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2014 | Book

Eliten und zivile Gesellschaft

Legitimitätskonflikte in Ostmitteleuropa

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About this book

In dieser Studie werden Eliten in Ostmitteleuropa unter vergleichenden Gesichtspunkten untersucht. Das Spektrum der Eliten reicht von den kommunistischen Führungsgruppen bis zu neuen Machteliten und Gegeneliten, der Untersuchungszeitraum von 1968 bis 2013. Auf breiter empirischer Basis (ausführliche Interviews, Dokumente, Printmedien) beleuchtet der Autor den Elitenwandel in Polen, der Tschechischen Republik und der DDR/Ostdeutschland. Dabei geht es um ein tieferes Verständnis der Demokratisierung, der Elitenbildung und der Legitimitätskonflikte vor und nach den revolutionären Umbrüchen von 1989.

Table of Contents

Frontmatter

Umbrüche in Ostmitteleuropa: „1968“, „1980“ und „1989“

Frontmatter
1. Konzepte und Politische Deutungsmuster
Zusammenfassung
Nach fünfundzwanzig Jahren Transformationsforschung werden Grundsatzfragen immer noch nach dem Muster transferierter Modelle erörtert: So werden Dichotomien zwischen Handlungs- und Strukturtheorien, Demokratie und Autoritarismus schematisch abgehandelt, ohne kritische Einsichten in Ambivalenzen der Transformationsprozesse zu stärken. Liberale Demokratie wird als normative Erwartungshaltung bestimmt und typologisch vereinfacht.
Helmut Fehr
2. Transformation, Modernisierung und Krisen
Zusammenfassung
Die Transformationsprozesse in den postkommunistischen Gesellschaften stehen für einen neuen Typ des radikalen sozialen Wandels. Es handelt sich um kollektive Mobilisierungsprozesse, die sich vom Typ graduellen evolutionären Wandels unterscheiden, der Gegenstand soziologischer Theorien des sozialen Wandels ist; Wandlungsprozesse, die nicht in allen Ländern Ost- und Ostmitteleuropas „im gleichen Maß revolutionär waren“ und unterschiedliche Ausdrucksformen aufwiesen: von spontanen Streiks und Massendemonstrationen bis zu größeren Protestaktionen und Revolten. In Polen, der DDR und der Tschechoslowakei bauten die Wandlungsprozesse von 1989 auf eine vorausgegangene revolutionäre Situation auf und hatten revolutionäre Ergebnisse. Das wichtigste Ergebnis war die Übernahme der Regierungsgewalt durch neue politische Führungsgruppen, die sich aus organisierten Gegeneliten (Polen) oder Zirkeln oppositioneller kultureller Gegeneliten (Tschechoslowakei, DDR und Ungarn) rekrutierten. Im Folgenden werde ich die Tragfähigkeit soziologischer Modelle für den Wandel der postkommunistischen Gesellschaften beleuchten: 1) Welche Dimensionen des politischen, kulturellen und sozialen Wandels werden abgehandelt? 2) Welche Vorstellung von Transformations- und Modernisierungsprozessen wird vermittelt? Im zweiten Teil werde ich die Erklärungsreichweite von Modellen des sozialen Wandels untersuchen: 1) Welche Aussagen über die Richtung des 1989 eingeleiteten „radikalen“ sozialen Wandels werden getroffen? 2) Welche Konflikt- und Krisentendenzen werden thematisiert? Dann werde ich 3) auf die Mehrschichtigkeit der Wandlungsprozesse nach 1989 eingehen. Abschließend diskutiere ich 4) historische und kulturelle Analysegesichtspunkte des sozialen Wandels. Dabei plädiere ich für Verstehen als Schlüsselbegriff der Untersuchung des revolutionären Wandels in Ostmitteleuropa.
