Post-digitales Management ist das Management der Einbettung digitaler Datenverarbeitung in analoge Prozesse. Die Einleitung erläutert die Fragestellung des Bandes und führt in die einzelnen Beiträge ein. Im Mittelpunkt steht die Entdeckung der Organisation als soziales System, die ausgerechnet dann auffällt, wenn man glaubt, es nur noch mit technischen Fragestellungen zu tun zu haben. Digitalisierung, so stellt sich heraus, kann nur vom Betrieb im Betrieb vorgenommen werden und erfordert die versammelte Intelligenz von Belegschaft, Management und Geschäftsführung. Die Einleitung erläutert wesentliche Begriffe der folgenden Untersuchungen und unterstreicht einige Ergebnisse. Sie arbeitet mit der Unterscheidung von Mensch, Technik, Organisation und Gesellschaft, ohne zu wissen, wie lange diese Unterscheidung noch Gültigkeit haben wird.
1 Technik und Betrieb
Der Begriff des post-digitalen Managements verweist auf eine doppelte Komplikation. Man hat sich nach Kräften bemüht, Prozesse zu digitalisieren, um Daten zu gewinnen, die die Planung, Steuerung und Überwachung betrieblicher Abläufe erleichtern – und steht nun vor der Aufgabe, die digitalisierten Prozesse in die analogen Vorgänge im Betrieb, die Koordination zwischen den Arbeitskräften, die Kontrolle durch das Management, die Abstimmung mit Kunden und Lieferanten, einzupassen. Je mehr man darauf verzichtet hat, die Digitalisierung aus ihrer Wiedereinpassung in die analogen Abläufe im Betrieb heraus zu denken und zu betreiben, desto größer ist diese doppelte Komplikation. Das gilt erst recht, wenn man es mit verschiedenen, parallellaufenden Digitalisierungsvorhaben zu tun hat, die sich nicht zu der einen, umfassenden Digitalisierung fügen wollen. An allen Ecken und Enden lernt man etwas über den eigenen Betrieb, ohne über hinreichende Maßstäbe zu verfügen, die es erlauben, erwartete Effizienzgewinne in ein Verhältnis zum Aufwand einer Reorganisation zu setzen, die die meisten Betriebe auf dem falschen Fuß erwischt.
Denn das ist die Regel. Man digitalisiert, fasziniert durch die technischen Möglichkeiten und weil andere es ebenfalls tun. Und man steht vor dem Rätsel eines Betriebs, der nicht weiß, wie ihm geschieht. Die Antwort liegt in den meisten Fällen auf der Hand: Die Technik wird es „richten“, im doppelten Sinne des Wortes. Was funktioniert, funktioniert. Dem ist alles andere unterzuordnen.
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Unter dem Titel des postdigitalen Managements berichtet der vorliegende Band aus Erfahrungen in KMUs, die zeigen, dass es auch anders geht. Postdigitales Management heißt hier, den Zustand danach von Anfang an im Blick zu haben – oder zumindest nach den ersten Überraschungen genauer in den Blick zu nehmen. Der Betrieb führt die Regie, nicht die Technik. Das treibt die Anforderungen an die Technik in die Höhe, wird ihren Möglichkeiten aber umso besser gerecht. Von vorneherein, so könnte man sagen, lässt man die Daten nicht nur rechnen, sondern auch sprechen. Man weiß, was man von ihnen will, und hört ihnen deswegen zu.
Postdigitales Management verankert die digitalen Prozesse in der analogen Welt, denn dort geht es um jene Gewinne an Effizienz und Effektivität, um die es letztlich geht. Aber stimmt das? Geht es nicht auch um jene Faszination, die darin besteht, das eigene Wissen, die eigenen Verfahren und die eigenen Produkte in den elektronischen Medien abzubilden und weiterzuentwickeln, die heute zur Verfügung stehen? Geht es nicht auch darum, den Abstand zu verringern, der die Digitalisierung im Betrieb von der Digitalisierung des Alltags trennt? Ist man vom Smartphone nicht ungleich raffiniertere und reibungslosere Vernetzungen gewohnt als von den digitalen Geräten im Betrieb? Es hat auch etwas Beruhigendes, dass die Routinen im Betrieb auf bewährten Verfahren beruhen, und dennoch lässt Geschäftsführung, Management und Belegschaft die Unruhe nicht los, dass es noch besser geht.
2 Postdigitalisierung
Der Begriff des postdigitalen Managements behauptet nicht, dass wir es gegenwärtig mit einer Menschheitsepoche zu tun haben, die die Digitalisierung bereits hinter sich hat. Im Gegenteil, wir stecken mittendrin in der Epoche der Digitalisierung. Allerorten werden Algorithmen, Programme und Rechner genutzt, um aus analogen Vorgängen digitale Daten zu gewinnen und mithilfe dieser Daten Berechnungen durchzuführen, Verbindungen herzustellen und Bildschirme zu bespielen. Längst sind die Computer von den Rechenzentren auf die Schreibtische und in die Handflächen gewandert – und jeder weiß, dass das Smartphone im Internet der Dinge noch lange nicht das letzte Wort ist. Denn die eigentliche Herausforderung der Digitalisierung liegt in der Entstehung und Verknüpfung von Netzwerken, die die Daten untereinander austauschen, erneut berechnen und für eine Auswertung bereitstellen, die im Belieben von Algorithmen steht, an die der Datenproduzent noch nie gedacht hat.
Dennoch verdient unsere Epoche den Namen einer postdigitalen Epoche, weil sie zwei Kriterien genügt, die Nicholas Negroponte bereits 1998 aufgestellt hat. Erstens fällt das Digitale zunehmend nur noch auf, wenn es fehlt. Und zweitens liegt die maßgebende Herausforderung der Digitalisierung längst nicht mehr nur darin, aus analogen Vorgängen digitale Daten zu gewinnen, sondern zusätzlich darin, die so gewonnenen Daten an analoge Vorgänge auf eine Art und Weise zurückzuspielen, dass sie sinnvoll genutzt werden können. Im postdigitalen Management geht es um die Wiedereinbettung elektronischer Medien und ihrer Rechenresultate in jene analogen Vorgänge, die für die menschliche Wahrnehmung, das rationale und intuitive Verstehen und die betriebliche Kommunikation wesentlich sind. Digitale Hardware und Software trifft analoge Wetware, Groupware und Orgware, worauf Kybernetiker wie Klaus Fuchs-Kittowski schon in den 1970er Jahren aufmerksam gemacht haben (Fuchs-Kittowski et al. 1973; vgl. Fuchs-Kittowski 2021).
