Gegen die Komplexität softwaredefinierter Fahrzeuge schickt BMWs Neue Klasse ein zonales Bordnetz, Re-Use und Standardbaukästen ins Rennen. Der OEM will die Transformation mit einem holistischen Ansatz meistern. Über die Strategie sowie den Spagat zwischen Differenzierung und Standardisierung sprach ATZelektronik mit Kai Barbehön von BMW.
ATZelektronik _ Die Automobilindustrie kämpft mit der Komplexität und den Kosten der SDV-Transformation. Wie schafft BMW die Balance zwischen Innovationsanspruch und Wirtschaftlichkeit?
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BARBEHÖN_Der Schlüssel liegt in jedem Fall in einer skalierbaren, robusten E/E-Architektur, die zum einen den maximalen Re-Use bislang in Software entwickelter Funktionalitäten ermöglicht, aber auch den Einsatz standardisierter Industriebaukästen. In der Neuen Klasse hat BMW den Schritt zu einer zonalen Architektur mit wenigen hochintegrierten Rechnerplattformen vollzogen und damit den Ansatz einer Domänenarchitektur, wie er in der Industrie bislang weit verbreitet war, hinter sich gelassen. Der gewählte Ansatz skaliert zudem von unteren Fahrzeugsegmenten wie dem Mini bis zur absoluten Premiumklasse, dem Siebener. Gepaart mit einer dedizierten Make-and-Buy-Strategie, die zum einen für sehr dynamische, aber auch für besonders wettbewerbsdifferenzierende Innovationen die Software-Eigenentwicklung vorsieht, versetzt er uns in die Lage, neue Funktionen in kurzen Zyklen und kosteneffizient über die ganze Flotte auszurollen.
Kai Barbehön begann - nach seinem Abschluss in Elektrotechnik im Jahr 1994 - seine Automotive-Karriere bei Bosch als System-, Software- und Funktionsentwickler. Seit 1998 ist er bei BMW und hatte dort verschiedene Führungspositionen inne. Seit 2017 ist er Hauptabteilungsleiter für Zentralsteuergeräte, physisches Bordnetz, Energieversorgung. Kai Barbehön gehört dem Wissenschaftlichen Beirat der ATZelektronik an.
Ihre SDV-Aktivitäten fußen auf den Erfahrungen aus zwei Jahrzehnten E/E-Entwicklung. Welche Lehren haben Sie für Ihre SDV-Strategie gezogen?
Eine der wichtigsten Erkenntnisse ist: Kontinuität und Konsequenz zahlen sich aus. Komponenten, die über mehrere Generationen eine tiefe Wertschöpfung erfahren haben, vor allem in der Software-Eigenentwicklung, erreichen eine besondere Qualität und einen besonderen Innovationsgrad durch hohe Reaktionsfähigkeit. Das heißt aber nicht, dass wir daraus abgeleitet haben, in allen E/E-Umfängen die Wertschöpfungstiefe zu maximieren.
SDVs ermöglichen differenzierende Kundenerlebnisse über den gesamten Fahrzeuglebenszyklus und unterstützt OTA-Updates, sagt Barbehön
Sie ist unerlässlich, um sich als Unternehmen nicht zu verzetteln. Konsequenz bedeutet nämlich auch, hinreichend Ressourcen und Kompetenzen in den Eigenentwicklungsfeldern bereitzustellen. Dies gelingt nicht über Nacht und erfordert ein klares Commitment der Unternehmensführung. Eine weitere Erkenntnis: Das Fokussieren auf wettbewerbsdifferenzierende Funktionen ist essenziell, gelingt über Generationen aber nur dann effizient, wenn die darunter liegenden Softwareplattformen mit gemanagt werden.
Die Transformation hin zu SDVs erfordert nicht nur technologische, sondern auch organisatorische Veränderungen. Großen Organisationen wird oft die Dynamik abgesprochen, damit umzugehen.
Für etablierte Organisationen ist es in der Tat schwer, in neuen Architekturgenerationen Verantwortung abzugeben, sei es Verantwortung für spezifische ECUs oder für Softwareanteile. Die Wertschöpfung der betroffenen Organisation ist aber oft weiterhin erforderlich, nur wird sie zugunsten der Architekturoptimierung mit möglicherweise adaptierten Schnittstellen auf anderen Integrationsplattformen zu erbringen sein. Wir haben in diesem Fall gute Erfahrungen mit organisationsübergreifenden Projektteams gemacht, die das Ergebnis und nicht die Organisationszugehörigkeit in den Vordergrund stellen.
Sie haben zu Beginn unseres Gesprächs die Bedeutung der Wiederverwendung und Skalierbarkeit von Software betont. Was bedeutet das für den Validierungsaufwand und die Sicherheitsrisiken?