Helmut Fehr
3. Ende des Reformkommunismus und Politischer Generationswechsel: „1968“ in Ostmitteleuropa
Zusammenfassung
„1968“ bezeichnete eine Zäsur in der Entwicklung Ostmitteleuropas, die auch einen Niederschlag in der vergleichenden Forschung der „real-sozialistischen“ Gesellschaften hatte. Politische und kulturelle Faktoren erlangten einen zentralen Stellenwert für die Interpretation der innergesellschaftlichen Wandlungen. Fragen nach Legitimationskrisen und der veränderten Rolle sozialer Gruppen wurden aufgeworfen, die zuvor (in Totalitarismusstudien) kein Thema waren. Die Rolle politischer Generationen rückte in den Mittelpunkt von Untersuchungen. So stellen „nachrückende“ politische Altersgruppen während des Prager Frühlings und die Studenten vom März 1968 in Polen Fälle historischer Generationen dar, die von besonderem Interesse sind: Welche Anhaltspunkte finden sich für ein neues politisches Generationenbewusstsein? Worin bestehen Besonderheiten des Denk- und Erlebnisstils, worin die Gemeinschaftserfahrungen und die Handlungsweise in informellen Gruppen und Dissidentenbewegungen?
Helmut Fehr
4. Solidarność 1980 – Populismus und Selbstorganisation der Gesellschaft
Zusammenfassung
Auf dem ersten Landeskongress der Solidarność im September und Oktober 1981 in Danzig kritisierten Gewerkschafter das monozentrische Herrschaftssystem in Polen als ein Typ „unbewilligter Ordnung“ „Unsere Gewerkschaft entstand aus Empörung der polnischen Gesellschaft gegen die weltanschauliche Diskriminierung, die ökonomische Ausbeutung und gegen den Bruch der Menschenrechte. Sie – die Gewerkschaft – war der Protest gegen die vorhandene Machtausübung“. Mit Solidarność entstand in der Sicht der Gewerkschafter ein „Gegen-System“, eine neue Form „gemeinschaftlichen“ Lebens.
Helmut Fehr
5. Öffentlichkeit und zivile Gesellschaft vor 1989
Zusammenfassung
Perspektiven der zivilen Gesellschaft gründen in Ostmitteleuropa auf Annahmen der Selbstorganisation, die sich in Polen und der Tschechischen Republik mit den Protesterfahrungen neuer politischer Generationen nach 1968 abzeichnen: So war die Wiederbelebung von Ideen der zivilen Gesellschaft in der Spätphase des „Real-Sozialismus“ eng verknüpft mit spontanen Mobilisierungsprozessen in den Jahren 1976, 1980 und 1989, die auf dem wechselseitigen Zusammenhang von Protest und der Bildung einer neuen „gesellschaftlichen Infrastruktur“ gründeten: Sozialer Aktivismus von Bürgern, „Nicht-Eliten“ und ausgeschlossenen Gruppierungen der Bevölkerung bilden eine Voraussetzung von Gegenöffentlichkeiten und „authentischem“ gesellschaftlichem Leben. In Polen und der Tschechoslowakei verbanden sich in den siebziger Jahren hierbei politische Forderungen zur Einlösung der Menschen- und Bürgerrechte mit strategischen Zielen einer zukünftigen Bürgergesellschaft, deren Umrisse in informellen Initiativen ersichtlich wurden. In den politischen Diskursen von Bürgerkomitees und dissidentischen