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Postdigitales Management – darin bestand die Herausforderung im Forschungsprojekt KILPaD („Kommunikation, Innovation und Lernen in der Produktionsorganisation unter Bedingungen agiler Digitalisierung“, BMBF/PTKA, Förderkennzeichen 02L18A520-6), aus dem hier berichtet wird – steht daher vor dem Problem, von den technischen Bedingungen der Digitalisierung ebenso viel zu verstehen wie von den Menschen im Betrieb, ihrer Wahrnehmung und ihrem Verstand, und von der Organisation, ihrem Aufbau und Ablauf. Schnell haben wir im Projekt gelernt, es mit diesem Verstehen nicht zu übertreiben. Manager sind keine Soziologen, keine Pädagogen und keine Psychologen, jeweils männlich, weiblich oder divers. Werker sind keine Akademiker und Geschäftsführer keine Theoretiker, männlich, weiblich oder divers. Aber alle haben es, gerade noch fasziniert von den technischen Möglichkeiten der Digitalisierung, mit Menschen und mit der Organisation zu tun. Postdigitales Management kann sich nicht restlos verwissenschaftlichen, um die komplexen Probleme zu verstehen und zu lösen, die sich hier stellen. Aber es kann pragmatische Lösungen suchen, die sich auch im Bereich von Mensch und Organisation daran orientieren, danach zu suchen, was funktioniert und was nicht funktioniert. Es muss nur lernen, dass das, was im Bereich von Mensch und Organisation funktioniert, nichts mit Kausalität zu tun hat. Technik ist wesentlich Verschaltung von Ursache und Wirkung. Mensch und Organisation jedoch benötigen ein Fingerspitzengefühl, kombiniert mit Überzeugung, Takt, Respekt und Macht, die dann, wenn sie funktionieren, etwas mit Erfahrung, mit Erprobung, mit wechselseitiger Hilfe, mit Rücksicht und mit Nachdruck zu tun haben, sich jedoch nie davon lösen können, abzuwarten, ob die Dinge, die keine sind, so laufen, wie man denkt.
Kommunikation und Lernen waren daher unser beiden wichtigsten Stichworte. Innovation, so unsere These, ist nur möglich, wenn Bedingungen eingelöst werden, die es dem Betrieb ermöglichen, über die geplanten Prozesse zu kommunizieren und in diesen Prozessen zu lernen. Lernen wurde zu unserem Mantra, zu unserem „heiligen Wort“, das nicht nur den Menschen mit allen seinen Fähigkeiten ernst nimmt, sondern zugleich die Frage aufwirft, wie alle anderen davon profitieren können, was der oder die Einzelne lernt. Wissenschaftlich gesehen sind beide Vorgänge, das Lernen und die Kommunikation des Lernens, große Rätsel, sodass wir als Theoretiker wie Praktiker in diesem Projekt immer in der Situation waren, zugleich zu viel und zu wenig zu wissen. Wir wussten, dass es auf Lernen und Kommunikation ankommt; und wir wussten, dass wir nicht genau wissen, was das in jeder einzelnen Situation heißt.
Wir haben uns deswegen an die ältesten Einsichten gehalten, zum Beispiel an die Einsicht, dass der Computer, eines der rätselhaftesten Objekte der Gegenwart, eben nicht nur als instrumentelles Werkzeug, ein neues Mittel zu bekannten Zwecken, sondern auch als evokatorisches Phänomen zu verstehen ist: Er ruft, worauf Sherry Turkle (1984; Leithäuser u. a. 1995) hingewiesen hat, Assoziationen, Hoffnungen und Befürchtungen hervor, die wenig mit der Technik, sehr viel jedoch mit biographischen Erfahrungen, betrieblichen Positionen und gesellschaftlichen Bildern zu tun haben. Postdigitales Management hat es immer auch mit einem Imaginären zu tun, das nicht nur wild ins Kraut schießt, sondern zugleich dabei hilft, eine Zukunft aufzurufen, die den Versuchen Sinn gibt, die man unternimmt, und das Scheitern auffängt, das dabei immer wieder auch unvermeidlich ist. Betriebe sind keine poetischen Veranstaltungen; doch gerade dann, wenn man verstehen müsste, was man nicht verstehen kann, spielen Bilder und Geschichten eine wichtige Rolle.
Oder das kleine Einmaleins der Kybernetik. Immer dann, wenn man nicht weiterweiß, sollte man Rückkopplungen einbauen: zwischen den Leuten, zwischen Kundschaft und Belegschaft, zwischen Geschäftsführung und Management, zwischen Menschen und Maschinen. Rückkopplungen beruhen auf wechselseitiger Kausalität, auch Kontrolle genannt (Beer 1959, 28 ff.; Vickers 1967). Sie dienen der Bewältigung von Störungen, und dies in doppelter Hinsicht: Sie nehmen Störungen wahr und sie gehen mit ihnen um. Anders könnte zwischen positiver und negativer Rückkopplung nicht unterschieden werden. Die positive Rückkopplung greift eine Störung auf und verwandelt sie in eine neue Gelegenheit; die negative Rückkopplung blockiert die Störung und sichert den erwarteten Ablauf. Wie jedes Management ist auch das postdigitale Management darauf angewiesen, die elementare Kunst zu beherrschen, positive Rückkopplung im Kontext von negativer Rückkopplung, und umgekehrt, einzurichten, zu überwachen und aus beidem zu lernen. Management ist damit selbst der wichtigste Rückkoppler. Sobald es in der Lage ist, seine Aufmerksamkeit zu adressieren, also die Technik vom Betrieb und den Menschen von der Maschine zu unterscheiden, kann es gar nicht vermeiden, einen Umgang mit Komplexität zu erlernen, der von der Wissenschaft abstrakt, aber nicht im Einzelfall beschrieben wird.
