei der Umsetzung vergleichbarer Digital Health Projekte Beachtung finden sollten.

2 Gestaltungsdimensionen von Generation Alpha Digital Health Innovationen

Im Folgenden werden vier Gestaltungsdimensionen erörtert, die maßgeblich für die Generation Alpha Digital Health Innovationen sind. Im Zusammenspiel tragen sie zum Wandel vom tradierten, paternalistischen und diskontinuierlichen Status quo hin zum partizipativen sowie integrierten Versorgungsmodellen bei (siehe Abb. 1).

2.1 Pfadorientierung

Die Komplexität medizinischer Interventionen sowie der technische Fortschritt erfordern eine nahtlose Koordinierung aller Akteure, die am Versorgungsprozess von Patienten beteiligt sind. Im Hinblick auf diese Koordinierungsbemühungen hat sich die integrierte Versorgung als Kernkonzept entwickelt, um i) der richtigen Person, am richtigen Ort, die richtige Versorgung zukommen zu lassen und ii) Ungleichheiten, die sich aus der Zugänglichkeit oder der allgemeinen Verteilung von Gesundheitsdiensten ergeben, abzuschwächen (Lerum und Frich 2012). Pfade (im Sinne von Prozessstandards) dienen in diesem Zusammenhang als Steuerungs- und Koordinierungswerkzeug aller Beteiligten. Patientenpfade legen dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die explizite Berücksichtigung der Patientenperspektive entlang des gesamten Versorgungsgeschehens (Richter et al. 2021). Zur Erstellung von Patientenpfaden sind die Identifikation, Auswahl und Abstimmung der wesentlichen Prozesse, Beteiligten, Ressourcen und Informationen notwendig (insb. aus Sicht von Patienten und Patientenvertretern). Die Entwicklung von Patientenpfaden sollte aktuelle Evidenz (insb. aus den Empfehlungen medizinischer Leitlinien), nationale, regionale sowie lokale Gegebenheiten als auch die Bedarfe und Bedürfnisse der adressierten Patientengruppe berücksichtigen. Ein abgestimmter Patientenpfad vermag es, als gemeinsamer Behandlungsstandard in einem integrierten Versorgungssetting zu dienen und bildet die Grundlage für die Digitalisierung der Prozesse einer heterogenen Systemlandschaft (Schlieter et al. 2017). Um sicherzustellen, dass ein Pfad die Versorgungsbedarfe und -bedürfnisse der Patientengruppe tatsächlich abbildet, sollten Patienten(-vertreter) und ggf. Angehörige frühzeitig und entlang des gesamten Entwicklungsprozesses einbezogen werden (Abrahams et al. 2017).

2.2 Patientenorientierung und -einbeziehung

Die Patientenorientierung ist ein integraler Bestandteil evidenzbasierter Medizin sowie integrierter Versorgung (Balch 2018; Kaiser et al. 2020). Sie rangiert über verschiedene Themenfelder, die sich von der Mikroebene wie der eines erfolgreichen Arzt-Patienten-Gespräches bis hin zur Makroebene wie der Patiententeilhabe zur Neugestaltung gesetzlicher Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen ziehen (Brandstetter et al. 2015). Patienten sind in die Entwicklung von Versorgungsmodellen und somit auch in die Gestaltung von Patientenpfaden einzubeziehen. Dabei sollten sie die Rolle eines mündigen und informierten Beteiligten einnehmen. Mit Patient Engagement- und Patient Empowerment-Maßnahmen sollen Patienten darüber hinaus befähigt werden, selbst stärker die Gestaltung und Steuerung ihrer Gesundheit in die Hand zu nehmen. Patient Engagement bezieht sich dabei auf die aktive Mitwirkung der Patienten im eigenen Versorgungsprozess (bspw. mittels partizipativer Entscheidungsfindung), wohingegen Patient Empowerment den dazu notwendigen Befähigungsprozess (z. B. Zugewinn an Wissen, Fähigkeiten und Selbstvertrauen) beschreibt, durch den Patienten in die Position versetzt werden, entsprechend handeln zu können (Cerezo et al. 2016). Die gemeinsame Zusammenarbeit und Kommunikation auf Augenhöhe zwischen Patienten und Behandelnden kann wiederum zur Steigerung der Therapieadhärenz und zu einem effizienteren Ressourceneinsatz beitragen (Maher 2013). Nutzerzentrierte Entwicklungsmethoden und dedizierte Patient Engagement-Werkzeuge können dabei für die Gestaltung von Digital Health Innovation herangezogen werden (Hickmann et al. 2021).