Aus meiner Sicht ist die Wiederverwendung von Software genau der Schlüsselfaktor, um den Validierungsaufwand und mögliche Sicherheitsrisiken zu minimieren. Die Software, die schon in vielen Derivaten zum Einsatz kam, wurde nunmal in Millionen von Kilometern auf Herz und Nieren geprüft. Um den Re-Use auch bei Architekturveränderungen zu vereinfachen, darf die Bedeutung der Softwareplattform nicht unterschätzt werden. Gerade für unsere Integrationsplattformen - unsere High- Performance-Compute-Steuergeräte, die sozusagen unsere Superbrains darstellen - sind wir dazu übergegangen, auch die Softwareplattformen selbst zu verantworten, was sowohl die Stabilität der Interfaces zur hardwarenahen Software als auch die Performance des Gesamtsoftware-Stacks auf ein neues Level gebracht hat.
Mit der Neuen Klasse setzt BMW auf ein zonales Bordnetz, welche Vorteile sehen Sie darin?
Das ist ein wahrer Befreiungsschlag für die Komplexitätsreduktion des physischen Bordnetzes. Im heutigen Architekturansatz, beispielsweise mit mehr als 2500 Einzelleitungen allein im Kabelbaumhauptstrang unseres Siebeners, war es definitiv an die Grenze der Herstell-, Verbau- und Sourcebarkeit gelangt. Wenn man reflektiert, dass Einzelleitungen auch ein Abbild funktionaler Wirkketten darstellen, erkennt man schnell, dass neue Ansätze unabdingbar sind. Mit der Aufteilung des physischen Bordnetzes auf geometrische Fahrzeugzonen, über sogenannte Zonenintegrationsmodule separiert, ist es uns gelungen, die Komplexität der Zonenkabelbäume und auch des Hauptstrangs drastisch zu reduzieren. Mit der Vereinfachung der Zonenkabelsätze konnten wir zudem mehr als 20 Nebenleitungssätze für eine automatisierte Fertigung befähigen.
In der Energieversorgung verwenden Sie nun die eFuse-Technologie. Warum die Abkehr von den bewährten Schmelzsicherungen?
Der weiter steigende Automatisierungsgrad bei den Fahrfunktionen, X-by-Wire-Angebote, aber auch das zunehmende Fahrzeuggewicht erfordern eine immer höhere Verfügbarkeit sicherer Energieversorgung. Das mündet in Integritätsanforderungen an die Energiebereitstellung, die mit klassischen Schmelzsicherungen allein nur noch schwierig realisierbar sind. Wir haben erkannt, dass der Einsatz von eFuses, also elektronischen Sicherungen auf der Basis intelligenter Halbleiterschalter, ein enormes Potenzial eröffnet. Diese Technologie stellt nicht nur eine hohe Integrität der Versorgung sicher, eFuses erschließen auch die Möglichkeit eines völlig neuartigen Energiemanagements.
Der Einsatz von eFuses eröffnet ein enormes Potenzial, meint Barbehön (links): von hoher Integrität der Energieversorgung bis zu einem völlig neuartigen Energiemanagement
Jede eFuse repräsentiert nicht nur eine Sicherung, sondern auch einen Schalter. Nicht benötigte Teilnetze können je nach Betriebsmodus des Fahrzeugs vom Bordnetz getrennt werden, was einen erheblichen Beitrag zur Energieeffizienz des Gesamtfahrzeugs leistet. Dank der Messfähigkeit in jeder eFuse ist zudem ein Datenlogger in jedem Energiepfad kostenfrei inkludiert, was uns neue Chancen für die Diagnose und das Energiemanagement im Allgemeinen eröffnet. Durch die präzise Diagnose und schnelle Reaktion im Fehlerfall ist es zudem gelungen, die bei Schmelzsicherungen erforderlichen Toleranzvorhalte im Kabelbaum zurückzuführen, was in eine Gewichtsreduktion des Kabelbaums um 30 % gegenüber dem vergleichbaren Vorgänger mündete.
Proprietäre Entwicklungen sind oft hilfreich, um sich im Wettbewerb abzuheben. Wie balancieren Sie Differenzierung und Standardisierung?
Wir unterscheiden klar zwischen gezielten Kundenerlebnissen und infrastrukturellen Befähigern. Das, was der Kunde erlebt, also wie sich Funktionen für ihn anfühlen, völlig gleich, ob wir über die Antriebs- oder Fahrdynamik, über Infotainment, Connectivity oder den Fahrzeugzugang reden, muss seine BMW-Ausprägung bewahren und uns damit vom Wettbewerb differenzieren. Um uns Freiraum für diese Themen zu schaffen, engagieren wir uns aktiv in der Standardisierung, etwa bei der SDV Eclipse Foundation oder dem Car Connectivity Consortium. Das Aufsetzen auf Industriestandards trägt aber durch die breite Absicherung auch maßgeblich zu hohen Qualitätsstandards bei.
Welche Partnerschaften sind für Sie wichtig, um die Entwicklung von Sicherheitslösungen voranzutreiben?