Oder Schnittstellen. Darauf lag in diesem Projekt der Fokus einer wechselseitigen Anregung von Theorie und Praxis. Ein weiteres Mantra, denn wissenschaftlich lag es auf der Hand, dass Digitalisierung es mit Schnittstellenanalyse und Postdigitalisierung mit Schnittstellengestaltung zu tun hat. Aber wussten wir, wie fruchtbar Frieder Nakes (2008) genauer Blick auf die beiden Seiten einer Schnittstelle sein würde, die Oberfläche und die Unterfläche? In der englischen Sprache funktioniert die Unterscheidung besser: Ein Interface besteht aus einem Subface und einem Surface. Aber auch im Deutschen ist es hilfreich, die durch die Programme des Rechners determinierte Unterfläche einer Schnittstelle von einer Oberfläche zu unterscheiden, die technisch eindeutig aus Ziffern, Buchstaben, Menüs, Buttons und Signalen besteht und doch für die menschliche Wahrnehmung und die betriebliche Kommunikation Spielräume einer offenen Interpretation bedeutet, so sehr man sich auch wünscht, dass sich Technik in Wahrnehmung und Kommunikation fortsetzen lässt. Genau das ist die Fantasie von „Industrie 4.0“: Mögen die Schnittstellen verschwinden und die Maschinen nahtlos ineinandergreifen. Vielleicht ist das dereinst der Fall, aber noch sind wir nicht so weit.
Auch ohne die Fantasien von „Industrie 4.0“ oder gar „Industrie 5.0“, dem Projekt einer kompletten Verwebung physikalisch-kybernetischer Prozesse (unter Ausschluss von Körper, Bewusstsein und Kommunikation), haben wir es bereits jetzt mit einer „telematischen Umarmung“ zu tun, wie dies der Künstler Roy Ascott (2003, S. 232 ff.) formuliert. In dieser Umarmung sind technische Innovationen, menschliche Reaktionen und soziale Bedingungen Teil eines Gesamtdatenwerks (die Analogie zum „Gesamtkunstwerk“ ist nicht weit), in dem unklar bleibt, wer wen umarmt und wer welche Impulse setzt. Ein postdigitales Management interveniert nicht an präzise benennbaren Stellen in lineare Abläufe, sondern ist Teil zirkulär aufgestellter Netzwerke, in dem jedes Element jedes andere Element anregen oder auch blockieren kann. Reflexion ist deswegen für diese Art des Managements unverzichtbar. Jederzeit kann man von Effekten eingeholt werden, die man selbst ausgelöst zu haben glaubt.
3 Systemik
Aus wissenschaftlicher Sicht war die Methodologie des Forschungsprojekts systemisch. Vor dem Hintergrund des fachlichen Wissens von Soziologie und Berufspädagogik verstand sich unsere Forschung als Begleitforschung. Von jeder Problemstellung und jeder Lösung, die im Zuge der Digitalisierungsvorhaben unserer Partnerfirmen gefunden wurden, wussten wir, dass sie im Betrieb gefunden werden müssen, nicht in der Wissenschaft. Unsere Mantren Kommunikation, Lernen und Schnittstelle lieferten nicht viel mehr als Blickrichtungen, Perspektiven. Unsere Unterscheidung zwischen Systemreferenzen wie Organismus (Wahrnehmung), Bewusstsein (Verstehen), Organisation (Kommunikation) und Technik (Kausalität, wenn sie funktioniert) warf Probleme auf, die niemand lösen konnte, und schuf doch zugleich den Möglichkeitenraum, in dem man sich bewegte. Manchmal hilft es zu wissen, dass man es mit einem Labyrinth zu tun hat.
Dennoch arbeiteten wir mit einer ersten Intuition, die wir im Logo des Projekts mitgeteilt, aber auch verrätselt haben (Abb. 1).
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Mithilfe der Notation des Formkalküls von George Spencer-Brown (1969), die es erlaubt, Unterscheidungen in ihren Zusammenhängen anzuschreiben, hatten wir die Hypothese formuliert, dass Kommunikation, Innovation und Lernen (K, I und L) einen eigenständigen Problemkomplex definieren, der von der Produktionsorganisation (P) zu unterscheiden ist, weil beide unabhängig voneinander variiert, aber nur abhängig voneinander betrieben werden können. Diese Leitunterscheidung zwischen K,I und L auf der einen Seite und P auf der anderen Seite steht ihrerseits im Kontext einer agilen Digitalisierung (aD), die an den Betrieb herangetragen wird, ohne dass er zunächst weiß, wie er dieser Aufgabenstellung gerecht werden kann. Alles Weitere ist daher der Gegenstand einer systemischen Wiedereinführung der Unterscheidung zwischen K,I und L auf der einen Seite und P auf der anderen Seite in die „Form“ der Unterscheidung auf der Seite von aD. Das heißt, Digitalisierungsvorhaben sind das Ergebnis der Erprobung von Kommunikation, Innovation und Lernen als Formen der Auseinandersetzung mit der Produktionsorganisation, um herauszufinden, wie Möglichkeiten der agilen Digitalisierung derart verstanden werden können, dass sie ihrerseits als Kontextdeterminanten in der Lage sind, zunächst die Produktionsorganisation und auf diesem Wege (genauer: in diesem Medium) auch die Modalitäten von Kommunikation, Innovation und Lernen neu zu prägen.
Das Logo bringt mithilfe des systemisch rekursiven Wiedereintritts zum Ausdruck, dass die Reflexionsleistungen der Digitalisierung in den Variablen Kommunikation, Innovation und Lernen zu suchen sind, während die Variablen Produktionsorganisation und agile Digitalisierung mehr oder minder objektiv vorliegende Gegebenheiten sind, die erst dann, wenn sie reflexiv begriffen werden, zu strategischen Variablen der Gestaltung des Betriebs werden können. Zum Ausdruck kommt damit außerdem, dass der Betrieb keine Maschine ist, die man über Input und Output steuern könnte, sondern ein soziales System, das nur über die selbstgestaltete Veränderung seiner Zustände verändert werden kann. Mit anderen Worten, der Betrieb kann nicht durch die Applikation technischer Vorkehrungen digitalisiert werden, er muss sich selbst digitalisieren. Eben das erfordert, erneut, postdigitales Management durch alle Beteiligten, durch Belegschaft, Management und Geschäftsführung.
Man erkennt ein systemisches Vorgehen auch daran, dass vertraute Begriffe unvertraute Bedeutung bekommen. Ohne falsche Bescheidenheit behaupten Systemtheoretiker, dass übliche abstrakte Begriffe innerhalb der Systemik ihren konkreten Gehalt wiedergewinnen, indem sie auf die komplexe Wirklichkeit bezogen werden. Wir haben in diesem Sinne mit Definitionen gearbeitet, die ebenso gewöhnungsbedürftig wie heuristisch fruchtbar sind.
