5.1 Einleitung
Digitale Technologien finden zunehmend Eingang in das Gesundheitswesen und bieten dort Anlass zu verschiedenen Neuerungen. „Das Digitale“ ist aber mehr als nur eine Technologie. Digitale Technologien sind in den vergangenen Jahren wie kaum etwas Anderes zur Projektionsfläche der Heilsversprechen von politischen und wirtschaftlichen Führungskräften avanciert.
1 „Digitalisierung“ ist insofern zunächst einmal einfach ein Begriff, der die „vorherrschende Ideologie“ (Bourdieu und Boltanski
1976) zum Ausdruck und zur Geltung bringt; eine Weltsicht, die in den vergangenen Jahren im Gesundheitssystem vor allem Prozesse der Vermarktlichung, Kommerzialisierung und Ökonomisierung befördert hat (vgl. Manzei und Schmiede
2014; Unschuld
2014).
Darüber, welche digitalen „Heilsversprechen“ in Gesundheitsberufen vorherrschen, ist jedoch noch wenig bekannt. Dies ist bemerkenswert, da die Gesundheitsfachpersonen es doch sind, die digitale Medien in der Gesundheitsversorgung letztlich anwenden. Digitalen Heilsversprechen in Gesundheitsberufen nachzugehen ist auch deshalb interessant, da der sich verschärfende Fachkräftemangel eher auf eine Erosion als eine Stärkung herkömmlicher Legitimitätsformen hinweist. Zudem wird in Forschungen über Gesundheitsberufe immer wieder von gegenüber der Ökonomisierung beharrenden Kräften berichtet (vgl. Dammayr und Graß
2017; Flecker et al.
2014).
Durch ihre Sensibilität für Unterschiede zwischen Rechtfertigungs- und Wertordnungen bietet die Soziologie der Konventionen einen vielversprechenden Ausgangspunkt, um die differenzielle symbolische Aufnahme digitaler Medien in Gesundheitsberufen zu analysieren. Rechtfertigungs- und Wertordnungen werden als Bestandteil von Weltsichten bzw. Konventionen betrachtet, die bestimmte Gruppen von Akteuren miteinander teilen und diese von anderen Akteursgruppen unterscheidet (vgl. Boltanski und Thévenot
2007; Diaz-Bone
2009; Eymard-Duvernay
1989). Dabei wird der Blick eröffnet für mögliche Divergenzen von Rechtfertigungsordnungen, die Gesundheitsfachpersonen in Bezugnahme auf „das Digitale“ bekräftigen.
Dieser Beitrag geht der Frage nach, welche Orientierungen in Gesundheitsberufen durch den Bezug auf „digitale Medien“ zum Ausdruck und zur Geltung gebracht werden und mit welchen sozialen Kräften diese Ausrichtungen zusammenhängen. Konkret wird erstens untersucht, mit welchen Rechtfertigungen angehende Gesundheitsfachpersonen digitale Technologien positiv identifizieren, welche Verbreitung diese genießen und inwiefern diesen Rechtfertigungen grundlegende Orientierungen zugrunde liegen. Zweitens analysiert der Beitrag den Zusammenhang dieser grundlegenden Orientierungen mit sozialstrukturellen Merkmalen, wie Alter, Geschlecht, Studiensituation und soziale Herkunft.
5.2 Digitale Heilsversprechen in Gesundheitsberufen
Die Art und Weise, wie Lohnabhängige ihre Arbeit auffassen, hat in den vergangenen Jahren zunehmend Beachtung gefunden. Die Abwendung der Forschung von manuellen FabrikarbeiterInnen, die Höherqualifikation (vgl. Gallie und White
1998; Rose
2005) sowie die verstärkten Versuche des Managements, seinen Einfluss auf die Subjektivität der Lohnabhängigen zu vergrößern (vgl. Baldry et al.
2007), haben das Interesse für die Weltsichten von Lohnabhängigen anwachsen lassen. Daraus hervorgegangen ist eine inzwischen umfangreiche, aber theoretisch heterogene Literatur über die Arbeitswahrnehmung von Lohnabhängigen, die vor allem die Bedeutung der Eigenheiten der jeweils infrage stehenden Sphären aufzeigt.
Ein wiederkehrendes Thema in Studien zu Arbeitsorientierungen im Gesundheitsbereich ist der Gegensatz zwischen „Effizienz“ und „Ökonomie“ einerseits und „Fürsorge“ andererseits (z. B. Becker et al.