Gegeneliten erfolgte in exemplarischer Weise eine Wiederaneignung von normativen Grundlagen der zivilen Gesellschaft, die bis auf politische und kulturelle Selbstverständigungsdebatten der Intelligenz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Eine Besonderheit ist hier festzuhalten: Das analytische Konzept der Zivilgesellschaft folgte in Ostmitteleuropa nicht abstrakten Fragen der Modellierung des politischen Lebens, sondern reagierte auf gesellschaftliche Problemlagen, die sich in den „real-sozialistischen“ Ländern an kulturellen Widersprüchen entzündeten: Wie können politische Akteure die verbreiteten Erfahrungen von Angst als Barriere für politischer Beteiligung überwinden? Wie ist ein Leben in Würde und Selbstbestimmung vorstellbar? Auf welchen Grundlagen können „staatsunabhängige“ Institutionen aufgebaut werden?
Helmut Fehr
6. Auf dem Weg zum Runden Tisch: Legitimationsverfall und politischer Sprachwandel
Zusammenfassung
In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre weiteten sich in den „real-sozialistischen“ Gesellschaften Legitimationsdefizite der Regime aus, unter die alle Anzeichen von Legitimationsverfall und Krisen der Machtausübung fielen. Ungleichzeitige Dimensionen wurden ersichtlich, die nicht nur in der Reformrhetorik der 1. Sekretäre (Jaruzelski, Jakeš) zum Ausdruck kamen. Neben Anzeichen für Regierbarkeitskrisen (Polen), gab es auch Versuche der Erneuerung der politischen und ökonomischen Steuerungsfähigkeit (Tschechoslowakei, DDR), die in Polen seit 1987 auch in der demokratischen Opposition als Anzeichen für „Liberalisierung“ beurteilt wurden. Ende der achtziger Jahre zeichneten sich in den Umbruchgesellschaften politische Konstellationen ab, die bis zu den Rund-Tisch-Verhandlungen einflussreich waren: Außer punktueller Repression gegenüber Oppositionellen gab es Überlegungen zur Krisenbewältigung und politischen Kompromissbildung. Neben spontanen politischen Protesten (Januar 1988 in Leipzig und Prag, im Mai/Juli 1988 in Polen) wurden auch Ansätze für einen Dialog zwischen Staatsmacht und demokratischer Opposition unternommen.
Helmut Fehr
7. 1989: Rund-Tisch-Dialog und Verhandlungsdemokratie
Zusammenfassung
Im Wandel der teilöffentlichen Kommunikation wurden auch politische Konzepte der Solidarność genauer bestimmt, wie Pluralismus und Gerechtigkeit. Parallelen zu anderen „real-sozialistischen“ Gesellschaften waren offensichtlich: Auch im Verlauf der Prager Rund-Tisch-Gespräche zwischen Repräsentanten der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei und dem „Bürgerforum“ (OF) vom 26. November bis zum 9. Dezember 1989 erfolgte ein Wechsel von der Konfrontationsrhetorik zur konsensorientierten Sprache: Die am 10. Dezember 1989 gebildete Regierung der „nationalen Übereinkunft“ unter Leitung des (ehemaligen) Kommunisten Marian Čalfa unterstreicht symbolisch den Wechsel im politischen Denken und Sprachgebrauch, der sowohl für die demokratische Opposition als auch für die Repräsentanten der niedergehenden kommunistischen Staatsmacht kennzeichnend war: Von der Politik der Konfrontation zum Dialog und zur gegenseitigen Anerkennung.
Helmut Fehr