So ist „Kommunikation“ nicht einfach Mitteilung und schon gar nicht absichtsvolle und gerichtete Mitteilung, sondern ein mehr oder minder überraschendes Ergebnis eines verbalen, gestischen und mimischen, aber auch schriftlichen und elektronischen Austauschs zwischen Menschen, in dem Mitteilungsabsicht und Information nicht immer zur Deckung kommen und das Verstehen höchst eigenwillig oft undurchschaubaren Wegen folgt.
„Schnittstellen“ sind keine Garanten der Verschaltung heterogener Einheiten, sondern Einrichtungen von Zonen der Begegnung, in denen sich mehr oder minder unheimliche Ereignisse abspielen können, die immer aufschlussreich, aber nicht immer hilfreich sind.
„Daten“ sind nicht das faktisch Gegebene, sondern das aufwendig Hergestellte, das selbst dann, wenn es scheinbar unwillkürlich entsteht und alle Merkmale des Objektiven erfüllt, aus jeder Beobachterperspektive andere Informationen enthält.
Eine „Organisation“ ist nicht einfach Mittel zum Zweck geschweige denn glückliche Einheit der Verfolgung einhellig gesetzter Ziele, sondern ein Produzent von Symbolen, die von allen Beteiligten anders gelesen werden und nur so die unwahrscheinliche Aufgabe erfüllen, physische und psychische, technische und soziale, kulturelle und natürliche Prozesse aufeinander zu beziehen. Die Organisation hält nur, weil sie laufend auseinanderfällt.
Eine „Innovation“ muss man wörtlich nehmen: Einführung von etwas Neuem, lat. innovare. Die aufschlussreiche Rückfrage lautet nicht, was man mit diesem Neuen erreichen kann, sondern wohinein es eingeführt wird. Zwangsläufig in etwas Altes, das es entweder abstößt oder kaum wiedererkennbar verwandelt. Das Alte ist jedoch das immer noch Bewährte, wenn auch aus neuer Perspektive vielleicht unzureichend Bewährte. Es lässt sich nicht sang- und klanglos abwerten.
„Lernen“ ist ein Vorgang, der nicht nur freudig begrüßt, was man bisher noch nicht weiß, sondern zwingt, durch Umlernen altes Wissen neuerlich auf den Prüfstand zu stellen, und außerdem unangenehm mit Leuten konfrontiert, die schon wissen, was man selbst nicht weiß. Nimmt man hinzu, dass man sich durch Lernen dem Unbekannten aussetzt und nicht damit rechnen kann, alsbald wieder in vertrautem Gelände zu landen, wird man sich nicht wundern, dass man nur im Notfall lernt.
„Agilität“ kennt man aus dem Hundetraining. Hunde sind dann „agil“, wenn es durch Training gelungen ist, sie mit allen Anzeichen freudiger Lebendigkeit über Hindernisse springen zu lassen, denen sie normalerweise aus dem Weg gehen würden. In Organisationen ist Agilität ein weiterer Höhepunkt im bereits seit Jahrzehnten laufenden Versuch, die Orientierung betrieblicher Abläufe aus der Vertikale („Silo“) in die Horizontale („Netzwerk“) zu bringen. Seither muss durch wechselseitige Abstimmung zwischen gleichrangigen Einheiten abgestimmt werden, was bislang durch eindeutige Ansagen schon deswegen nicht geregelt werden konnte, weil man gar nicht wusste, worum es geht.
„Management“ ist die Behauptung, durch Vorgaben gestalten, steuern und kontrollieren zu können, was nur durch Selbstorganisation gestaltet, gesteuert und kontrolliert werden kann. Die Paradoxie wird aufgelöst, indem die scheinbare Außenstellung des Managements gegenüber betrieblichen Prozessen als Teil des Betriebs verstanden wird. Seither profitiert das Management davon, dass es auf der betrieblichen Seite versteht, was es auf der Führungsseite nicht verstehen darf: Es nimmt an einer Selbstorganisation (des Betriebs) teil, die es zugunsten der Behauptung einer Fremdorganisation (durch die Führung) leugnet. So kann es nach zwei Seiten austeilen, nämlich sowohl die Führung als auch die Belegschaft korrigieren.
Definitionen dieser Art lassen sich nicht zuletzt unter den Oberbegriff der „Interaktionsarbeit“ bringen. „Interaktionsarbeit: Wirkungen und Gestaltung des technologischen Wandels“ (InWiGe) ist der Titel des Metaprojekts, dem das Projekt KILPaD im BMBF-Förderschwerpunkt „Zukunft der Arbeit: Arbeit an und mit Menschen“ zugeordnet war. Interaktionsarbeit ist für KILPaD die für manche Betriebe ungewohnte Arbeit an der Interaktion zwischen verschiedenen „Disziplinen“ des Betriebs, so vor allem Geschäftsführung, Management, Fachbelegschaft und Instandhaltung. Interaktionsarbeit rückt die Spezifika der Leistungen der einzelnen Disziplinen in das Blickfeld und dient somit der Selbstthematisierung und damit dem Gewinn einer Strategie- und Entwicklungsfähigkeit im Betrieb.
4 Kurzfassung der Erkenntnisse
Kann man die Ergebnisse unserer Forschungen in knappen Stichworten zusammenfassen? Wir können es zumindest versuchen:
Erstens verändert die Digitalisierung die Form der kommunikativen Vernetzung des Betriebs. An den Oberflächen digitaler Techniken kommt es zu einer veränderten Synchronisation zwischen den Operationen von Rechnern und Maschinen einerseits und der Wahrnehmung, dem Verstehen und der Kommunikation von Belegschaft, Management und Geschäftsführung in der Horizontalen (Wertschöpfungskette) und der Vertikalen (Hierarchie) ihrer Organisation andererseits. Dabei kennzeichnet die Digitalisierung, dass Problem und (digitale) Lösung nicht zur Deckung kommen. Vielmehr stößt man durch jede Lösung nicht nur auf neue Probleme, sondern kommt auch auf neue Ideen.
Die Digitalisierung ist zweitens dann intelligent, wenn sie zu einem Lernprozess der Auseinandersetzung mit der zu digitalisierenden analogen Praxis und den Problembeschreibungen und Lösungsvorstellungen in Belegschaft, Management und Geschäftsführung wird. Nur dann versorgt sich die Digitalisierung auch mit der Akzeptanz, die sie benötigt, um in den Entscheidungen der Anwender Berücksichtigung zu finden.