2016; Kirpal
2004). Meist wird hervorgehoben, dass das Durchsetzen betriebswirtschaftlicher Imperative die Orientierung an „Fürsorge“ zunehmend infrage stellt (vgl. Marrs
2008; Manzeschke
2006; Borgetto
2006). Ein Strang der Diskussion betont dabei, wie die Lohnabhängigen ihre Orientierung am Patientenwohl trotz oder sogar gegen die Regeln der ökonomischen Rationalisierung bekräftigen (vgl. Böhlke et al.
2009; Bär
2011). Ein anderer Strang stellt vielmehr eine Erosion der Orientierung an der Fürsorge fest, die sich in einem Senken moralischer Standards und Vorenthalten medizinischer Leistungen (vgl. Braun et al.
2011) sowie einer Tolerierung betriebswirtschaftlicher Umstrukturierungen äußert (Dammayr und Graß
2017).
Der Gegensatz zwischen „Effizienz“/„Ökonomie“ und „Fürsorge“ weist aber auch darauf hin, dass die Arbeit im Gesundheitsbereich nicht nur aus einem medizinisch-sozialen Dienst an PatientInnen besteht, wie dies die herkömmliche Auffassung der Arbeit suggeriert, die typischerweise jede Art bürokratische Organisation, jeden „Betrieb“ (Weber
1922, S. 60) verleugnet bzw. die Vulgarität wirtschaftlicher Kalkulation ablehnt (vgl. Bourdieu
2014). Ebenso sehr wird die Arbeit im Gesundheitsbereich von institutionellen Voraussetzungen und Grenzen der Leistungserbringung bestimmt. Diesbezüglich kann – in Anlehnung an Diskussionen innerhalb der Sozialen Arbeit – von einem „Doppelmandat“ (Böhnisch und Lösch
1973) gesprochen werden. Der aus der Literatur über Gesundheitsberufe bekannte Begriff „divided loyalties“ (z. B. Bloche
1999; Pellegrino
1993) lässt dabei anklingen, dass zwischen den beiden Aufträgen „Bruchlinien der Rechtfertigung“ (Dammayr et al.
2015) bestehen.
Diese Arbeit interessiert sich für die Weltsichten von Gesundheitsfachpersonen. Sie schließt an verschiedenen Punkten an der konventionstheoretischen Debatte an (vgl. Diaz-Bone
2018): Erstens wird davon ausgegangen, dass in spezifischen Kontexten eine Pluralität von verschiedenen, auch widersprüchlichen Wert- und Rechtfertigungsordnungen koexistiert (vgl. Boltanski und Thévenot
2007). Luc Boltanski und Laurent Thévenot (
2007) haben die staatsbürgerliche, industrielle, marktförmige, häusliche, inspirierte und die Logik der öffentlichen Meinung erkannt, später wurde die projektförmige (Boltanski und Chiapello
2003) und die ökologische Logik (Lafaye und Thévenot
1993) identifiziert. Aus den bisherigen empirischen Auseinandersetzungen mit diesen Prinzipien geht hervor, dass im Gesundheitswesen die staatsbürgerlichen, marktförmigen und industriellen Logiken im Vordergrund stehen, während den Rechtfertigungsformen der Inspiration, der öffentlichen Meinung, der Projektförmigkeit und der Ökologie eine eher nachgeordnete Bedeutung zukommt (vgl. Batifoulier und Gadreau
2006; Moursli und Cobbaut
2006).
2
Zweitens liegt der Fokus auf dem Symbolischen. Dabei wird auf der konventionentheoretischen Beobachtung aufgebaut, dass explizite Rechtfertigungsordnungen vor allem in Situationen des offenen Disputs auftreten (Diaz-Bone
2009). Die analysierten Äußerungen der Lohnabhängigen werden als Stellungnahmen in Auseinandersetzungen aufgefasst. Philippe Batifoulier und Kollegen haben darauf hingewiesen, dass die professionelle Ethik im Gesundheitswesen nicht nur eine wichtige Rolle bei der Koordination des Handelns von ÄrztInnen und PatientInnen ausübt, sondern auch eine symbolische Seite besitzt. Im Spiel sind dabei also auch Fragen der Anerkennung. Als „ethisch“ gilt nur dasjenige Verhalten, das von den beteiligten Akteuren als legitim anerkannt wird (Batifoulier et al.
2011).