2.3 Qualitätsorientierung

Qualität ist der „Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale eines Objekts Anforderungen erfüllt“ (DIN EN ISO 9000:2015). Sie wird im Gesundheitswesen traditionell in die Dimensionen Struktur‑, Prozess- und Ergebnisqualität einer Versorgungsleistung unterschieden. Mit dem Fokus auf Patientenpfaden weitet sich das Qualitätsverständnis von einer einzelnen Institution auf die Leistung des gesamten Versorgungsnetzwerkes, in dem sich ein Patient bewegt. Grundlegende Qualitätsaspekte eines Patientenpfades betreffen insb. die Effektivität, Sicherheit, Patientenzentriertheit und Kontinuität der Versorgung (Richter 2019). Zur Qualitätsmessung und -steuerung werden systematisch und evidenzbasiert entwickelte Qualitätsindikatoren (QIs) eingesetzt, um den Erreichungsgrad von Zielvorgaben zu bestimmen. Beispielsweise können patientenorientierte Qualitätsindikatoren als objektiv erfassbare medizinische QIs sowie über von Patienten selbst berichtete Erfahrungen und Behandlungsergebnisse (PRE und PRO Measures) erfasst werden. Traditionell werden QIs retrospektiv – d. h. zeitversetzt zum tatsächlichen Versorgungsgeschehen – erhoben. Digital Health Innovationen der Generation Alpha sollten QIs dahingegen direkt entlang des Patientenpfades verankern und eine kontinuierliche, formative Evaluation des Versorgungsgeschehens erlauben. Dies ermöglicht sowohl Behandelnden als auch Patienten das Monitoring der erreichten Versorgungsqualität und bereitet eine Entscheidungsgrundlage zur Einleitung von Gegensteuerungsmaßnahmen bei absehbaren Abweichungen. Darüber hinaus wird damit die Rolle von Patienten als Teilhabende im Versorgungsprozess im Sinne von Qualitätsmanagern in eigener Sache gestärkt.

2.4 Integrationsfähigkeit

Die Fähigkeit Digital Health Innovationen effektiv und effizient in vorhandene digitale Ökosysteme zu integrieren, wird sich zukünftig als kritische Eigenschaft entwickeln. Kürzer werdende Innovationszyklen und der dynamische Wandel monolithischer Systemarchitekturen hin zu komplexen, interoperablen Informationssystemlandschaften fordern Innovatoren heraus, nicht nur überzeugende funktionale Lösungen zu realisieren, sondern auch ihre nahtlose Integration in die jeweiligen Zielumgebungen zu sichern. Charakteristische Eigenschaften digitaler Innovationen, wie bspw. ihre Kombinierbarkeit oder das verteilte Wertschöpfungsprinzip (Yoo et al. 2010; Henfridsson et al. 2018) betonen zudem die Nachhaltigkeit dieser Fähigkeit über die initiale Einführungsphase hinaus. Aus sozio-technischer Perspektive spiegelt sich diese Integrationsfähigkeit auf vier Ebenen wider (Scheplitz 2022):
1.
Technische Ebene: Technische Systeme interagieren direkt oder indirekt in digitalen Ökosystemen miteinander;
 
2.
Humane Ebene: Menschen nutzen die Digital Health Innovation oder sind von ihrem Einsatz betroffen;
 
3.
Organisationale Ebene: Organisationen verantworten den Betrieb von Digital Health Innovationen entlang adäquater Geschäftsmodelle;
 
4.
Gesetzlich-regulative Ebene: Gesetzgebung und Regulatorik determinieren Pflichten und Grenzen der Gestaltung und des Betriebs.
 
Integrationsfähigkeit beschreibt daher, wie eine Digital Health Innovation in ein bestehendes oder zukünftiges, digitales Ökosystem eingebettet werden kann und wie sie in der Lage ist, mit anderen sozio-technischen Systemen zu interagieren, Mehrwerte zu generieren und letztendlich im Wettbewerb von Lösungen zu bestehen (Tiwana et al. 2010). Integrationsfähigkeit wird zukünftig von strategischer Bedeutung für die Wettbewerbsfähigkeit im Digital Health Markt sein.

3 Fallstudie

Die Fallstudie ist Teil eines dreijährigen Forschungsprojekts zwischen TU Dresden und dem Multiple Sklerose am Universitätsklinikum Dresden. Es umfasst die Verbesserung der ostsächsischen Multiple Sklerose-Versorgungslandschaft und -situation, um daraus auch allgemeingültige Therapiestandards abzuleiten. Die Versorgungslandschaft der Fallstudie ist geprägt aus einem Netzwerk von lokalen interdisziplinären Leistungserbringern (z. B. niedergelassene Neurologen oder Radiologen), wobei im Charakter eines Flächenlandes ein sehr hohes Gefälle der Versorgungsdichte zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten vorherrscht. Das ambulanten Schwerpunktzentrum vernetzt und koordiniert die unterschiedlichen Standorte in der Fläche und ist maßgeblicher Innovationstreiber für die Multiple Sklerose Versorgung.