Wir haben es drittens mit einem endogenen Inkrementalismus der Entwicklung der Produktion durch unterschiedliche Formen der Digitalisierung zu tun. Wir beobachten in den KMU keinen disruptiven Wandel. Vielfach wird die Belegschaft nicht etwa „freigesetzt“, wie so oft befürchtet wird, sondern „freigespielt“ von manchen mitunter monotonen Aufgaben. Dies kann sowohl zu Dequalifizierungen wie auch zur Weiterentwicklung von Kompetenzen durch die Übernahme zusätzlicher Aufgaben oder neuer Übersichten über Prozesse führen. Ein wichtiger Aspekt der lernförderlichen Implementierung von Digitalisierung ist folglich die Gestaltung der entstehenden Freiräume.
Viertens ist die Digitalisierung im Rahmen eines postdigitalen Managements wesentlich eine Auseinandersetzung um die Souveränität des Betriebs. Effiziente (und auch weniger effiziente) Lösungen durch Dienstleister konkurrieren mit aufwendigeren, aber strategisch lehrreichen Eigenlösungen. In der Gemengelage von vorgefertigten und eigengefertigten Lösungen das richtige Maß der Modularisierung zu finden, ist eine nicht enden wollende Aufgabe des postdigitalen Managements.
Fünftens und nicht zuletzt sind Digitalisierungsvorhaben im Kontext von Technik und Betrieb eine exzellente Gelegenheit, betriebswirtschaftliche und arbeits- und industriesoziologische Erkenntnisse und Methoden durch soziologisch-systemtheoretische und berufspädagogische Fragestellungen und Vorgehensweisen zu ergänzen. Die Umstellung von schon bekannten Lösungen und altvertrauten Konfliktlinien auf die Beobachtung und Begleitung von neuen, technisch ebenso wie organisatorisch induzierten Problemstellungen ist nicht nur wissenschaftlich, sondern auch betrieblich fruchtbar. Mit der Digitalisierung verschieben sich im Verhältnis von Mensch, Maschine und Betrieb so viele Variablen, dass eine neue Komplexität sichtbar wird, deren Problemstellungen mehr an die handwerklichen Betriebe traditioneller Gesellschaft als an die mechanischen Fabriken des Industriezeitalters erinnern. Sich hier einen Überblick zu verschaffen und praktikable Problemstellungen zu finden, die weder überfordern noch hinter dem Potential des Möglichen zurückbleiben, ist eine Kunst, die ein aufeinander abgestimmtes Vorgehen von betrieblichem Experiment und akademischer Reflexion äußerst fruchtbar werden lässt. Betriebe mit einer lebendigen Kommunikation und Wissenschaften mit einem offenen Komplexitätsverständnis sind hier in einer vorteilhaften Lage, miteinander zu kooperieren.
Insgesamt bestätigen unsere Ergebnisse die Fruchtbarkeit eines analytischen Ansatzes, der Technik und Organisation unterscheidet und keine einseitige, sondern wechselseitige Determination unterstellt (Büchner 2018; Kette und Tacke 2021). So sehr mit der Digitalisierung der Traum fortgesetzt wird, die Organisation zu einer durch Information weitgehend automatisch gesteuerten Produktionsmaschine werden zu lassen, so sehr setzen sich immer wieder die Kontingenz individueller Entscheidungen und mit dieser Kontingenz die Ungewissheit und Kreativität dieser Entscheidungen durch (Wendt und Manhart 2020; Manhart und Wendt 2021). Technische Glanzleistungen sind damit nicht ausgeschlossen. Aber mindestens so viel Bewunderung verdient eine Organisation, die der Technik zur Seite gestellt wird und bei aller Faszination für das Gelingen von Automatisierung die Souveränität bewahrt, immer wieder neu über deren Reichweite zu entscheiden.
5 Die Beiträge dieses Sammelbands
Der vorliegende Sammelband kombiniert betrieblich-praktische und akademisch-theoretische Beiträge zum Verständnis der Aufgabenstellungen eines postdigitalen Managements. Die Beiträge beschreiben einen Spannungsbogen von einem Begriff der Digitalisierung als Kalkül über Studien zu Schnittstellen, die im Mittelpunkt sowohl unserer empirischen Erhebungen als auch der strategischen und praktischen Arbeit in den Betrieben standen, bis zu einigen Konsequenzen zum Verständnis von Daten, zur Aufgabe von Führung und zum spezifischen Beitrag der Soziologie. Einige Handreichungen aus unserer Forschungspraxis beschließen den Band.
Der Beitrag von Dirk Baecker zur Digitalisierung als Kalkül diskutiert einen allgemeinen Begriff der Digitalisierung, der es erlaubt, die Digitalisierung mithilfe elektronischer Medien und digitaler Programme als Sonderfall zu verstehen. Der allgemeine Fall betrifft jedes System, ob sozial, psychisch oder technisch, das mithilfe von Unterscheidungen aus einem analogen Kontinuum diskrete Einheiten gewinnt, diese berechnet, speichert und als Information weitergibt und schließlich demselben oder einem anderen analogen Kontinuum wieder zur Verfügung stellt. Wir sprechen von einem post-digitalen Management, wenn ein Digitalisierungsvorhaben den gesamten Vorgang von der Digitalisierung bis zur Wiedereinbettung digitaler Daten in analoge Verwendungen in den Blick nimmt. Der Beitrag zeigt, dass zu diesem Zweck neben technischen Systemen auch soziale und psychische Systeme berücksichtigt werden müssen.
Die Kapitel zur Untersuchung und Neugestaltung von Schnittstellen werden von einem Beitrag von Uwe Elsholz und Martina Thomas eröffnet, die einen Leitfaden zur lernförderlichen Gestaltung von Schnittstellen ausgearbeitet haben. Der Leitfaden unterstützt eine kompetenzsensible Digitalisierung in allen Phasen betrieblicher Vorhaben und hilft so Management, Beschäftigten und Unternehmen. Der Beitrag von Martina Thomas und Uwe Elsholz unter Mitarbeit von René Neumann und Tom Henning schaut sich genauer an, wie sich im Rahmen einer Neugestaltung von Schnittstellen Kompetenzprofile verändern, sei es zugunsten gesteigerter Ansprüche an die Kompetenz von Belegschaft und Management, sei es zugunsten verringerter Ansprüche. Dabei stellt sich heraus, dass die Schnittstellenneugestaltung tief in die betriebliche Organisation eingreift, sodass zur Klärung und Abfederung dieser Eingriffe die betrieblichen Voraussetzungen und die Art der Beteiligung geklärt werden müssen. Der Beitrag von Martina Thomas,Uwe Elsholz und Nader Tabbara setzt diese Fragestellung fort, indem gezeigt wird, wie durch Digitalisierungsvorhaben nicht nur Kompetenzprofile verändert werden, sondern sich auch Chancen zum Erwerb neuer Kompetenzen ergeben, sei es durch die Mitarbeit im Vorhaben selbst, sei es durch die anschließende Arbeitsplatzgestaltung. Carsten Meinhardt,Uwe Elsholz und Martina Thomas diskutieren in einem Interview anschließend die Frage, welche Arbeitsplätze es in Zukunft dank der Digitalisierung nicht mehr geben wird und von welcher Form des Arbeitsplatzes es abhängt, auf welche Arbeitsplätze verzichtet werden kann und auf welche nicht.