Drittens knüpft diese Analyse an konventionentheoretische Arbeiten an, die zeigen, dass es staatliche Institutionen (Parlament, Gesundheitsbehörden etc.) sind, die für die vermehrte Neubewertung von Tätigkeiten im Gesundheitswesen seit Ende der 1970er Jahre durch marktförmige und industrielle Rechtfertigungsordnungen, aber auch die Zurückdrängung der herkömmlichen Medizinethik (wie sie z. B. im Hippokratischen Eid verankert ist) und die verstärkte Ausrichtung der Ärzteschaft auf Managementideale verantwortlich sind (vgl. Batifoulier und Gadreau
2006; Batifoulier et al.
2011; Moursli und Cobbaut
2006). Auch in dieser Arbeit wird der Staat als Inhaber des Monopols der legitimen symbolischen Gewalt konzipiert. Allerdings stehen hier weniger die staatlichen Institutionen im Zentrum als vielmehr die von diesen in Bildungsprozessen vermittelten und sanktionierten Wert- und Rechtfertigungsordnungen (zu den Rechtfertigungswelten in der Bildung, siehe Derouet
1989,
1992; Imdorf et al.
2019).
Der Referenzpunkt dieser Studie sind Gesundheitsberufe. Weiterhin gibt es wenig gesichertes Wissen, inwiefern die Angehörigen der Gesundheitsberufe selbst die neu in den öffentlichen Dienst eingeführten Wert- und Rechtfertigungsordnungen zu eigen machen. Berufs- und Beschäftigungsgruppen gehören nicht nur zu den wichtigsten Institutionen moderner Gesellschaften (vgl. Abbott
1988), sondern sind auch soziale Räume, in denen Unterschiede aufgrund von Eigenschaften wie z. B. Alter, Geschlecht, soziale und kulturelle Herkunft bestehen (z. B. Boltanski
1982). Als solche sind Berufsgruppen immer auch „Räume des Wettbewerbs und des Kampfes“ (Bourdieu und Wacquant
1992, S. 243) um symbolische und materielle Ressourcen (zu Einkommens- und Karriereunterschieden in der Krankenpflege, vgl. Pudney und Shields
2000). Dabei wird davon ausgegangen, dass diese Auseinandersetzungen nicht zuletzt über die Auffassungen vom Sinn und Zweck der Arbeit ausgetragen werden.
Dieser Beitrag steht ebenfalls im Dialog mit aktuellen Arbeiten, die zeigen, dass die Wahrnehmung der „Digitalisierung“ weniger von den „bisherigen Erfahrungen mit digitaler Technik“ (Kohlrausch
2018) als von Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Ausbildungsgrad, Berufsposition und Beschäftigungssektor geprägt ist (vgl. Kohlrausch
2018; Wörwag und Cloots
2018). Anders als in diesen Arbeiten ist der Fokus hier weniger auf Zusammenhänge zwischen einzelnen Aspekten der Wahrnehmung gerichtet, beispielsweise zwischen der Skepsis gegenüber digitalen Technologien einerseits und Statusängsten (vgl. Kohlrausch
2018) oder – im Fall von Gesundheitsfachpersonen – der Ablehnung von Dokumentationsaufgaben (vgl. Wörwag und Cloots
2018) andererseits. Vielmehr geht es in dieser Analyse um die Orientierungen, die mit „dem Digitalen“ und durch „das Digitale“ bekräftigt werden und rivalisierende Rechtfertigungsordnungen zum Ausdruck bringen.
Den politischen Kontext dieser Studie stellt die Schweiz dar. Hier wurden die Lohnabhängigen im Gesundheitssektor vor allem ab den 1990er Jahren vermehrt mit neuen Auffassungen der Rolle und der Legitimität des Staates konfrontiert (vgl. Ruoss et al.
2017).
3 Vor dem Hintergrund einer der größeren wirtschaftlichen Krisensituationen der Nachkriegszeit wurden die öffentlichen Dienste nach den Leitsätzen des „New Public Management“ reorganisiert. Die Aufgaben der Lohnabhängigen wurden zerstückelt und verstärkt nach betriebswirtschaftlichen Kriterien bewertet. Personalausgaben wurden gekürzt, die Lohnabhängigen unter Druck gesetzt und kostengünstigere Qualifikationsstufen eingeführt (vgl. Gemperle
2014). Darüber hinaus wurde die staatliche Aktivität immer mehr unter finanziellen Gesichtspunkten beurteilt (vgl. Plomb und Schöni
2005). Im Lichte dessen erstaunt es wenig, dass die nun ebenfalls von politischen und wirtschaftlichen Führungskräften vorangetriebene „Digitalisierung“ von einer Mehrheit von Lohnabhängigen im Gesundheitswesen vor allem mit mehr Effizienzdenken und Leistungsdruck in Verbindung gebracht wird (vgl. Wörwag und Cloots
2018).