3.1 Multiple Sklerose und deren Versorgung

Die Multiple Sklerose – oder umgangssprachlich formuliert die „Krankheit der tausend Gesichter“ – ist eine chronisch entzündliche, degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems, die zu neurologischen Defiziten führen kann und verschiedene Verlaufsformen aufweist (Reich et al. 2018). Multiple Sklerose gilt als nicht heilbar und begleitet Betroffene ihr Leben lang durch eine phasenweise individuell ausgeprägte Symptomatik, z. B. als Fatigue oder Sehstörungen. Die Diagnosestellung ist komplex und erfordert eine interdisziplinäre wie intersektorale Zusammenarbeit diverser Disziplinen über einen längeren Zeitraum hinweg (Soelberg Sorensen et al. 2018). Zur Behandlung existiert im deutschsprachigen Raum eine medizinische Leitlinie, deren Fokus vordergründig auf den therapeutischen Maßnahmen und weniger auf den Versorgungsprozessen liegt. Im Gegensatz zu anderen chronischen Erkrankungen wird eine Diagnose häufig bei Personen im jungen Erwachsenenalter gestellt, denen häufig eine höhere IT-Affinität und Kompetenz im Umgang mit partizipativen elektronischen Gesundheits- und Versorgungsangeboten zugeschrieben wird (Tennant et al. 2015).
Die Fallstudie greift die Komplexität des Krankheitsbildes mit dem übergeordneten Ziel auf, Behandlern und Patienten gleichermaßen eine digitalisierte und integrierte Multiple Sklerose-Versorgung zu ermöglichen. Als zentraler Auftrag sind dabei die Erfassung und Digitalisierung der einrichtungsübergreifenden Versorgungsprozesse, die Bewertung der Behandlungsqualität sowie die Identifikation und Ausschöpfung von Potenzialen zur Patientenintegration zu nennen, welche im Einklang mit den zuvor geschilderten Gestaltungsdimensionen von Generation Alpha Digital Health Innovationen stehen.

3.2 Projektumsetzung

Innerhalb des auferlegten Vorgehensmodells der Fallstudie werden Leitfragen zur Entwicklung und Digitalisierung des Patientenpfades sowie die damit einhergehenden Umsetzungsmaßnahmen aufgegriffen. Das Vorgehensmodell ist agilen Vorgehensmodellen entlehnt und konkretisiert jene hinsichtlich der vorgestellten Gestaltungsdimensionen (siehe Abb. 2). Es gliedert sich in drei Phasen – die Vorbereitungs‑, Detaillierungs- und Integrationsphase (ausstehend).

3.2.1 Vorbereitungsphase

Bei der initialen Prozessanalyse wurde gemeinsam mit den klinischen Projektpartnern die aktuellen Leitlinien bzw. Behandlungsschemata gesichtet und mittels Landkarte und definierte Fachprozesse systematisiert. Zudem wurden einrichtungsspezifische Behandlungsstandards und deren Umsetzung im medizinischen Zentrum auf prozessualer und organisatorischer Ebene in Workshops diskutiert. Die Ergebnisse dieser Analyse wurden in einer Prozesslandkarte festgehalten, die fortan als zentrale Navigationshilfe zur Verfügung stand. Einerseits konnte darüber ein einheitliches Verständnis zur Anwendungsdomäne unter allen Projektpartnern hergestellt werden. Andererseits wurden der Umfang, die Komplexität und das Zusammenwirken einzelner Versorgungmaßnahmen ersichtlich und besser verständlich. Der so erlangte Überblick bildete die Grundlage zur Identifikation und Auswahl möglicher Prozessschritte zur Überführung in einen Patientenpfad. Auswahlkriterien und Diskussionsgegenstand waren unter anderem, welchen Beitrag eine Versorgungsmaßnahme zum Behandlungserfolg leistet, ob Aussagen zur Behandlungsqualität ableitbar sind und inwiefern sich Patienten über den Empfang von Behandlungsleistungen hinaus aktiv einbeziehen lassen oder Probleme auch mit der Therapieadhärenz zu verzeichnen sind. Zur Modellierung des zugrunde liegenden Prozesses hat sich die Business Process Model & Notation (BPMN) sowie ein gemeinsames digitales Repository für Pfadmodelle als zweckmäßig herausgestellt. Die Initialversion des Patientenpfades half den Entwickelnden, sich auf die Rollen und Verantwortungen beteiligter Akteure und Systeme zu einigen.