Marie Christin Kiesow diskutiert in ihrem Beitrag die besondere Rolle des Digital Consultant im Betrieb. Die Aufgabe des Digital Consultant kann darin bestehen, eine Plattform zur digitalen Prozessautomatisierung zur Verfügung zu stellen und zu moderieren, auf der Formblätter zur Modellierung analoger Prozess, aber auch Erfahrungen im Umgang mit Sonderfällen ausgetauscht werden. Eine besondere Herausforderung besteht darin, zwischen Anforderungen an eine Standardisierung einerseits und der Berücksichtigung von Sonderfällen andererseits einen Mittelweg zu finden, ohne der Gefahr zu erliegen, dank der Leidenschaft für komplizierte Lösungen in Endlosschleifen der Optimierung zu landen. Bisher zeige die Erfahrung, dass eine Bewertungsskala für Digitalisierungsvorhaben und deren Priorisierung alles andere als selbstverständlich ist. Die Ansichten von Belegschaft, Management und Geschäftsführung laufen hier vielfach auseinander.
Andreas Mathmann untersucht, wie ein ERP-System durch eine schnittstellenübergreifende Digitalisierung einen Auftragsabwicklungsprozess automatisieren kann. Auch hier besteht eine Herausforderung darin, den Prozess als solchen im Betrieb so zu kommunizieren, dass allen Teams deutlich ist, welche Daten sie erhalten können und welche sie liefern sollten. Ähnliche Probleme diskutiert das Gespräch zwischen Patrick Oelkers und Maximilian Locher. Ein Qualitätsmanagement durch ein Wiki bietet in jedem Betrieb Vorteile, doch müsse das Wiki zum einen intuitiv zugänglich sein und zum anderen markieren können, wann man es mit Grauzonen des Wissens zu tun bekomme, in denen das Gespräch unter den Mitarbeiter:innen die verlässlicheren Informationen biete. Wie kann ein Wiki auf seine eigenen Grenzen hinweisen? Und selbst dann, wenn ein gutes Wiki zur Begleitung eines Digitalisierungsvorhabens zur Verfügung stehe, brauche man mindestens drei Expertisen für die Begleitung dieses Vorhaben: eine Expertise für soziale Prozesse, eine Expertise für IT-Fragen und eine Expertise für betriebliche Prozesse.
Der Beitrag von Dirk Baecker zu Übungen im Formkalkül schaut sich zwei Fälle der Umsetzung von Digitalisierungsvorhaben genauer an und erprobt eine Methode, eben den Formkalkül, zur Darstellung und Reflexion komplexer, schnittstellenübergreifender Prozesse im Betrieb. Neben den Lehrvideos, die Maximilian Brücher animiert und denen er auch seine Stimme geliehen hat (auf YouTube, http://bit.ly/3Wc1Gam), war unser Podcast schnitt.stelle (auf wissenschaftspodcasts.de, http://bit.ly/3uIkX7C) der Überraschungserfolg des Projekts. Betrieben hat ihn Jakob Landzettel, der in seinem Beitrag berichtet, wie es ihm gelungen ist, seine eigenen Fragen an das Projekt in Fragen an Experten der betrieblichen und wissenschaftlichen Praxis umzumünzen und so allmählich zu verstehen, worauf er sich eingelassen hat. Daraus ist ein doppeltes Beispiel für gelungene Wissenschaftskommunikation geworden. Zum einen konnte sich jeder Interessent auf das Projekt einlassen und darüber informieren, mit welchen Fragestellungen wir uns beschäftigten. Und zum anderen gelang es so, dass wir auch innerhalb des Projekts einander ausführlicher zuhörten, als es auf unseren Videokonferenzen möglich war. Die Corona-Pandemie hat viele direkte Kontakte im Projekt unmöglich gemacht, wenn sie auch glücklicherweise die Arbeit weder in den Betrieben noch in der Wissenschaft allzu stark behindert hat. Aber unser Austausch hat darunter gelitten. So nutzten wir den Podcast und die Antworten auf Landzettels Fragen, um uns ausführlicher zu berichten, worum es uns ging und an welchen Stellen wir nicht weiterkamen.
Ein Zwischenergebnis, aber auch eine Voraussetzung bei der Betrachtung von Digitalisierungsvorhaben besteht darin, dass die Bestimmung, Berechnung und Kommunikation von Daten mehr Freiheitsgrade hat, als es sich Erwartungen an scheinbar objektive technische Vorgänge zuweilen träumen lassen. Daten sind nicht einfach gegeben, sondern das Ergebnis eines strategischen Designs, mit entsprechenden Chancen für die Gestaltung der Entscheidungsprozesse in einem Betrieb. Der Beitrag von Dirk Baecker zur strukturellen Kopplung durch Daten greift diese Fragestellung auf und zeigt, dass diese Phasen davon abhängig sind, in welchem Register Daten erhoben, aufbereitet und berechnet werden. Auch hier ergeben sich Gestaltungsoptionen, die im Gegensatz zu Erwartungen an eine technisch gegebene Objektivität davon abhängig sind, welche Sinnfragen mit welchen Daten gestellt und bearbeitet werden.