Die empirische Grundlage dieses Beitrags sind angehende Gesundheitsfachpersonen. Ihre Wahrnehmung digitaler Technologien dürfte sich weniger an „Fürsorge“ orientieren als diejenige der ausgebildeten Berufsleute im Gesundheitssektor, da ihre erst vor wenigen Jahren geschaffenen Studienrichtungen im Geiste der neu vorherrschenden politischen Ökonomie der Gesundheitsversorgung stehen. Zudem ist von ihnen zu erwarten, dass sie aufgrund ihres Alters weniger Vorbehalte gegenüber digitalen Heilsversprechen bekunden als ihre im Beruf Tätigen älteren KollegInnen. Zugleich weisen angehende Gesundheitsfachpersonen ein ähnliches Referenzsystem auf wie ausgebildete Berufsleute im Gesundheitssektor (vgl. Trede und Schweri
2013). Die Analyse dürfte daher zumindest aussagekräftige Befunde zur Frage liefern, welche Grundorientierung in Gesundheitsberufen mit der Einführung digitaler Technologien eine Stärkung erfährt.
5.3 Methode und Operationalisierung
Dieser Beitrag stützt sich auf Daten aus einer Befragung von 805 angehenden Gesundheitsfachpersonen, die im Dezember 2018 durchgeführt wurde. Es handelt sich um Bachelor-Studierende in den ersten beiden Studienjahren der Ausbildungsgänge Pflege, Physiotherapie, Hebammen, Ergotherapie sowie Gesundheitsförderung und Prävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur. Der Fragebogen umfasst neben den soziodemografischen Angaben 19 Fragen zur Verwendung und zum Verhältnis zu digitalen Medien. Die Erhebung wurde mit dem online-Umfragetool „UNIPARK“ der Firma Questback realisiert. Die Bachelor-Studierenden wurden per E-Mail zur Teilnahme angefragt. Zusätzlich wurden sechs interdisziplinäre Lehrveranstaltungen genutzt, um die Studierenden zur Teilnahme einzuladen und ihnen Zeit zum Ausfüllen des Fragebogens zu bieten.
Die Studienpopulation umfasst alle zum Zeitpunkt der Umfrage (Dezember 2018) in den beiden ersten Studienjahren eingeschriebenen Studierenden (N = 805). Insgesamt beteiligten sich 373 Studierende an der Befragung. Auswertbar sind die Fragebogen von 369 Studierenden, womit die Ausschöpfungsquote bei 45,8 % liegt. Hinsichtlich der Merkmale Alter, Geschlecht und Vorbildung sind die StudienteilnehmerInnen im Wesentlichen mit der Grundgesamtheit vergleichbar. Leichte Abweichungen gegenüber der Grundgesamtheit sind jedoch bei der Studienrichtung und dem Studienjahr festzustellen (s. Tab.
5.1). 26,7 % der Befragten gaben an, einen Vater mit Universitätsabschluss zu haben, 73,3 % einen Vater ohne Universitätsabschluss.
Tab. 5.1
Merkmale der StudienteilnehmerInnen
n = 369 | [Grundgesamtheit N = 805; Rücklauf = 45,8 %] | |
Geschlecht | Weiblich (N = 730; 90,7 %) | 301 (92,6) |
Männlich (N = 75; 9,3 %) | 24 (7,4) |
Alter | M = 22,5; SD = 3,5; Md = 22; Range. 18–47 (GG: M = 22,7; SD = 3,3; Md = 22; Range. 18–47) | |
Vorbildung | Allgemeinbildende Ausbildung (N = 447; 56,2 %) | 172 (52,9) |
Berufsbildende Ausbildung (N = 348; 43,8 %) | 153 (47,1) |
Studienrichtung | Ergotherapie (N = 154; 19,1 %) | 82 (22,2) |
Gesundheitsförderung und Prävention (N = 78; 9,7 %) | 56 (15,2) |
Hebammen (N = 130; 16,1 %) | 43 (11,7) |
Pflege (N = 203; 25,2 %) | 113 (30,6) |
Physiotherapie (N = 240; 29,8 %) | 75 (20,3) |
Studienjahr | 1. Studienjahr (N = 422; 52,4 %) | 238 (64,5) |
2. Studienjahr (N = 383; 47,6 %) | 131 (35,5) |
Soziale Herkunft | Vater mit Universitätsabschluss | 85 (26,7) |
Vater ohne Universitätsabschluss | 233 (73,3) |
5.3.1 Operationalisierung
Ziel dieses Beitrags ist es zu untersuchen, welche Orientierungen in Gesundheitsberufen durch die Bezugnahme auf „das Digitale“ wie verbreitet sind und inwiefern sie mit sozialen Unterschieden zusammenhängen. Die empirischen Analysen beziehen sich auf die Frage, welche Aspekte ihrer Berufsarbeit angehende Gesundheitsfachpersonen positiv mit digitalen Medien in Verbindung bringen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Befragten durch die positive Bezugnahme auf digitale Medien Ansichten über den Sinn und Zweck ihrer Arbeit zum Ausdruck und zur Geltung bringen, die sie als legitim ansehen. Hierfür werden aus der Befragung die Antworten auf die folgende offene Frage verwendet: „Welche Vorteile werden digitale Medien Ihrer Ansicht nach in Ihrer späteren Berufstätigkeit haben?“
Zur Erfassung von Merkmalen, die den Orientierungen zugrunde liegen, werden als soziodemografische Merkmale das Geschlecht und das Alter in die Untersuchung einbezogen.