3.2.2 Detaillierungsphase

Die Detaillierungsphase ist iterativ-inkrementell gestaltet und teilt sich in wiederkehrende aufeinander folgende Teilphasen (siehe Abb. 2, „Detaillierungsphase“, dunkelgraue Bereiche) auf. Dabei wird die Initialversion des Patientenpfads schrittweise in einzelne abgeschlossene Pfadausschnitte zerlegt, die für sich genommen einen fachlichen Anwendungsfall ergeben. Die schrittweise Entwicklung jedes Pfadausschnittes verfolgte das Ziel, für einen vertikalen Auszug über alle Umsetzungsebenen hinweg – ausgehend von der groben fachlichen Prozessbeschreibung bis zum prototypisch integrierten Gesamtsystem – zu bilden. Dieses sogenannte Inkrement erzeugt einen anwendbaren Lösungsbestandteil mit tatsächlichem Nutzen aufbauend auf dem Inkrement der letzten Iteration. Diese Herangehensweise hat zum einen den Vorteil, dass sich Aufwand und Umfang im Verlaufe der Projektbearbeitung reduzieren, da insb. auf den technischen Umsetzungsebenen ein Fundament geschaffen und kontinuierlich erweitert wird. Zudem ist eine Parallelisierung der Bearbeitung aufeinander folgender Pfadausschnitte möglich. Zur Strukturierung des weiteren Vorgehens (siehe Abb. 2, „Detaillierungsphase“, schwarze Bereiche) wurden die Gestaltungsdimensionen herangezogen, für die nachfolgend die Umsetzungsmaßnahmen beschrieben werden. Die Ergebnisse, die bei den Arbeiten im Rahmen jeder Gestaltungsdimension entstehen, werden nach Bedarf iterativ mit den betreffenden Stakeholdern bewertet und bei Bedarf erneut überarbeitet.
Pfadorientierung
Ausgehend von der groben fachlichen Beschreibung des Pfadausschnittes wurde bei der Pfadorientierung folgende Leitfrage adressiert:
  • Welche Behandlungsprozessschritte haben für die Multiple Sklerose-Versorgung von Patienten eine herausragende Bedeutung?
Zur Beantwortung wurde gemeinsam mit den klinischen Projektpartnern Workshops zur Fachanalyse durchgeführt. Der Fokus der Workshops lag auf der Klärung möglicher inter- und intra-sektoraler Grenzüberschritte, auf den beteiligten Akteuren und deren Rollen sowie auf Informationsflüssen und -objekten. Darüber hinaus wurden mögliche Qualitätsziele, die eine Aussage zur Behandlungsqualität liefern können, für den betrachteten Pfadausschnitt analysiert. Diskussionen wurden stets vor dem Hintergrund geführt, dass die Versorgung gemeinsam mit Patienten zu gestalten ist, um eine Ausrichtung an deren Bedürfnissen zu gewährleisten. Die erzielten Ergebnisse bildeten maßgeblich das Grundgerüst zur Bearbeitung der weiteren Gestaltungsdimensionen. Durch das frühzeitig festgehaltene Grundgerüst des Pfadausschnittes konnten sich alle Beteiligten auf einen fachlichen Standard einigen.
Patientenorientierung und -einbeziehung
Im Rahmen der Detaillierungsphase befasst sich diese Gestaltungsdimension mit der Leitfrage:
  • An welchen Stellen im Pfadausschnitt und auf welche Art lassen sich Patienten aktiv integrieren, sodass das Patient Engagement verbessert wird?
Die Patienteneinbeziehung bei der allgemeinen Projektumsetzung als auch der Bearbeitung eines spezifischen Pfadausschnittes, ist auf zwei Wegen geschehen: (1) Die Teilhabe von Patienten an der eigenen Multiple Sklerose-Versorgung und (2) durch die Integration von Patienten in die Entwicklung über einen nutzerzentrierten Gestaltungsansatz. Für (1) werden die Interaktionspunkte der Patienten im betrachteten Pfadausschnitt mit den klinischen Projektpartnern herausgearbeitet und die Integrationsmöglichkeiten diskutiert. Bspw. wurde festgestellt, dass Patienten während ihres Besuchs im medizinischen Zentrum regelmäßig Standardfragebögen ausfüllen müssen. Eine Verlagerung solch vorbereitender Tätigkeiten in den häuslichen Bereich verkürzt den Aufenthalt und entspannt die Gesamtsituation für Patienten. Über ein Patientenportal sollen derartige Interaktionen digital gestützt und ein Patient aktiv in den Behandlungskontext eingebunden werden. Dazu werden die im Pfadausschnitt relevanten Informationen zur eigenen Behandlung und Funktionen zur Interaktion zielgerichtet und passgenau bereitstellt. Anhand der ermittelten Interaktionspunkte im Pfadausschnitt ließen sich Anforderungen (User Stories) zur Realisierung im Patientenportal ableiten. Zudem ließen sich Austauschszenarien zwischen den beteiligten Systemen identifizieren und mit den jeweiligen technischen Projektpartnern besprechen. Die Umsetzung und Ausgestaltung der erhobenen Anforderungen wurden in Fokusgruppen-Workshops mit Patienten (2) adressiert und prototypisch implementiert. Bspw. sollte Patienten eine Übersicht über zu bearbeitende Fragebögen sowie deren Bearbeitungsfrist geboten werden, die nach vollständiger Beantwortung dem Behandler bereitzustellen sind. Die Gebrauchstauglichkeit und Nutzerfreundlichkeit der umgesetzten Anforderungen wurden durch Usability Tests mittels Aufgabenszenarien (Nielsen 1993) und durch Fragebögen zur Bewertung der Gebrauchstauglichkeit (Brooke 1996) und des Nutzungserlebnisses (Schrepp 2015) evaluiert.
Qualitätsorientierung