Eliten als Akteure im öffentlichen Raum

Frontmatter
8. Krisen des Übergangs: Elitenwechsel in der DDR und Ostdeutschland
Zusammenfassung
In diesem Kapitel werden Probleme des Elitenwandels in der DDR und Ostdeutschlands unter typologisch-vergleichenden Gesichtspunkten erörtert. Im Mittelpunkt stehen im Folgenden Wandlungen, die seit Ende der sechziger Jahre abliefen und sich im Rückgang ideologischer Komponenten für die „Führungshierarchien“ niedergeschlagen haben. Dabei spielen die Altersstruktur, Karriereverläufe und politische Generationen eine Rolle. Außerdem werden unter typologischen Gesichtspunkten Fragen der Herkunftsmilieus, des politischen Stilen, Mentalitäten und Wertvorstellungen von (alten und neuen) Eliten behandelt. Schließlich werde ich ausgewählte Strukturprobleme diskutieren, die mit der Elitenbildung in den ostdeutschen Ländern aufgetreten sind und auf die Rolle symbolischer Identitäten hindeuten.
Helmut Fehr
9. Von der „Moralischen Anti-Politik“ zur Ideologischen Polarisierung: Tschechische Eliten
Zusammenfassung
In der Tschechoslowakei zeichneten sich mit dem Niedergang des kommunistischen Regimes fundamentale Veränderungen im Elitenspektrum ab: Im Hinblick auf politische Deutungsmuster vollzog sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ein Wandel politischer Profile, der in ungleichen Dimensionen verlief. Dabei fallen im historischen Rückblick neue themenspezifische Forderungen nach Demokratisierung auf, die von Organisationsbestrebungen in Richtung Rechtsstaat bis zu Versammlungsfreiheiten und Bürgersinn reichen. Nach dem revolutionärem Umbruch kristallisieren sich Ende 1989 politische Konstellationen heraus, die ich nach bestimmten Phasen unterscheide: 1. Das nach-revolutionäre politisches Kräftefeld und Kooptation von Gegeneliten (Dezember 1989 bis Juni 1990). 2. Systemwechsel und Herausbildung neuer Institutionen und Parteien (Juni 1990 bis Juni 1996). 3. Regierbarkeitskrisen und neue Trennungslinien im politischen Kräftefeld (Juni 1996 bis Juni 2000). 4. Legitimationskrisen und Spaltungen im Elitenspektrum (Juni 2000 bis in die Gegenwart). Nach der Konsolidierung des politischen Systems während der ersten Hälfte der neunziger Jahre treten desintegrative Entwicklungen auf, wie Regierbarkeitskrisen und eine fortschreitende Erosion der politischen Kultur, die in der Gegenwart im Verfall des öffentlichen Lebens und demokratischer Verfahrensregeln gipfeln.
Helmut Fehr
10. Zwischen Gemeinschaft und Interessenorientierung: Elitenkonflikte in Polen
Zusammenfassung
In diesem Kapitel werden Struktur- und Funktionsprobleme der neuen (partei-) politischen Eliten in Polen behandelt. Dazu ist es erforderlich, im ersten Teil näher auf die Herausbildung von Parteiallianzen aus dem Solidarność-Lager einzugehen. In zwei weiteren Teilen untersuche ich die Rolle der neuen politischen Parteien und Eliten in dem Zwischenstadium der Transformationsprozesse, das von 1990 bis Ende der neunziger Jahre reicht. Daran anschließend erörtere ich in Tendenzen der Umwandlung, Fragmentierung und Integration im Spektrum der neuen politischen Parteien und Eliten. Drei Befunde sind von zentraler Bedeutung: 1) Artikulierte Interessenpositionen treten hinter symbolische Themen des Eliten-Machtkampfes zurück. 2) Sozialstrukturelle Differenzierungslinien spielen für die Herausbildung neuer politischer Parteien und Führungsgruppen in der ersten Phase der Transformation keine Rolle. 3) Der Übergang zur „zweiten Generation“ der neuen politischen Eliten ist mit einem Verlust an Professionalisierung und Verhandlungskultur: Dialog- und Kompromissfähigkeit verbunden.
Helmut Fehr

