5.2.1.1 Partikularinteressen
Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für die Steuerung und Gestaltung von Luftrettungssystemen können aus den Ergebnissen dieses Kostenmodells gewonnen werden, sofern dessen Prämissen angenommen werden. Um Handlungsempfehlungen zu erarbeiten, müssen besonders Wirkungsmechanismen und die Interessen verschiedener Stakeholdergruppen im Luftrettungssystem beachtet werden. Werden Spannungsfelder, die sich aus den Zielen und Partikularinteressen dieser Gruppen ergeben, nicht ausgesteuert und bestehen Zielkonflikte, droht eine ineffiziente Ausgestaltung von Luftrettungssystemen. Dies gilt auch für das deutsche Luftrettungssystem, das von verschiedenen Stellen für die praktizierten Planungs- und Finanzierungsmechanismen kritisiert wurde.
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Dabei ist die Schnittmenge aller Interessensgruppen der notfallmedizinischen Versorgung und der Luftrettung, dass bestehende Kapazitäten für die Aufgabenerfüllung ausgenutzt werden sollen. Die Art und Weise der angestrebten Ressourcennutzung jedoch hängt von den jeweiligen Partikularinteressen ab, deren Fokus und Zielvorstellung sich auf unterschiedlichen Ebenen bewegt. Wesentliche Stakeholdergruppen der deutschen Luftrettung sind die notfallmedizinischen Akteure, politische Vertreter auf kommunaler und föderaler Ebene, Patienten und ihre Versicherungen sowie die Betreiberorganisationen. Um Zielkonflikte für die effiziente Gestaltung von Luftrettungssystemen verstehen und aussteuern zu können, werden folgend die Partikularinteressen der verschiedenen Stakeholdergruppen gegenübergestellt. Die Schlussfolgerungen dieser Partikularinteressen und Zielkonflikte werden aus den grundlegenden Erkenntnissen von der Beschreibung von Luftrettungssystemen des zweiten Abschnitts dieser Arbeit gezogen.
Notfallmedizin
Die notfallmedizinische Versorgung entwickelt sich mit dem medizinischen Fortschritt. Sie befriedigt den Versorgungsbedarf der Patienten und setzt im Zuge dessen rahmengebende Ansprüche, die von den Ländern umgesetzt werden.
30 In deren Rettungsdienstgesetzen werden Luftrettungsmittel als Ergänzung zur Bodenrettung geregelt. Somit lässt sich rückschließen, dass die Notfallmedizin bisher keine Ansprüche erhebt, das gesamte Einsatzaufkommen grundsätzlich luftgestützt versorgen zu wollen, bzw. diese als Versorgungsanforderung an politische Entscheidungsträger heranträgt.
Ein Paradigmenwechsel könnte eine allgemeine Ausweitung der Luftrettungsleistungen verlangen. Jedoch weist der Status Quo darauf hin, dass die Hubschrauber vor allem für besonders gefährdete Patienten vorgehalten werden, oder um zeitliche Vorgaben einzuhalten. Damit ist es im Interesse der notfallmedizinischen Akteure, Dispositionskriterien von Luftrettungsmitteln so zu steuern oder zu beeinflussen, dass Kapazitäten sparsam eingesetzt und Einsatzduplizitäten verhindert werden. Duplizitäten würden demnach auf die Fehlallokation verfügbarer Ressourcen hinweisen, wenn Hubschrauber nicht dem schwerer verletzten Patienten zur Verfügung stünden.
Darüber hinaus droht ein hohes Einsatzaufkommen in Verbindung mit freizügigem Dispositionsverhalten die Exposition des medizinischen Personals zu lebensbedrohlichen Einsätzen zu verringern. Dies weist auf einen geringeren Trainingsstand hin, der die Aufgabe der Luftrettung, besonders schwere Notfälle zu versorgen und damit die Versorgungsqualität zu erhöhen, erschweren kann. Aus Sicht der notfallmedizinischen Akteure ist eine zu hohe Bindung der Luftrettungsmittel somit zu vermeiden.
Neben dem praktischen notfallmedizinischen Nutzen der Luftrettung stellen die Hubschrauber ein prestigeträchtiges Rettungsmittel dar. Sie sind zumeist an Krankenhäusern als Zielort der notfallmedizinischen Versorgung stationiert und werden von diesen ärztlich besetzt. Damit erscheint es im Interesse der stationären Einrichtungen, von der Außenwirkung der Luftrettungsmittel zu profitieren und auch für die Personalgewinnung für sich zu nutzen.