Eine weitere Gestaltungsdimension des avisierten Gesamtsystems adressierte die Fähigkeit, kontinuierliche Qualitätsinformationen für Behandelnde als auch Patienten bereitzuhalten. Der Betrachtung eines Pfadausschnittes wurde deshalb folgende Leitfrage zugrunde gelegt:
  • Welche Qualitätsinformationen sind entlang des Patientenpfades relevant und wie lässt sich die Qualität der Behandlung messen?
Zuerst wurden die allgemeinen Qualitätsziele des Qualitätsmanagements, um ein Kennzahlensystem erweitert. Die Kennzahlen in Form von Qualitätsindikatoren sollten unmittelbar mit den Informationen im Behandlungskontext in Verbindung stehen und bei der Umsetzung des Pfadausschnittes anfallen. Die Entwicklung der Qualitätsindikatoren orientierte sich an der erprobten Methodik für leitlinienbasierte Qualitätsindikatoren in der Onkologie (Leitlinienprogramm Onkologie 2021). Im ersten Schritt wurden bestehende Leitlinienempfehlungen sowie Fachliteratur hinsichtlich der Existenz eines spezifisch für Multiple Sklerose definierten Kernsatzes von Qualitätsindikatoren geprüft. Im Ergebnis ließ sich kein ausgewiesener Kernsatz identifizieren, jedoch war es möglich anhand von Behandlungsempfehlungen und -aussagen einen initialen Satz an Qualitätsindikatoren abzuleiten. Zur Validierung der Qualitätsindikatoren wurde ein Konsensprozess mit Fachexperten im Versorgungsumfeld der Multiplen Sklerose initiiert. Nach Zuordnung der abgeleiteten Qualitätsindikatoren zum jeweiligen Pfadausschnitt, war zu klären, wie die Qualitätsindikatoren zu formalisieren sind, welches der beteiligten Systeme in der Verantwortung bezüglich der Erhebung stand und welche Funktionen das betroffene System anbieten muss, um die Erfassung der jeweiligen Qualitätsindikatoren zu realisieren. Ebenso wurde zwischen allen Projektpartnern diskutiert, ob und mit welchem Informationsgehalt Patienten über die resultierenden Erkenntnisse eines erhobenen Qualitätsindikators über das Patientenportal informiert werden sollen.
Integrationsfähigkeit
Die Überführung des Patientenpfades in ein technisch integriertes Gesamtsystem war eine besondere Herausforderung. Bei der Betrachtung dieser Gestaltungsdimension lag folgende Leitfrage zugrunde:
  • Wie gelingt die Überführung des Patientenpfades vom Modell in ein lauffähiges integriertes Gesamtsystem?
Dabei sollten möglichst offene und etablierte Standards in den verschiedenen Entwicklungsphasen Anwendung finden, um ein möglichst flexibles, erweiterbares und skalierbares Gesamtsystem zu gestalten. Als Werkzeug zur Modellierung des Patientenpfades kam ein an die Bedürfnisse der Pfadmodellierung angepasstes Pfadmodellierungswerkzeug auf Basis der BPMN2 zum Einsatz. Damit lassen sich prozessbezogene Informationen und Informationsflüsse, die, in reduziertem Umfang, selbst für Novizen nachvollziehbar sind, modellieren. Trotz der Erweiterungsmöglichkeiten der BPMN ist eine Abbildung von domänenspezifischen Konzepten und deren logische Zusammenhänge nicht möglich, wodurch eine Integrationslücke entstand, die es im Weiteren zu adressieren galt.
Technologisch wurde auf den FHIR-Standard gesetzt, der sich in den letzten Jahren bemerkenswert schnell entwickelt hat und selbst bei international führenden Technologieunternehmen etabliert ist (Jindal 2019). Der Standard bietet die Möglichkeit Implementierungsleitfäden (IG) zu erstellen, mit dessen Hilfe sich Regeln zur Beschreibung, Einschränkung und Erweiterung von domänenspezifischen Konzepten auf Ressourcen, sogenannte FHIR-Profile, umsetzen lassen. Das Hinzuziehen von Code-Systemen (CodeSystems) sowie konkreter Ausprägungen in Form von Wertmengen (ValueSets) lassen sich Ressourcen semantisch anreichern. Damit wird auf struktureller, syntaktischer und semantischer Ebene Interoperabilität gewährleistet. Als Datenaustauschformat sieht der FHIR-Standard JSON oder XML vor. Das Pfadmodellierungswerkzeug bietet die Speicherung eines Pfadmodells im FHIR XML-Datenformat an, was über eine Transformation des serialisierten BPMN-Prozessmodells im XML-Datenformat, ermöglicht wird. Das Transformationsergebnis bildete die Grundlage zur Erstellung und Weiterentwicklung eines projektspezifischen FHIR IG3. Vor allem kommen dort die Ressourcen PlanDefinition, ActivityDefinition, Questionnaire und weitere definierende Ressourcen in Abhängigkeit vom betrachteten Pfadausschnitt zum Tragen. Im Zusammenhang mit der Systemarchitektur existiert ein dediziertes Repository für Patientenpfade, welches auf der Referenzimplementierung HAPI FHIR4 beruht und dem der projektspezifische FHIR IG zugrunde liegt. Somit wird nicht nur die projektspezifische Domäne durch ein maschinenverarbeitbares und menschenlesbares Artefakt beschrieben, sondern gleichzeitig der Repository-Zugriff mittels einer REST API sowie die Validierung ausgetauschter Inhalte. Darüber hinaus wurde über den FHIR IG Aspekte der gemeinsam mit den technischen Projektpartnern entworfenen nachrichtenorientierten Gesamtsystemarchitektur beschrieben.