Von der unabhängigen zur simulierten Öffentlichkeit

Frontmatter
11. Legitimitätskonflikte über Vergangenheit: Historische Rahmendeutungen im Elitenkampf
Zusammenfassung
Fragen der Vergangenheitsaufarbeitung rückten bereits 1989/1990 in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Die Spannbreite der Auseinandersetzungen reichte hierbei von Aktionen zu Sicherung der Geheimdienstunterlagen (DDR), Untersuchungskommissionen und „Durchleuchtungen“ der politischen Lebensläufe von Parlamentskandidaten (Tschechoslowakei) bis zu ersten Prozessen gegen Angehörige der kommunistischen Machteliten (Ostdeutschland, Polen). In diesem Kapitel erörtere ich ausgewählte politische Deutungsmuster, die in den Debatten über die kommunistische Vergangenheit verbreitet sind. Dabei ist eine Frage von besonderem Interesse: Welche Bedeutung wird Gerechtigkeit in den Vergangenheitsdebatten beigemessen? Eng damit verknüpft ist die andere Frage: Welche Maßstäbe für Recht, Unrecht und Schuld werden von den Befürwortern und Kritikern der Entkommunisierung und Lustration gewählt?
Helmut Fehr
12. Zwischen Vermachtung und Boulevardisierung. Demokratie und Massenmedien in Ostmitteleuropa
Zusammenfassung
Im ersten Teil dieses Kapitels werde ich Konflikte über Rahmenbedingungen der Massenmedien beleuchten: das heißt, den 1989 in Polen einsetzenden Konflikt über die Unabhängigkeit von Zeitungen, den „Medienkrieg“ in Ungarn (1990–1993), den „Prager Fernsehstreit“ (Winter 2000/2001) und die polnische Rywin-Affäre. Außerdem gehe ich auf die Machteroberung von Leitungspositionen im polnischen Fernsehen und die Konflikte über Mediengesetze ein, um zu verdeutlichen, wie Pressefreiheit im Machtspiel der neuen Eliten ausgehöhlt wird. Im zweiten Teil werde ich Fragen nach dem Wandel des Selbstverständnisses von Journalisten diskutieren: In welchen Kontexten verstärken sich Tendenzen der Boulevardisierung und der Skandalisierung von Politik? Wie ist die Selbstentleerung journalistischer Standards zu verstehen?
Helmut Fehr
13. Europa als Norm. Elitendebatten zur europäischen Integration
Zusammenfassung
Im ersten Teil dieses Kapitels erörtere ich Fragen der Themenbildung über „Europa“, die vor und nach 1989 von Bedeutung waren: Die Vorstellungen „Zugehörigkeit“ und „Rückkehr nach Europa“ werden hierbei im Rahmen der Selbstverständigungsdebatten über Normen der Zivilgesellschaft betrachtet. Anschließend diskutiere ich ausgewählte Schlüsselwörter, die nach 1989 von den neuen politischen Eliten in Polen und der Tschechischen Republik verwendet wurden: Der Europa-Diskurs wird so als einer von mehreren öffentlichen Konfliktdiskursen aufgefasst, in denen es um symbolische und politische Dimensionen der Transformationspolitik und Modernisierung geht. Im dritten Teil behandele ich Tendenzen der Vermischung von Vergangenheitsdiskursen mit Problemen der EU-Integration.
Helmut Fehr
14. Auf der Suche nach verlorenen Gewissheiten. Eliten zwischen nationalen, europäischen und transatlantischen Orientierungen
Zusammenfassung
„Europa“ nimmt in den Elitendiskursen der ostmitteleuropäischen Gesellschaften einen zentralen Stellenwert ein. Dabei wird allerdings nicht immer unterschieden, ob es sich um Perspektiven auf die anstehende europäische Integration, um symbolische Bezugnahmen auf Konzepte des „Nationalen“ oder Eigenprofilierungen in Elitenkämpfen handelt. Das wird besonders deutlich, sobald kollektive Identitäten in der politischen Rhetorik Eingang finden. Das Framing von Themen, wie regionale, nationale und europäische Identitäten erfolgt hierbei ohne selbstkritische Bezüge. Metatheoretische Reflexionen über den Wandel kollektiver Identitäten treten hinter Mobilisierungsstrategien zurück. In den Legitimitätshorizonten der neuen Eliten dominieren strategische Absichten. Auftretende Ambivalenzen in den Selbstidentifikationen der Akteure wirken sich als Barrieren für die EU-Politik aus – nach „innen“ und in der der europäischen Öffentlichkeit.
Helmut Fehr