Patienten
Interessen von potenziellen und tatsächlichen Patienten gehen in ihren Stellvertretern, den Sozialversicherungen sowie der politischen Vertretung auf. Allen Patienten liegt implizit zu Grunde, dass ihre Zielkonzeption eine möglichst gute und sichere Gesundheitsversorgung, das bestmögliche Outcome im Zuge von Notfällen und eine Bewahrung der Lebensqualität als besonders wichtig einschätzt. Für alle Einwohner und potenziellen Patienten ist die schnelle Verfügbarkeit von notfallmedizinischer Versorgung wesentlich. Im Notfall wäre ihre Zahlungsbereitschaft für Luftrettungsleistungen sehr hoch ausgeprägt, wenngleich diese Zahlungen von den Krankenversicherungen übernommen werden.
31 Aus dem individuellen Sicherheitsprinzip, in Verbindung mit möglicherweise geringem Kenntnisstand, kann geschlussfolgert werden, dass gemäß subjektiver Präferenzen das schnellere und mutmaßlich bessere Luftrettungsmittel dem Transport am Boden vorgezogen wird. Diese Haltung wird, wie nachfolgend dargestellt, verstärkt durch die Suggestion anderer Akteure, darunter die politischen Vertreter sowie die Luftrettungsorganisationen, dass besonders die Luftrettung die Qualität der Notfallversorgung sicherstellt.
Politische Akteure
Im deutschen Luftrettungssystem liegt die Planungs- und Organisationskompetenz bei den Bundesländern. Als Kostenträger nehmen Sie ihre Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge wahr. Rahmengebend für die Organisation der notfallmedizinischen Versorgung durch die Länder sind medizinische Anforderungen, die in gesetzlichen Zielvorgaben, bspw. durch die Hilfsfrist, umgesetzt werden.
32 Innerhalb dieser wird in Deutschland die Luftrettung ergänzend zur Bodenrettung eingesetzt und hilft unter anderem dabei, die gesetzlichen Hilfsfristen des Rettungsdienstes einzuhalten. Damit ist es allgemein im Interesse der Bundesländer, Luftrettungsmittel so zu stationieren, dass bestehende Rettungsdienststrukturen entsprechend des Ziels der Daseinsvorsorge ergänzt und verbessert werden. Die rechtlich festgelegte Kostenträgerschaft müsste auch zu einem Interesse an einer kostensparenden Gestaltung der Luftrettung bei den Ländern, mit einer versorgungsgerechten Standortpolitik und günstig vorgehaltener Infrastruktur, führen.
Obwohl dieser Finanzierungsanteil der Länder, wie gezeigt, verglichen mit den Vollkosten des Luftrettungsbetriebes eher gering ist, stellt er dennoch eine Belastung der Länderhaushalte dar. Deshalb könnte es im Sinne der Bundesländer sein, Hubschrauber außerhalb der öffentlichen Luftrettung subsidiär einzusetzen. Wenn dann die Leistungsvergütung durch die Krankenkassen erfolgt, und Infrastruktur nicht öffentlich vorgehalten werden muss, verschiebt sich die Finanzierung vollständig auf die Kassen.
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Die allein politische Planungs- und Entscheidungskompetenz ist auch den vertretenen Bürgern und potenziellen Patienten zugerichtet. So werden Luftrettungsmittel mitunter auch auf kommunaler Ebene im Wahlkampf als Garant für eine sichere Gesundheitsversorgung eingesetzt.
34 Damit kommt der Luftrettung ein Prestigeeffekt zu. Gleichzeitig erscheint ein bereits im Rettungsdienstbereich stationiertes Luftrettungsmittel für die Landkreise als Möglichkeit, die Einhaltung von Hilfsfristen mit zu gewährleisten.
35 Somit ist es im Sinne kommunaler Rettungsdienste, einmal gewonnene Luftrettungsstandorte nicht wieder abzugeben, was die Neuplanung bestehender Standorte erschwert.
Auf der anderen Seite stellen auch Bürgergruppen Ansprüche an ihre politischen Vertreter, bspw. in Form von Bürgerinitiativen, um in der Planung von Luftrettungsstandorten mehr berücksichtigt zu werden.
36 Damit erweitert sich das Feld auszugleichender Interessen und Ziele, die auf politischer Ebene in die Gestaltung von Luftrettungssystemen eingehen müssen. Sie erhöhen auch die Komplexität der politischen Zielkonzeption zu einem Grad, der inkonsistente und ineffiziente Entscheidungen begünstigt.