3.3 Projektergebnis

Im Ergebnis wurde auf diese Weise ein Patientenportal geschaffen, welches sich gemeinsam mit einem spezifisch für die Multiple Sklerose-Versorgung weiterentwickelten Dokumentationssystem, das behandelnden Ärzten eine prozessorientierte Dokumentation auf Basis definierter Pfade erlaubt, zu einer Gesamtlösung in ein bestehende Versorgungslandschaft integriert (siehe Abb. 3).
Informationen zum Behandlungsstand und -qualität werden in einem gemeinsam auf FHIR-basierten Repository (siehe Abb. 3, Mitte) vorgehalten und mittels Patientenportal digital für den Patienten aufbereitet und vorgehalten. So wird dafür Sorge getragen, dass Patienten ihre eigene Behandlung besser nachvollziehen können und somit aktiver Bestandteil ihrer Versorgung insgesamt werden. Durch den Einsatz offener Standards ließ sich eine Gesamtlösung realisieren, die zwischen den beteiligten Systemen eine lose Kopplung ermöglichte und somit ein hohes Maß an Integrationsfähigkeit erreicht.

4 Implikationen für Generation Alpha Digital Health Innovationen

Die formulierten Implikationen zielen weniger klassische Gestaltungsempfehlungen, sondern adressieren die Herausforderungen, die zur Realisierung innovativer Werteversprechen und der Integration jener Lösungen in komplexe Zielumgebungen notwendig sind (siehe Abb. 4a). Die Implikationen können zudem dazu genutzt werden, Handlungsspielräume zur Gestaltung innovationsfreundlicher Ökosysteme zu spezifizieren.

4.1 Interoperabilität als Leitmotiv in Digitalen (Innovations‑) Ökosystemen

Retrospektiv betrachtet war eine der größten Herausforderungen die Sicherung von Interoperabilität bei der Verschränkung der Systeme sowohl aus organisatorischer als auch aus technologischer Sicht. Aus einem sozio-technischen Blickwinkel umfasst dies neben technischen Fragestellungen bzgl. semantischer und syntaktischer Interoperabilität auch Tätigkeiten, die auf ein reibungsloses „Interoperieren“ auf regulatorischer, vertraglicher, organisationaler und prozessualer Ebene zielen.
Vor diesem Hintergrund steht die Implikation, existierende Rahmenwerke von Interoperabilität aktiv und frühzeitig in die Gestaltung von Innovationsprozessen für Digital Health Innovationen der Generation Alpha einzubeziehen. In diesem Zusammenhang verändert sich die Rolle des Konstrukts „Interoperabilität“ von einer technologisch geprägten Anforderung hin zu einem Leitmotiv für die gesamte Entwicklung (siehe Abb. 4b) (Heitmann et al. 2020; Hodapp und Hanelt 2022), welche zunehmend auch durch den Gesetzgeber gefördert und gefordert wird (BMG 2021). Es wird daher empfohlen, auf generische (Liu et al. 2020; Hodapp und Hanelt 2022) oder domänenspezifische Frameworks (eHealth Network 2015; Thun 2021) zurückzugreifen.
Für vergleichbare Projekte eignet sich z. B. das Digital Health Innovation Interoperability Framework (DHIIF) (Scheplitz und Neubauer 2022). Abb. 5 verdeutlicht entlang der DHIIF-Ebenen die geschätzten Aufwände je Interoperabilitätsthema über den Verlauf der Fallstudie hinweg. Anhand dessen lassen sich die Bearbeitungsschwerpunkte und inhaltliche Zusammenhänge der Vorbereitungs- (1. Jahr) und Detaillierungsphase (2. und 3. Jahr) erkennen. Für zukünftige Digital Health Projekte kann das DHIIF zur Planung und Durchführung, insb. zur Schwerpunktsetzung, Zeitplanung und besseren Ressourcenverteilung hinzugezogen werden, um eine ausgeglichene Betrachtung sozio-technischer Interoperabilitätsfragen zu fördern (z. B. frühzeitigere Klärung von Policy-Fragen) sowie das Bewusstsein für Projektdynamiken (z. B. Veränderungen regulatorischer Bedingungen) zu erhöhen.