Je deutlicher es wird, dass Digitalisierungsvorhaben im Rahmen eines postdigitalen Managements das Ergebnis von strategischen Gestaltungsfragen sind, desto deutlicher wird auch, dass Digitalisierung eine Führungsaufgabe ist, die sowohl von der Geschäftsführung an der Spitze eines Unternehmens als auch vom Management der einzelnen Abteilungen zu erfüllen ist. Der Beitrag von Dirk Baecker,Michael Leske und Tania Lieckweg zur Aufgabe der Führung in Digitalisierungsprozessen stellt ein Modell vor, in dem die Variablen dargestellt werden können, die von der Führung bezüglich eines Digitalisierungsvorhaben zu berücksichtigen sind, und präsentiert einen Navigator, der einen Überblick schafft, indem er verschiedene Dimensionen der Führungsaufgabe unterscheidet. In einem weiteren Beitrag geht Tania Lieckweg der Frage nach, wie diese Führungsaufgabe durch eine Maßnahme der Organisationsentwicklung begleitet werden kann und wie sichergestellt werden kann, dass die Führung durch Geschichten, die sie erzählt, ihrerseits in Prozesse der Partizipation eingebettet und mit hinreichender Rückkopplung versehen werden kann. Schließlich stellt Maximilian Locher in diesem Zusammenhang die Frage, welche Rolle die Akzeptanzfrage in einem Gestaltungsprozess spielt, der ohne die Ausübung von Macht nicht gelingen kann.
Neben dem berufspädagogischen spielt der soziologische Blick in den Beiträgen dieses Bandes eine zentrale Rolle. Das abschließende Kapitel ist daher mit drei Beiträgen diesem soziologischen Blick gewidmet. Zunächst thematisiert Maximilian Locher die Unterscheidung zwischen analog-kontinuierlichen und digital-diskreten Vorgängen im Betrieb, um die Übersetzung und Rückübersetzung zwischen diesen beiden Typen von Vorgängen als den Einsatz zu identifizieren, um den es bei allen Digitalisierungsvorhaben geht. Diese Übersetzung und Rückübersetzung sind selbst nicht technisch zu leisten, sondern sozial. Sie erfordern Kommunikation, und zwar Kommunikation nicht im Sinne der Mitteilung der Absichten der Geschäftsführung an die mehr oder minder aufmerksame Belegschaft, sondern Kommunikation im Sinne eines Stoffs, aus dem der Betrieb insgesamt gestrickt ist: keine Einbahnstraße, sondern ein Prozess vielfacher Rückkopplungen. Aus soziologischer Sicht wird jedoch nicht nur deutlich, dass jeder mit jedem spricht und tendenziell jede Entscheidung jede andere affiziert, so dass ein Betrieb wie ein einziges Radarsystem für die Beobachtung der eigenen Belange verstanden werden kann, sondern dass es darüber hinaus darum geht, bestimmte Kommunikation gegenüber anderer Kommunikation zu priorisieren. Das geht nicht auf Kommando, sondern erfolgt selbst durch: Kommunikation. Der Betrieb priorisiert sich selbst. Und es stellt sich heraus, dass zwei und nur zwei Pole – wie in einer Ellipse – als Bedingungen einer erfolgreichen Digitalisierung gelten können: eine agile Kundenfokussierung auf der einen Seite und eine selbstbewussteFacharbeiterkultur auf der anderen Seite.
In einem weiteren Beitrag greift Dirk Baecker noch einmal das Plädoyer für eine Unterscheidung von Systemreferenzen auf, die für das KILPaD-Projekt maßgebend ist. „Wir zählen nicht nur bis eins“, ist eine Devise, die für die Ingenieur:in so wichtig ist wie für die Betriebswirt:in und die Soziolog:in: Wir zählen nicht nur bis zur Technik, nicht nur bis zum Betrieb und auch nicht nur bis zum sozialen System, sondern wir kombinieren diese Systemreferenzen in ihrer Unterschiedlichkeit, in ihrer Eigendynamik und den unterschiedlichen Geschwindigkeiten ihrer Operationen. Soziologie heißt hier, von einem Synchronisationsbedarf auszugehen, der nicht von selbst erfüllt wird, sondern der durch Gestaltung aufgegriffen und bedient werden muss. Man kann für jede Schnittstelle soziale und mentale beziehungsweise perzeptive Oberflächen von technischen Unterflächen unterscheiden und kann sich fragen, wie die Berechnungen der Programme mit der Wahrnehmung an Bildschirmen und der Kommunikation in Belegschaft, Management und Geschäftsführung harmonieren oder auseinanderfallen. Das wäre ein soziologischer Blick, der nicht vorschnell annimmt, man könne die Oberflächen durch die „automatischen“ Unterflächen beherrschen oder umgekehrt jede Unterfläche in den Dienst „menschlicher“ Oberflächen stellen. Das Spiel ist ein wechselseitiges; mal führt die eine Dynamik, mal die andere. Interessanterweise werden Notschalter, die die automatischen Prozesse auszuschalten erlauben, in dem Moment überflüssig, in dem man sie einrichtet. Sie stellen eine Kontrollmöglichkeit wieder her, die man nicht auszuüben braucht, wenn man sie ausüben kann.
Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, wie die gerne überschätzte, ebenso oft jedoch misstrauisch beobachtete Technik im Zusammenhang der Schnittstellengestaltung in der Produktionsorganisation zu bewerten ist. Die Soziologie gibt darüber Auskunft, dass Technik das Medium einer kausalen Kontrolle ist, die in komplexe gesellschaftliche Vorgänge eingebettet wird. Technik kann Komplexität nicht auf Kausalität reduzieren, aber sie kann einen Beitrag dazu leisten, Komplexität zugänglich zu machen. Deswegen ist die Frage der Einbettung entscheidend, die sich ihrerseits auf Wahrnehmung, Denken und Kommunikation verlässt. Die Gesellschaft lässt sich auf Technik ein, weil das, was funktioniert, schon deswegen überzeugend ist. Technik entlastet von Kommunikation und erspart den Konsens, hatte Niklas Luhmann festgehalten (1997, S. 517 ff.). Deswegen träumen manche den Traum einer vollständigen Technisierung. Man bräuchte über nichts mehr zu reden; alles ergäbe sich als Wirkung einer Ursache und beides, Ursache wie Wirkung, läge auf der Hand. Für andere ist dies die Schreckensvorstellung. Was wäre dann noch zu entscheiden und zu gestalten? Als Soziologe sieht man, dass es immer viel mehr Ursachen und Wirkungen gibt, als technisch vernetzt werden können. Es sind immer nur bestimmte Ursachen und bestimmte Wirkungen, die von technischen Prozessen eingefangen werden. Deswegen hat der soziale Prozess in kommunikativ unübersichtlichen Situationen oft das letzte Wort. Hier steht zur Diskussion, auf welche Kausalität man sich verlassen will und auf welche nicht. Doch auch Technisierung hat ihre Grenzen. Nirgendwo gilt dies auffälliger als im sogenannten Datenraum. Denken die einen, nun seien der Berechenbarkeit keine Grenzen mehr gesetzt, entdecken die anderen, dass der Datenraum nur, aber immerhin, die Infrastruktur einer Gesellschaft ist, die in jeder anderen Hinsicht vor nach wie vor unentscheidbaren strukturellen Fragen steht. Technik beendet das gesellschaftliche Experiment nicht, sondern ist Teil dieses Experiments.