Eliten und Nicht-Eliten: Zwischen Ideologien und Bürgerinteressen

Frontmatter
15. Populismus, Patriotismus und politische Feinde
Zusammenfassung
In den Kämpfen über die Deutungshoheit in der Öffentlichkeit ist in den Transformationsgesellschaften (mit Ausnahme des Sonderfalls Ostdeutschland) eine Tendenz vorherrschend: der Rückgriff auf negative Legitimationsmuster des Elitenhandelns. Unter negativen Legitimationsmustern sind zwei Tendenzen hervorzuheben: 1) Die Retraditionalisierung politischer Weltbilder, die in unterschiedlichen Verbindungen auf populistische Ideenhorizonte hinausläuft. Damit ist die andere Tendenz verbunden: 2) Emotionale Identifikation mit Familie, Vaterland, Nation, Glauben und Ehre erlangen einen hohen Stellenwert für Populismus in Ostmitteuropa. Negative Legitimationsmuster werden quer zu ideologischen Eigenprofilen der Akteure in Mobilisierungskampagnen genutzt. Mobilisierende Slogans des Populismus im „guten Sinn“ (Vacláv Klaus) gehören ebenso in diesen Zusammenhang wie das Wort zu einem „verantwortlichen“ Populismus, das der polnische Premier Tusk im Wahlkampf 2005 verwendete.
Helmut Fehr
16. „Amoralischer Familialismus“ – Die Aushöhlung des Gemeinwesens
Zusammenfassung
Patron – Klient Beziehungen bestimmten während des „Real-Sozialismus“ die politische Kultur in den ost- und ostmitteleuropäischen Gesellschaften stärker als in Analysen zum Herrschaftssystem bisher angenommen wurde. Dabei erlangte Polen eine Sonderstellung, die in der sozialwissenschaftlichen Literatur auch in zahlreichen Studien thematisiert wird. Politischer Familialismus als informelles Beziehungsmuster wurde vor 1989 durch theoretisch-empirische Untersuchungen des polnischen Soziologen Jacek Tarkowski aufgewiesen. In den postkommunistischen Übergangsgesellschaften sind Klientelismus und Nepotismus allgemein akzeptierte Formen der Verteilung von Gütern und Positionen, die bis in die Gegenwart in der Tschechischen Republik und Polen durch eine „Aura der Ambiguitäten, des Amoralismus und der Korruption umgeben“ sind.
Helmut Fehr
17. Eigenaktivität von Bürgern. Zur informellen Realität demokratischer Lernprozesse
Zusammenfassung
Nach den revolutionären Umbrüchen von 1989 zeichneten sich neue Akteurskonstellationen auf der lokalen Ebene ab, die auf die Rolle aktiver Bürger verwiesen. In den Reformdebatten der neunziger Jahre werden politische Rahmendeutungen der Demokratisierung erzeugt, die an die Rund-Tisch-Phase anknüpfen: Wie kann Demokratie „von unten“ aufgebaut werden? Im folgenden Kapitel stehen politische Lernerfahrungen aus der Transitionsphase nach 1989 im Mittelpunkt der vergleichenden Betrachtungen. Anschließend wird nach der Rolle neuer Bürgerrechtsbewegungen gefragt, die sich im Konfliktfeld lokaler und regionaler Identitäten konstituieren: Welche Rolle spielen hierbei Ideologien und kulturelle Traditionen?
Helmut Fehr
18. Aktionsöffentlichkeiten und Rechtsextremismus
Zusammenfassung
Im folgenden Kapitel untersuche ich Entwicklungstendenzen des Rechtsextremismus, der sich in der politischen Öffentlichkeit der Transformationsgesellschaften als Herausforderung gegenüber der politischen Kultur erweist. Für die vergleichende Interpretation sind Analysegesichtspunkte des indigenen Gemeinschafts-Ansatzes (Zeradakeh 2011) ebenso von Bedeutung wie Annahmen aus der Ressourcen-Mobilisierungstheorie (Rolle von Organisationsspezialisten) und dem Konzept der politischen Gelegenheitsstrukturen. Rechtsextremismus lässt sich in Ostmitteleuropa unter Gesichtspunkten des Aktionsrepertoires und der gewählten Mobilisierungsstrategien als soziale Bewegung betrachten. Meine Ausgangsüberlegungen lauten: Neonazistische Bewegungen nutzen heute „volkstümliche“ Mobilisierungsformen und neue mediale Kommunikationsräume flexibel für die Öffentlichkeitsstrategie. Im Mittelpunkt der politischen Themenbildung stehen Ideen des ethnischen Nationalismus und des Ethno-Pluralismus, die auf die Homogeniesierung des Nationalen abzielen.
Helmut Fehr
19. Netz-Öffentlichkeit und transnationale Protestkulturen
Zusammenfassung
Im folgenden Kapitel werden Sammlungsinitiativen vorgestellt, die sich über das Framing von Themen der digitalen „Revolution“ herausgebildet haben. Im Mittelpunkt stehen Protestkulturen, die sich als Akteure neuer Kommunikationsräume im Internet bestimmen: Anti-ACTA-Initiativen und die „Generation Netz“ (Czerski 2012). Die Anti-ACTA-Proteste wurden bisher vor allem in der Medienöffentlichkeit thematisiert. Stereotypen und Akteurskonstellationen stehen hierbei im Mittelpunkt, wie das Schlüsselwort „Generation Internet“ (Czerski 2012, Bendyk 2012, Peter 2012). Das gilt besonders für europäische Gesellschaften, die unter sozialstrukturellen Rahmenbedingungen als Kontrastfälle betrachtet werden: Deutschland, die Tschechische Republik und Polen. Im Streit über die Ratifizierung des ACTA – Abkommens zum Schutz des „geistigen Eigentums“ im Internet bildeten sich neue Akteurskonstellationen und Protestkulturen heraus, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufweisen, die in diesem Kapitel genauer untersucht werden: Einmal geht es um die Bestimmung von Milieus der Akteure, die durch ein ähnliches Alter geprägt sind. Darüber hinaus ist das Framing der Themen aufschlussreich. Ferner werden Fragen nach der Vernetzung der Protestinitiativen aufgeworfen: In welchen Dimensionen bestehen Austauschbeziehungen zwischen den „nationalen“ Protestbewegungen der ACTA-Gegner? Handelt es sich um einen neuen Typ „transnationaler“ sozialer Bewegungen? Handelt es sich um Rahmendeutungen (Transparenz), die auf Bürgersinn und Autonomie gründen? Welche Legitimitätskonflikte werden im Streit über die „Freiheit“ des Internets ersichtlich?
Helmut Fehr