4.2 Projektkultur und Fähigkeiten der Projektumsetzung

Neben der Erkenntnis Interoperabilitätsbetrachtungen zentral in die Projektplanung und -umsetzung zu integrieren, wurden auch organisations-kulturelle Spannungen beobachtet (Hofstede Insights 2022), die zwischen unterschiedlichen Projektpartnern zu moderieren sind. Als Implikation empfehlen wir daher, organisations-kulturelle Aspekte explizit zu adressieren, frühzeitig eine gemeinsame Lesart des formulierten Projektziels festzulegen und eventuelle Zielkonflikte sowohl innerhalb des Konsortiums als auch innerhalb der Organisation eines jeden Projektpartners zu analysieren. Jene Zielkonflikte können dann durch eine frühzeitige Skizzierung des avisierten Business-Cases sowie die zugehörige Rollenverteilung der Konsortialpartner systematisch aufgelöst werden. Getragen werden diese Aufgaben von einer effektiven Zusammenarbeit, offener Kommunikation sowie hohe Transparenz an den inter-organisatorischen Grenzen als essentielle Prinzipien agiler, kooperativer Vorgehensmodelle. Zudem sollte ein im Konsortialverbund abgestimmtes Vorgehensmodell in regelmäßigen Abständen hinsichtlich seiner situativen Angemessenheit kritisch reflektiert und offenen mit allen Projektpartnern diskutiert werden. So kann die Erreichbarkeit definierter Projektziels geprüft und neu entstandene Zielkonflikte einzelner oder mehrerer Projektpartner frühzeitig berücksichtigt werden.

4.3 Patientenzentrierung – Nutzerzentriertes Design

Das Projekt bestätigt den Wert und die Notwendigkeit der regelhaften Involvierung von Patienten schon in Frühphasen der Projektumsetzung. Im Projekt wurde mit Hilfe von Fokusgruppen, Usability Tests und Patientenbefragungen Feedback sowohl zu entwickelten Funktionalitäten als auch zu Fragen der Gebrauchstauglichkeit und Bedienbarkeit zur Weiterentwicklung eingeholt. Somit wurde eine Reihe von ergonomischen Anforderungen identifiziert, die mit spezifischen Konditionen von MS-Patienten verbunden sind (z. B. eingeschränktes Sehvermögen). Gleichzeitig führte die explizite Diskussion der Patientenrolle bei der Entwicklung und Bereitstellung von Qualitätsinformationen und Gestaltung des Patientenpfades auch zur stärkeren Akzeptanz von Informationsbedürfnissen seitens der Behandelnden. Eine Herausforderung für die Zukunft bleibt es, ein standardisiertes Vorgehen sowie Instrumentarium für die systematische Patientenintegration zu entwickeln, einzusetzen und zu evaluieren. Dies würde Entwicklungs- und Entwurfsprozesse untersetzen und die Rationale hinter umgesetzten Funktionen und Verhalten von Lösungen zugänglich machen.

4.4 Standarddefinition zuerst, dann Implementierung

Eine letzte Implikation resultiert aus der Situation verteilter und heterogener Systemlandschaften, in der sich Innovationsprojekte im Gesundheitswesen häufig bewegen. Hierbei müssen weiterhin ein Mix aus strukturierten und unstrukturierten Informationen aus den klinischen Dokumentationssystemen, spezifische Fachanwendungen (z. B. Laborinformationssystemen) sowie Patientenanwendungen (z. B. Patientenportale) zusammengebracht werden. Bei der Integration in die bestehende Systemlandschaft sollte davon abgesehen werden, auf den Business-Case zugeschnittene (Insel‑) Lösungen und bilaterale Austauschkontexte durch Punkt-zu-Punkt-Verbindungen zu etablieren. Eine zu enge Kopplung der Systeme ist in verschiedener Hinsicht riskant, potenziell innovationshinderlich und somit wenig nachhaltig, z. B. bei Aktualisierungs- und Wartungsroutinen, bei strategischen Neuausrichtung der zugrundeliegender Software- bzw. Systemarchitekturparadigmen oder allgemein bei der dynamischen Anpassung von Informationssystemlandschaften an die sich permanent ändernden Bedingungen digitaler Ökosysteme. Ein Ansatzpunkt dem zu entgehen, ist dem Einigungsprozess und Festlegen auf offene Standards vor der Spezifikation und Implementierung von Lösungen und Schnittstellen Priorität einzuräumen. Wird beispielsweise auf HL7 FHIR als Standard beim Datenaustausch gesetzt, sollten zuerst national und international etablierte Implementation Guides recherchiert werden. Aufbauend darauf sollte ggf. ein eigener Implementation Guide mit domänenspezifischen Inhalten, die durch die beteiligten Systeme zu unterstützen sind, erarbeitet werden. Seine Veröffentlichung ermöglicht den unterschiedlichen Akteuren der Domäne aktiv an dessen Entwicklung teilzunehmen, verschiedene Perspektiven zu integrieren und somit die Akzeptanz und Verbreitung zu steigern.