Ein weiterer Faktor ist die Studienrichtung. Zum einen ist davon auszugehen, dass die Studienrichtung verschiedene Ansichten prägen, zum anderen, dass der Studienwahl unterschiedliche berufliche Orientierungen zugrunde liegen. Es ist anzunehmen, dass ein Zusammenhang besteht zwischen der Studienrichtung und den Ansichten über die Digitalisierung.
Zudem wird das Studienjahr aufgenommen: 1. Studienjahr und 2. Studienjahr.
Da sich die Untersuchung auf berufsbezogene Fragen bezieht und in der schweizerischen Arbeitswelt mit dem Unterschied zwischen allgemeinbildenden und berufsbildenden Ausbildungsgängen verschiedene Differenzen einhergehen, wird auch der Umstand berücksichtigt, ob die Vorbildung auf Sekundarschulebene II, die den Zugang zum Fachhochschulstudium ermöglichte, berufsbildend oder allgemeinbildend war.
Die
soziale Herkunft ist ein weiterer Aspekt des Sozialprofils von Studierenden, der im Rahmen dieser Untersuchung einbezogen wird. Da die kulturelle Dimension der sozialen Herkunft im Fokus steht, lässt sich diese mit Bourdieu und Passeron (
1971) besonders an der elterlichen Bildung festmachen (vgl. De Graaf et al.
2000). Analog zu anderen Studien über die Schweiz (vgl. Falcon
2012) verwendeten wir dafür lediglich den wichtigsten Indikator, die väterliche Bildung, auch wenn der Einbezug der mütterlichen Bildung ein umfassenderes Bild ergeben würde (vgl. Meraviglia und Buis
2015): Vater mit Hochschulabschluss und Vater ohne Hochschulabschluss.
5.3.2 Methode
Die Auswertung der Antworten auf die offene Frage erfolgte nach den Prinzipien der Integrativen Inhaltsanalyse (vgl. Früh
2015). Das Kategorienschema wurde aus der Theorie abgeleitet und aus den Daten selbst gewonnen. Aus der Literatur zu Arbeitsorientierungen wurde der grundlegende und mit „Bruchlinien der Rechtfertigung“ (Dammayr et al.
2015) einhergehende Unterschied zwischen einer Orientierung an der Erbringung von Gesundheitsleistungen einerseits und einer Orientierung an den BenutzerInnen des Gesundheitssystems andererseits übernommen (vgl. Pellegrino
1993). Zudem wurde anhand der wiederholten Sichtung sämtlicher Antworten (N = 289) durch die beiden Erstautoren fünf klar unterscheidbare Motive identifiziert und definiert, die alle Antworten umfassen. Dabei konzentrierten wir uns auf die Erstantworten, da es die spontanste Reaktion ist und diese die eigenen Motive am besten wiederspiegelt. Diese fünf Motive lassen sich den erwähnten beiden grundsätzlichen Orientierungen zuordnen. Das daraus resultierende Kategorienschema umfasst zwei Hauptkategorien und fünf Subkategorien (s. Tab.
5.2).