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Versicherungen
Unter den Sozialversicherungen vertreten die Krankenkassen die gesundheitlichen Ansprüche ihrer Versicherten und möglichen Patienten. Sie sind maßgeblich in die Finanzierung von Luftrettungsleistungen eingebunden, indem sie über die Benutzungsentgelte alle Kosten des laufenden Betriebes zahlen. Dafür müssen sie mit knappen verfügbaren Ressourcen aus den Versicherungsbeiträgen wirtschaften.
Als de facto wesentlicher Kostenträger im deutschen Luftrettungssystem unterliegen die Krankenkassen deutlich stärker ökonomischen Interessen als die de jure kostentragenden, jedoch tatsächlich weniger belasteten Bundesländer. Diese übertragen ihre Finanzierungsaufgabe zunehmend auf die Kassenverbände, räumen ihnen jedoch keine Entscheidungsbefugnisse, sondern nur Beratungsfunktionen in Gestaltungsprozessen ein.
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Einerseits muss den kostentragenden und direkt an der Luftrettung beteiligten Krankenkassen daran gelegen sein, die gesundheitlichen Outcomes von Patienten möglichst positiv zu beeinflussen, indem die Luftrettung möglichst häufig zur Verfügung gestellt wird. Dies setzt voraus, dass das gesundheitliche Outcome von Patienten bei Versorgung durch die Luftrettung gegenüber anderen Alternativen besser ist. Allerdings profitieren auch die weiteren an Krankheitsfällen beteiligten Versicherungen von schnell verfügbarer Versorgung, wenn durch die medizinische Leistung dem Patienten der schnelle Wiedereintritt ins Erwerbsleben ermöglicht wird. Folgekosten etwa durch Erwerbsminderungsrenten oder Pflegebedürftigkeit können so vermieden werden.
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Andererseits müssen die Krankenversicherungen abwägen, wie hoch der Grad der Rettungsmittelauslastung aus eigener Perspektive sein darf. Zwar steigt mit hohem Einsatzaufkommen die Summe der Benutzungsentgelte. Jedoch sinken die durchschnittlichen Kosten einer Versorgung und somit auch die fallspezifischen Krankheitskosten, sofern die Fixkostendegression in der Leistungsvergütung der Luftrettung abgebildet werden kann. Gleichzeitig steigt die Gefahr extrem ausreißender Krankheitskosten, wenn die Rettungsmittelauslastung zu Duplizitäten führt.
Damit kann der Dispositionsstrategie und der flächendeckenden Standortplanung innerhalb der Zielkonzeption der Krankenkassen eine hohe Gewichtung unterstellt werden. Im Gegensatz zu ihren Versicherungsmitgliedern treten sie verhaltener in der Frage der Dispositionshäufigkeit auf. Die Nutzenbewertung der Versorgungsalternativen aus Luft- oder Bodenrettung erfolgt gemäß dem zuvor beschriebenen Forschungsstand bisher nicht.
Betreiber
Die Luftrettungsorganisationen bekommen den Auftrag der öffentlichen Daseinsvorsorge von den Bundesländern übertragen. Auch mit ihren gemeinnützigen Organisationsformen unterliegen sie dem ökonomischen Prinzip und müssen kostendeckend operieren. Sie befinden sich im Wettbewerb um Luftrettungsstandorte, können ihre Leistungsmenge jedoch nicht unmittelbar beeinflussen.
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Somit beinhaltet die Zielkonzeption von Luftrettungsbetreibern einerseits, möglichst viele Luftrettungsstandorte zu betreiben, um Synergie- und Skaleneffekte bspw. beim Personaleinsatz oder den Wartungseinrichtungen zu erreichen. Andererseits impliziert die in Deutschland übliche einsatz- bzw. flugzeitabhängige Leistungsvergütung das Ziel, möglichst viele Einsätze mit langer abrechenbarer Einsatzdauer zu erbringen, um durch Senkung der Durchschnittskosten die Profitabilität zu steigern.
Darüber hinaus ist es auffällig, wie Luftrettungsorganisationen die Zahlen geleisteter Einsätze, sowie ihre zunehmende Entwicklung im Berichtswesen gegenüber ihren Förderern als Qualitäts- und Leistungsindikator verwenden.
41 Dies impliziert wiederum das Ziel sowie einen Leistungsdruck für Luftrettungsbetreiber, das Leistungsmengenwachstum als Erfolgsgröße zu erhalten.