Nehmen wir das Beispiel des digitalen Fahrzeugzugangs. In einem Vorentwicklungsprojekt haben wir zusammen mit einem namhaften Smartphone-Hersteller, einem Tier 1 sowie einem Halbleiterlieferanten einen Proof of Concept erarbeitet, der die Chancen der Funktechnologie UWB beim digitalen Zugang untersuchte. Die Ergebnisse der Lokalisierungsperformance und Manipulationssicherheit waren derartig ermutigend, dass es uns im Folgenden gelang, Keyplayer der Smartphone-Industrie zum Beitritt in das Car Connectivity Consortium zu bewegen, um die Serienentwicklung der erforderlichen Grundfunktionen des Digital Key komplett als Standard zu etablieren. Inzwischen ist der auf UWB basierende Smartphone Digital Key in der Automobilindustrie Hersteller- und Smartphone-Lieferantenübergreifend im Rollout angekommen.
Derartige Kooperationen erhöhen aber die Abhängigkeit von externen Partnern.
Wie schon erwähnt, legen wir den Fokus darauf, die Wertschöpfungstiefe in bedeutenden Funktionen hoch, sie also in eigener Verantwortung zu halten. Durch das bewusste Engagement in Kooperationen, die über nur eine Eins-zu-eins-Beziehung zu einem Einzelpartner hinausgehen, federn wir Risiken hinsichtlich der Abhängigkeit von einzelnen Partnern ab.
Die Wiederverwendung erprobter Software hilft, Sicherheitsrisiken und Validierungsaufwand gering zu halten, ist Barbehön überzeugt
Wie stellen Sie sicher, dass die Integration reibungslos funktioniert und den Qualitätsstandards entspricht?
Der Software-Integrationsprozess ist sicherlich einer der anspruchsvollsten und bestens definierten Abläufe in der E/E-Entwicklung bei BMW. Bereits zum Start des Projekts sind essenzielle Meilensteine mit erwarteten Funktionsreifegraden definiert. Gemäß Reifegradfortschritt wird die Testabdeckung gemessen, Fehlereingriffsgrenzen sind über die unterschiedlichen Projektphasen vereinbart, Burndown-Kurven stellen den phasenadäquaten Fortschritt sicher. Neue Steuergerätesoftware muss sich vor Abgabe standardisierten und automatisierten Eingangstests unterziehen, bevor sie die nächste Stufe der Integrationsleiter erklimmen darf. In der Spitze verzeichnen wir in unserer Continuous Integration Toolchain bis zu 140.000 Software-Builds am Tag. Das gesamte E/E-System wird zudem durch sogenannte Integrationsstufen systematisch synchronisiert in der Reife weiterentwickelt, sodass immer ein funktionaler, robuster Verbund für den nächsten Hub zur Verfügung steht. Nach erfolgreicher Systemabnahme einer Integrationsstufe sind Hunderte von Absicherungsfahrzeugen unterwegs. Der BMW-Software-Integrationsprozess, kurz SWIP, ist bei Zulieferern und hausintern geschätzt, aber auch gefürchtet.
Transformation bedeutet auch kulturelle Veränderung. Wie schafft BMW eine Kultur, die mit den technischen Innovationen Schritt hält?
Innovationen finden nicht nur bei Kundenfunktionen oder Technologien statt. Gerade in der E/E-Entwicklung hinterfragen wir oft, mit welchen veränderten Methoden, Tools und Prozessen wir Effizienz und Qualität steigern und der wachsenden Komplexität begegnen können. Dazu benchmarken wir auch Abläufe großer digitaler Player und verfolgen State-of-the-Art-Methoden der Softwareindustrie. Typischerweise werden neue Entwicklungsansätze in kleineren Pilotprojekten verprobt, um dann, mit interner Kompetenz gestützt, weiteren Projekten den Umstieg zu vereinfachen. Unterstützend bieten wir zu nahezu allen Themenstellungen ein enorm vielseitiges Trainings- und Schulungsprogramm an, denn lebenslanges Lernen zählt mit zu den Grundsätzen der BMW-Kultur. Uns ist aber auch bewusst, dass wir die Transformation auf dem hochdynamischen Weg zum SDV nicht ausschließlich allein stemmen können. Deshalb haben wir in weltweiten Joint Ventures mit Softwarefirmen wie BMW Archermind Techworks in Portugal, BaTW in China oder BMW Techworks India klare Akzente gesetzt, um unsere Softwarekompetenz zu stärken, aber auch Kapazitäten aufzustocken.
Was werden 2025 die Highlights aus BMW-Sicht sein?
Es wird viele geben. Nicht nur Neukunden dürfen sich auf Innovationen und weitere Qualitätsverbesserungen freuen. Mit unserem OTA-Software-Update profitieren auch viele Bestandskunden von kontinuierlichen Weiterentwicklungen bei softwaregestützten Funktionen. Zudem fiebern wir dem Serienanlauf des ersten Derivats der Neuen Klasse Ende des Jahres entgegen. Lassen Sie sich überraschen!
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