Tab. 5.2
Kategorienschema zur Wahrnehmung der Vorteile digitaler Medien
Erbringung von Gesundheitsleistungen | Effizienteres Gesundheitswesen | Die Vorteile digitaler Medien werden mit einer effizienteren Gestaltung des Gesundheitswesens in Verbindung gebracht. Dies schließt auch die „Zeitersparnis“ ein | „Schnellere Informationsbeschaffung“, „automatisierte Prozesse“, „kostengünstig, alles beisammen“, „weniger Gesundheitskosten“ |
Verbesserung der interprofessionellen Zusammenarbeit | Die Vorteile digitaler Medien werden mit einer Verbesserung der interprofessionellen Zusammenarbeit (auch über das „elektronische Patientendossier“) assoziiert | „Organisation der Patientendaten für das ganze Team. Schnelle Verfügbarkeit und Erneuerung.“ |
Kompetentere Berufspraxis | Die Vorteile digitaler Medien werden mit einer kompetenteren Berufspraxis und erweiterten beruflichen Handlungsmöglichkeiten in Verbindung gebracht | „Ich kann mich informieren, auch wenn ich nicht das geeignete Buch zur Hand habe.“ |
BenutzerInnen des Gesundheitssystems | Selbstsorge von PatientInnen/KlientInnen/Frauen | Die Vorteile digitaler Medien werden damit assoziiert, dass PatientInnen besser für sich selbst sorgen können. Das schließt „informierteren PatientInnen“ und „erhöhte „Patientenautonomie“ ein | „Die Betroffenen müssen nicht immer zu den Fachpersonen, können sich somit selber informieren.“ |
Demokratisierung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung | Die Vorteile digitaler Medien werden mit der Demokratisierung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung in Verbindung gebracht | „Einfache Zugänglichkeit zu Informationen unabhängig von Schicht und Berufsalltag“ |
Neben deskriptiven Analysen zur Verbreitung von Ansichten über die Vorteile digitaler Medien in der späteren Berufsarbeit wurden Chi-Quadrat-Tests und Korrelationsanalysen durchgeführt, um zu ermitteln, inwiefern die durch die beiden Hauptkategorien erfasste Grundorientierung mit sozialen Eigenschaften zusammenhängt. Dabei ist die Grundorientierung eine dichotome Variable.
5.5 Diskussion
Erstens zeigen die Ergebnisse, dass 59 % der befragten angehenden Gesundheitsfachpersonen die Vorteile digitaler Medien mit der Dienstleistungserbringung assoziieren. Demgegenüber ist die Verbindung mit den BenutzerInnen des Gesundheitssystems bei nur gerade 41 % der Befragten festzustellen. Unter den Befragten scheint folglich ein Großteil die Vorteile der Verwendung digitaler Medien eher bei der Dienstleistungserbringung zu sehen als auf der PatientInnen-Seite. Dies ist bemerkenswert, da das herkömmliche Berufsethos dem Dienst an PatientInnen eine klar höhere Priorität einräumt als dem Dienst an der Institution. Dieser Befund könnte dadurch erklärt werden, dass Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitsbereich bisher tatsächlich viel stärker im Bereich der Dienstleistungserbringung bzw. im „Back-Office“-Bereich eingeführt wurden als im PatientInnen-Kontakt, wo „digitale“ Technologien erst heute zunehmend Anwendung finden. Dem könnte entgegengehalten werden, dass einzelne Technologien wie die Telemedizin, schon seit geraumer Zeit im PatientInnenkontakt zur Anwendung kommen. Ein weiterer Grund könnte darin bestehen, dass die Studierenden verhältnismäßig wenig mit digitalen Möglichkeiten zur Realisierung staatsbürgerlicher Logiken (wie Gerechtigkeit) vertraut sind.
Zweitens bringt die Analyse eine bemerkenswert umfassende positive Assoziation von digitalen Medien mit der Effizienzlogik zutage. Mehr als ein Drittel der befragten angehenden Gesundheitsfachpersonen verbindet die Vorteile neuer Informations- und Kommunikationstechnologien explizit mit der Vorstellung eines „effizienteren Gesundheitswesens“. Dazu gezählt werden müssen im Grunde auch die Antworten in der Subkategorie „Interprofessionelle Zusammenarbeit“, steht diese doch ebenfalls unter dem Zeichen der Effizienz (z. B. Rüegg-Stürm
2007).
4 Wird zudem bedacht, dass die Subkategorie „Selbstsorge von PatientInnen/KlientInnen/Frauen“ ebenfalls ein Produkt der Ökonomisierung des Gesundheitswesens darstellt (Ruoss
2018), so sind es insgesamt zwei Drittel der Befragten, die eine im Einklang mit der vorherrschenden Auslegung stehende Auffassung von digitalen Medien bekundet. Die Subkategorien „kompetentere Berufspraxis“ und „Demokratisierung“, die nicht (notwendigerweise) im Fahrwasser des politischen Mainstreams stehen, umfassen zusammen 34 % der Antworten.