In einem letzten Abschnitt stellen wir schließlich einige Handreichungen zusammen, die uns in der Projektarbeit den Austausch zwischen akademischer und betrieblicher Praxis erleichtert haben, eine ausführliche Methodologie zur Schnittstellenanalyse, eine etwas ausführlichere Darstellung der verwendeten Begrifflichkeit und ein knappes Glossar.
6 Ausblick
Wer sich auf Systeme einlässt, kommt um die Vision der Cybersystems sei es affirmativ oder kritisch nicht herum (Broy 2010; Hirsch-Kreinsen und Karačić 2019). Was spricht dafür und was spricht dagegen, dass technische Systeme aufgrund eines ultraschnellen Datenverkehrs in real time, enormer Datenspeicher und umfassender Sensoren für physikalische, chemische, biologische, organische, mentale, soziale und kulturelle Prozesse demnächst in der Lage sein werden, die Dinge nicht zu steuern, das ist gar nicht nötig, sondern durch die Vorwegnahme möglicher Störungen in gewünschte Bahnen zu lenken? Muss man sich große Internetfirmen mit ihren fast unbegrenzten Ressourcen an intelligenten Ingenieursleistungen, Kapital, Fantasie und Machtanspruch nicht längst damit beschäftigt vorstellen, den ultimativen Arbeitsprozess für beliebige Produktions- und Verwaltungsvorgänge zu modellieren? Wird die Vielzahl an elektronischen Medien, digitalen Apparaten und lernfähigen Algorithmen, die gegenwärtig die Landschaft bevölkern, nicht schon bald unter einer einzigen Oberfläche verschwunden sein, die, gesteuert durch die Cloud und die Fog, jede Schnittstelle perfekt integrieren und auf den Displays, die sie den Menschen präsentieren, nichts anderes zur Schau stellen als die Reibungslosigkeit aller Rechenvorgänge und Großartigkeit aller Ergebnisse?
Ist es nicht nur eine Frage der Zeit, bis beliebige Entscheidungsvorgänge im Betrieb soweit standardisiert und mithilfe dieser Standardisierung so viele Fälle gesammelt worden sind, dass auf der Grundlage dieser Daten foundation models gebaut werden können, die mit einfachen prompts eine Künstliche Intelligenz befähigen, zumindest den Entwurf eines anstehenden Entscheidungsvorgangs zu liefern, so wie GTP3-Programme bereits fast beliebige Texte generieren und Dall-E 2 fast beliebige Bilder generieren kann? In welchem StartUp wird an diesem DecisionWizard gearbeitet?
Leistet das KILPaD-Projekt etwas anderes als einen schon fast nostalgischen Blick auf die so aufschlussreiche Welt der Schnittstellen, die dann niemanden mehr interessieren wird als ein paar Reparatureinheiten und Hacker, die sich einen Wettlauf um die Behebung von Störquellen liefern? Wird die Unterscheidung von Mensch, Technik und Gesellschaft selbst zum melancholisch stimmenden Bestand einer alten Welt gehören, die längst einer umfassenden Technokultur der Regelung natürlicher und sozialer Kreisläufe gewichen ist (Lovelock 2020)? Ganz ehrlich: Wir wissen es nicht.
Unser Eindruck ist, dass wir es seit der Erfindung des Computers vor siebzig Jahren mit einem Fenster zu tun haben, das sich möglicherweise bald schließen wird. Dieses Fenster erlaubt einen einzigartigen Blick auf die Differenz von Natur, Technik und Gesellschaft. Hat die moderne Buchdruckgesellschaft seit Descartes, Kant und Marx geglaubt, der Mensch könnte sich Natur und Gesellschaft durch die Kraft seines Verstandes, unterstützt durch die eine oder andere Revolution, untertan machen, so wissen wir in unserer Gesellschaft dank Alan Turing, John von Neumann und Heinz von Foerster, dass wir es mit einer überwältigenden Komplexität zu tun haben. Diese Komplexität ist nicht das Ergebnis einer göttlichen Schöpfung, einer historischen Vernunft oder einer menschlichen Gestaltung (im Guten oder Bösen), sondern das Ergebnis einer evolutionären Selbstorganisation, die wir noch lange nicht durchschaut haben. Jeder Betrieb, jede Universität, jede Technologie und jede Wissenschaft sind eine Blase innerhalb dieser Selbstorganisation, so mutig wie riskant, so selbstbewusst wie demütig.
Die Kultur- und Medienwissenschaften berichten seit Marshall McLuhan, dass die Menschheit immer schon ein Produkt ihrer eigenen Technologien gewesen ist – und umgekehrt. Solange der technische Fortschritt langsam und beschränkt auf Verkehr, Waffen und Betriebe verlief, konnten wir ihn vernachlässigen und irrigerweise glauben, wir seien die Herren des Geschehens. Seit der technische Fortschritt rasant geworden ist und jeden Bereich des menschlichen Lebens und gesellschaftlichen Treibens erfasst, ahnen wir, dass wir nicht die Herren des Geschehens sind und dass niemand die Dinge unter Kontrolle hat, so sehr Konzerne und autoritäre Staaten auch danach streben. Deswegen, man verzeihe diesen maximalen Anspruch, wird jedes Digitalisierungsvorhaben, die Einführung eines Enterprise-Resource-Planning-Systems, eines Manufacturing-Execution-Systems, einer digitalen Laufkarte, eines Wikis oder einer Plattform für die digitale Prozessautomatisierung zu einem Experiment, das die Bedingungen des menschlichen Lebens auf dieser Erde betrifft und offenlegt. Fast nichts und fast alles ist aus diesen Vorhaben zu lernen. Wir müssen nur lernen, eine Sprache zu sprechen, die darüber Auskunft gibt, was wir hier lernen. Von dieser Sprache sind wir noch einigermaßen weit entfernt. Aber einen kleinen Beitrag hoffen wir mit diesem Band und mit seinem Vorgängerband (Baecker und Elsholz 2021) geleistet zu haben.
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