Schlussbetrachtungen und Ausblick

Frontmatter
20. Gespaltene Eliten in unkonsolidierten Demokratien
Zusammenfassung
Eliten in den Transformationsgesellschaften werden in den Sozialwissenschaften vorwiegend unter strukturellen Analysegesichtspunkten abgehandelt, wie die Bezugnahme auf Konzepte der „Positionseliten“ und pluralistisch integrierter Eliten zeigt. Im Mittelpunkt stehen Annahmen artikulierter Interessen als Grundlage der Elitenreproduktion, ohne dass näher bestimmt wird, welche Typen von Interessen gemeint sind. Ungeklärt erscheint bis in die Gegenwart, warum politische Interessenlagen nur in allgemeinen Termini erörtert werden, ohne dass Akteure genauer in den Blick genommen werden. So werden vor allem Bezüge auf soziale Milieus und Mentalitäten der Elitenakteure vernachlässigt; Anhaltspunkte, die für den konflikthaften Wandel der politischen Führungsgruppen in Ostmitteleuropa aufschlussreich sind. Ebenfalls vernachlässigt werden diejenigen Formen der Vergemeinschaftung der neuen Eliten, die in Dimensionen „unziviler Gesellschaft“ Gestalt annehmen: negative Legitimitätshorizonte des amoralischen Familialismus (Korruption) und die Ablehnung von Konsens und Toleranz als Wertorientierungen. Dadurch hebt sich die „Welt“ der neuen Machteliten von der Generation der dissidentischen Transitionseliten ab.
Helmut Fehr
Backmatter
Metadata
Title
Eliten und zivile Gesellschaft
Author
Helmut Fehr
Copyright Year
2014
Electronic ISBN
978-3-658-04377-3
Print ISBN
978-3-658-04376-6
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-04377-3