Dieser Befund scheint vordergründig im Einklang mit der Studie von Sebastian Wörwag und Alexandra Cloots (
2018) zu stehen, die zeigt, dass eine Mehrheit der Lohnabhängigen im Gesundheitswesen digitale Medien vor allem mit mehr Effizienzdenken und Leistungsdruck assoziiert. Allerdings geht es in der vorliegenden Studie um die positive Identifikation mit digitalen Medien, während Wörwag und Cloots (
2018) davon berichten, dass die Lohnabhängigen im Gesundheitswesens der Digitalisierung am Arbeitsplatz überwiegend misstrauisch gegenüberstehen. Deutlich wird der optimistische Charakter der Bezugnahmen in der auffallenden Häufigkeit von offenkundig ökonomisch konnotierten Begriffen wie „Kosten“ (8 Nennungen), „effizient*“ (8), „sparen“ (4), „Prozess“ (2), „automatisiert“ (2) und „optimier*“ (2), aber vor allem „schnell“ (102) und „Zeit“ (28) – demgegenüber weniger eindeutig einer Grundorientierung zugeordnet werden können Begriffe wie „Patient*“ (66), „Wissen“ (28), „Klient*“ (18), „Mensch“ (18), „Austausch“ (20), „interprofessionell“ (12) und „Frau“ (11). All dies scheint auf die bemerkenswerte Tatsache hinzuweisen, dass die Effizienzlogik unter einem Großteil der befragten Studierenden einen Eigenwert genießt – oder zumindest nicht als inakzeptabel angesehen wird.
Aus Sicht der Économie des conventions bietet diese Analyse Einblick in die mengenmäßige Verbreitung der industriellen, marktförmigen und staatsbürgerlichen Rechtfertigungsformen, die in bisherigen Arbeiten zum Gesundheitsbereich im Zentrum standen (Batifoulier et al.
2011; Moursli und Cobbaut
2006). 59 % der befragten angehenden Gesundheitsfachpersonen beriefen sich im Zusammenhang mit digitalen Medien positiv auf eine effizientere Gestaltung des Gesundheitswesens oder eine erhöhte berufliche Leistungsfähigkeit und dadurch auf die industrielle Rechtfertigungsordnung (vgl. Eymard-Duvernay
1989). Demgegenüber brachten nur gerade 21 % der Befragten digitale Medien mit der marktförmigen Rechtfertigungsordnung und nur 20 % der Befragten diese mit der staatsbürgerlichen Rechtfertigung in Verbindung. Jenseits der Digitalisierungsthematik könnte dies auf allgemeine Haltungen in den gegenüber der Ärzteschaft subalternen Berufsgruppen hinweisen, in denen die Ökonomisierung staatsbürgerliche Logiken zurückdrängt und sich die Ökonomisierung eher in industriellen als in marktförmigen Rechtfertigungsordnungen niederschlägt.
Der Blick auf die sozialen Merkmale hat zutage gebracht, dass Zusammenhänge zwischen der Grundorientierung einerseits und der Studienrichtung andererseits bestehen. Die Studierenden bekunden entsprechend ihrer Studienrichtung im Mittel eine deutlich unterschiedliche Grundorientierung. Diese Unterschiede könnten durch die verschiedene Betroffenheit der mit den Studienrichtungen verbundenen Arbeitswelten von der Ökonomisierung bedingt sein. Dafür spricht u. a. die deutlich weniger starke Zustimmung für Subkategorien der Ökonomisierung bei den Studierenden der Studienrichtung Gesundheitsförderung und Prävention, der sich diesbezüglich deutlich vom Rest abhebt. Möglicherweise ist auch ein Zusammenhang mit der Akademisierung gegeben, jedenfalls ist eine Analogie zur Akademisierungsdynamik an der untersuchten Fachhochschule festzustellen.
5 Allerdings ist auch denkbar, dass die Studienwahl bereits das Resultat von Präferenzen darstellt, die nun in der Grundorientierung zum Ausdruck kommt.