5 Fazit

Klassische Versorgungsansätze in das Zeitalter digitaler Gesundheitsversorgung zu überführen, stellt die größte Herausforderung der Digitalisierung im Gesundheitswesen dar. Das gelingt nur, indem Lehren aus den Erkenntnissen vorheriger Generationen gezogen und diese dann mit den Gedanken und Visionen der nächsten Generation vereint werden. Die voranschreitende Vernetzung der Welt eröffnet neue Spielräume für Innovationen, die sich nicht nur auf alle Lebensbereiche, sondern auch auf jeden Einzelnen auswirken. So auch auf das Selbstverständnis zur eigenen Gesundheit. Welche Dimensionen und Gedanken bei diesem Umbruch zu einer neuen Generation von Digital Health Innovationen eine Rolle spielen sollten, hat dieser Beitrag strukturiert und exemplarisch durch eine Fallstudie in der Multiple Sklerose-Versorgung gezeigt. Typischerweise geht mit der fallstudienbasierten Forschung auch die Limitation des begrenzten Durchführungskontext als limitierender Faktor einher, sodass sich die Ergebnisse zunächst auf den Fallstudienkontext beziehen. Jedoch finden sich in vielen, insb. bei irreversiblen oder lang andauernden Erkrankungen vergleichbare Anforderungen wieder, sodass die Gültigkeit und Übertragbarkeit der Ergebnisse sehr wahrscheinlich sind, jedoch Gegenstand zukünftiger Forschungsvorhaben sein sollten.
Denn die vier vorgestellten Gestaltungsdimensionen – Pfadorientierung, Patientenorientierung und -einbeziehung, Qualitätsorientierung und Integrationsfähigkeit – bilden die Grundlage dafür, dass die Selbstverantwortung und das Selbstverständnis gegenüber der eigenen Gesundheit mit den Möglichkeiten und Entwicklung von Digital Health Innovationen vereint werden.
So ist eine Unterscheidung zwischen Leistungserbringenden und -empfangenden, die über abstrakte, teils intransparente Versorgungsprozesse miteinander verbunden sind, nicht mehr angemessen und zeitgemäß. Vielmehr sollte die Versorgung als ein Kontinuum begriffen werden, indem sich Behandelnde und Patienten gemeinsam bewegen und aufeinander wirken. Lückenlos gestaltete Patientenpfade und das gleichberechtigte Einbeziehen von Patienten in die eigene Gesundheitsversorgung als integralen Bestandteil der Qualitätssicherung aufzufassen, sollte der Maßstab zukünftiger Digital Health Innovationen darstellen und gleichzeitig Antrieb für die wirtschaftsinformatorische Forschung in dem Feld sein. Das kann jedoch nur erreicht werden, indem die Planung, Durchführung und Erprobung von Innovationsvorhaben agil, transparent und vor allem kollaborativ mit allen Beteiligten erfolgen. Interoperabilität muss nicht nur begriffen, sondern auch gelebt werden. Durch geschickten Einsatz von Interoperabilitätsframeworks wie dem DHIIF und Standards wie dem HL7 FHIR-Standard sowie dem nötigen Mut, Innovationen als Teil des Wandels zu begreifen, lässt sich dies erreichen und somit Digitalisierung als Teil einer neuen Art der Versorgung – einer Versorgung gemäß dem Zeitalter der Generation Alpha – begreifen.

Danksagung

Dieser Beitrag ist im Rahmen Projektes „QPATH4MS“ entstanden, welches durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE)- und dem Freistaat Sachsen gefördert wurde. Die Autoren danken allen Projektpartnern für ihre Einsatzbereitschaft, Unterstützung und die gute Zusammenarbeit.
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Footnotes
1
Ein Patient Reported Outcome (PRO) ist ein Behandlungsergebnis (z. B. Lebensqualität, Schmerzen, Funktionsfähigkeiten) und eine Patient Reported Experience (PRE) ist die Erfahrung zum Versorgungsprozess (z. B. Wahrnehmung der Kommunikation oder Unterstützung im Versorgungsprozess), die jeweils nicht von den Leistungserbringern, sondern vom Patienten selbst berichtet werden.
 
2
Zu finden unter: https://​bmpn.​io.
 
4
Zu finden unter: https://​hapifhir.​io.
 
Literature
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Metadata
Title
Die Generation Alpha der Digital Health Innovationen – Eine Fallstudie aus der Multiple Sklerose Versorgung
Authors
Hannes Schlieter
Marcel Susky
Peggy Richter
Emily Hickmann
Tim Scheplitz
Martin Burwitz
Tjalf Ziemssen
Publication date
03-11-2022
Publisher
Springer Fachmedien Wiesbaden
Published in
HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik / Issue 6/2022
Print ISSN: 1436-3011
Electronic ISSN: 2198-2775
DOI
https://doi.org/10.1365/s40702-022-00923-3

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