In einem Zusammenhang mit der symbolischen Aneignung digitaler Medien steht auch die soziale Herkunft der Studierenden. Es besteht eine Korrelation zwischen Abkömmlingen von Vätern mit einem Hochschulabschluss und der Orientierung an der Dienstleistungserbringung. Dementsprechend orientieren sich die Kinder weniger gehobener Klassen im Schnitt stärker an den PatientInnen und ihren Bedürfnissen. Dies ist nicht nur bemerkenswert, da es sich bei der sozialen Herkunft um eine der aktuellen Studiensituation doch biografisch weit vorgelagerte Dimension handelt. Es ist auch beachtenswert, wenn wir bedenken, dass das an „Fürsorge“ orientierte herkömmliche Dienstethos im Gesundheitsbereich vor allem das Ethos der bürgerlichen Klassen war (für die Krankenpflege in der Schweiz: Fritschi
1990). Es dürfte darauf hinweisen, dass die symbolische Aufnahme digitaler Medien in Gesundheitsberufen eine „Polarisierung auf der Ebene von Bildung und kulturellem Kapital“ (Reckwitz
2017, S. 280) bekräftigt und legitimiert, und diese Tendenz mit fortschreitender Technisierung des Gesundheitswesens möglicherweise stärker zum Tragen kommt. Damit liefert diese Analyse empirische Evidenzen für die Frage, inwiefern die differenzielle symbolische Aneignung „des Digitalen“ durch Gesundheitsberufe mit der (Re-)Produktion von Ungleichheiten einhergeht (zum Geschlechterverhältnis, siehe Wajcman
2010).
In der Zusammenschau der in Verbindung mit der Wahrnehmung digitaler Medien stehenden sozialen Merkmale fällt auf, dass es die etablierten Kräfte in den Bereichen Studiensituation und soziale Herkunft sind, die dazu neigen, die Vorteile digitaler Medien mit der Erbringung von Gesundheitsleistungen (und nicht mit den PatientInnenbedürfnissen) zu assoziieren, und dass dies besonders in der Assoziation mit der „Effizienz“ zum Ausdruck und zur Geltung gebracht wird. Im Gegensatz dazu wird das vormals vorherrschende Dienstethos des „Helfens“ eher von dominierten Kräfte bekräftigt. Dies kann als Indiz dafür verstanden werden, dass die etablierten Kräfte in Gesundheitsberufen dazu tendieren, die digitalen Heilsversprechen der politischen und wirtschaftlichen Führungskräfte eher nicht infrage zu stellen. Es scheint auch anzuzeigen, dass die weitere Durchsetzung digitaler Medien unter gegebenen Bedingungen die Orientierung an institutionellen Logiken zulasten der Orientierung an Patientenbedürfnissen befördert.
Für die Diskussion über die Theorie der Konventionen brachte diese Untersuchung eine starke Überlappung der Grundorientierung in Verbindung mit der Digitalisierung und verschiedenen Rechtfertigungsordnungen zutage. Angehende Gesundheitsfachpersonen, die die Dienstleistungserbringungsperspektive hochhielten, stützten sich vor allem auf industrielle Rechtfertigungslogiken, während ihre Peers, die die Perspektive der BenutzerInnen betonten, auf staatsbürgerlichen und marktförmigen Rechtfertigungsordnungen rekurrierten. Dies scheint nicht nur eine bemerkenswert starke Verankerung der industriellen Rechtfertigungslogik in der Auffassung der Diensteistungserbringung bei Gesundheitsfachpersonen anzuzeigen, sondern auch auf die zentrale Rolle der PatientInnen bei der Durchsetzung der marktförmigen Rechtfertigungsordnung bei diesen hinzuweisen. Um zu gesichertem Wissen zu gelangen, wird bei beiden Themen jedoch weitere Forschung notwendig sein.
In weiteren Arbeiten scheint es ebenfalls lohnenswert, mehr über die Hintergründe der kritisch-reflexiven kognitiven Formate (Diaz-Bone
2018) der befragten Studierenden zu erfahren, die deren Bewertungen zugrunde liegen. Dabei könnte u. a. die offen gebliebene Frage geklärt werden, inwiefern sich die weitgehend jungen angehenden Gesundheitsfachpersonen, die doch wenigstens über eine mehrmonatige Arbeitserfahrung im Gesundheitswesen verfügen, eventuell im „Schnell-Arbeiten“ wiedererkennen können, zu dem die Beschäftigten vermehrt angehalten werden. Oder kommt in der starken Assoziation von Digitalisierung mit der „Effizienz“ eventuell der (gegenüber den ausgebildeten Gesundheitsfachpersonen) eher abstraktere Zugang angehender Gesundheitsfachpersonen zur Arbeitswelt zum Tragen?