Skip to main content
Top

Open Access 11-09-2024 | Spektrum

Etablierung von Enterprise Architecture Management in kleinen und mittleren Unternehmen: Erkenntnisse aus einer Fallstudie

Authors: Simon Meierhöfer, Moritz Schüll, Christoph Buck

Published in: Wirtschaftsinformatik & Management

Activate our intelligent search to find suitable subject content or patents.

search-config
loading …
Notes

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Zusammenfassung
  • Der vorliegende Beitrag stellt die Erkenntnisse aus einer Fallstudie zur Etablierung von Enterprise Architecture Management (EAM) bei ProdComp vor, die die Autoren über einen Zeitraum von mehreren Jahren begleitet haben.
  • Es werden konkrete Herausforderungen aufgezeigt, denen ProdComp beim Aufbau einer EAM-Initiative im Laufe der Zeit gegenüberstand und wie diesen begegnet wurde.
  • Aus der Zusammenarbeit mit ProdComp werden drei übergreifende Handlungsempfehlungen abgeleitet, die KMUs eine Orientierung bei der Etablierung von EAM bieten.
Kernthesen
  • Die Etablierung von Enterprise Architecture Management (EAM) stellt für KMUs eine Zäsur dar, die nur unter Einbeziehung und mit Unterstützung des gesamten Unternehmens gelingen kann.
  • Krisensituationen und größere organisationale Veränderungen bieten KMUs die Möglichkeit, den Aufbau einer EAM-Initiative zu beschleunigen und schnell sichtbare Mehrwerte zu schaffen.
  • Die Etablierung von EAM in KMUs folgt keinem linearen Prozess, sondern muss dynamisch und flexibel an organisationale Gegebenheiten und Entwicklungen angepasst werden.
Handlungsempfehlungen
  • Die Etablierung von Enterprise Architecture Management (EAM) in KMUs erfordert die Legitimität des gesamten Unternehmens, sowohl bei den Stakeholdern aus der IT als auch aus den Geschäftseinheiten. Die Unterstützung durch das Management ist dabei ein zentraler Aspekt, um Legitimität zu schaffen. Unternehmen sollten frühzeitig Legitimität für eine EAM-Initiative schaffen und diese kontinuierlich sicherstellen.
  • KMUs sollten Krisensituationen und größere organisationale Veränderungen gezielt als Katalysator nutzen, um die Etablierung von EAM zu beschleunigen. Unternehmen sollten das kurzzeitig vorhandene Momentum nutzen, um den initialen Aufwand zur Schaffung der für den Aufbau einer EAM-Initiative nötigen Grundlagen zu bewältigen.
  • Das Aufzeigen kurzfristiger Mehrwerte im akuten Bedarfsfall kann die pragmatische Legitimität einer EAM-Initiative in KMUs sichern. Eine langfristige Verankerung im Unternehmen ist jedoch nur durch eine gleichzeitige Professionalisierung und Institutionalisierung von EAM-Aktivitäten möglich. Unternehmen sollten eine Balance zwischen beiden Perspektiven finden.

Die Notwendigkeit von Enterprise Architecture Management in kleinen und mittleren Unternehmen

Die IT-Abteilung in kleinen und mittleren Unternehmen (KMUs) bleibt auch heute noch häufig ein Dienstleister für die Geschäftseinheiten, die eher den operativen Betrieb sicherstellt, als die Möglichkeiten zu erschließen, die sich durch die zunehmende Verbreitung digitaler Technologien ergeben [1]. Um eine zielgerichtete und kontrollierte Weiterentwicklung der IT-Landschaft im Einklang mit den Anforderungen der Geschäftseinheiten aktiv vorantreiben zu können, fehlt es KMUs zunächst einmal jedoch an einem grundlegenden Überblick über die bestehende IT-Landschaft [2]. Konkret mangelt es an einem klaren Verständnis darüber, welche Systeme im Allgemeinen betrieben werden, welchen Geschäftszwecken einzelne Anwendungen dienen und welche technischen Abhängigkeiten innerhalb der IT-Landschaft bestehen. Diese Unklarheiten bergen für KMUs in der Folge die Gefahr einer zunehmend komplexer und intransparenter werdenden IT-Landschaft, wodurch die IT-Abteilung oft nicht mehr in der Lage ist, die Geschäftszwecke der Geschäftseinheiten optimal zu bedienen.
In der heutigen Welt, die von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit geprägt ist, müssen Unternehmen dynamisch und flexibel auf sich ändernde Marktbedingungen und technologische Durchbrüche reagieren, um im Wettbewerb zu bestehen und konkurrenzfähig zu bleiben [3]. Im Vergleich zu großen Konzernen fehlt es KMUs jedoch häufig an den notwendigen Fähigkeiten und Ressourcen, um die durch die Digitalisierung getriebenen Veränderungen entlang der Unternehmensarchitektur – vom Geschäftsmodell bis zur Infrastruktur – gleichermaßen zu bewältigen [4]. Als solches fällt es KMUs schwerer, aufkommende Entwicklungen und neuste Innovationen zu antizipieren und in die bestehende Unternehmensarchitektur zu integrieren. In zunehmend digitalisierten Märkten laufen KMUs somit Gefahr, gegenüber großen Konzernen schnell ins Hintertreffen zu geraten.
Ein anerkanntes Instrument des strategischen Managements, um diesen Herausforderungen zu begegnen und die IT-Landschaft im Einklang mit den Anforderungen der Geschäftseinheiten zielgerichtet und kontrolliert weiterzuentwickeln, ist Enterprise Architecture Management (EAM) [5]. Der Begriff EAM beschreibt die Prozesse, Methoden und Werkzeuge, die Unternehmen einsetzen können, um die Gestaltung der Unternehmensarchitektur aktiv voranzutreiben und dabei eine wechselseitige Abstimmung zwischen IT und Geschäftseinheiten sicherzustellen [6]. Durch die Schaffung von Transparenz über die einzelnen Ebenen der Unternehmensarchitektur hinweg wird unter anderem eine systematische Integration digitaler Technologien ermöglicht, die es KMUs erlaubt, ihre Wettbewerbsfähigkeit in zunehmend digitalisierten Märkten auch gegenüber großen Konzernen zu verteidigen oder sogar auszubauen. Trotz der zahlreichen Vorteile verfügen auch heute noch nur sehr wenige KMUs über eine dedizierte EAM-Funktion [7].
Der vorliegende Beitrag beleuchtet den Prozess der Etablierung von EAM in KMUs anhand einer Fallstudie bei ProdComp, einem mittelständischen Unternehmen im produzierenden Gewerbe, das die Autoren über einen Zeitraum von sechs Jahren wissenschaftlich begleitet und aktiv mitgestaltet haben. Ausgehend von der ursprünglichen Entscheidung im Jahr 2018, eine EAM-Funktion einzurichten, sah sich ProdComp mit verschiedenen Situationen und sich ändernden Umständen konfrontiert, die die Umsetzung dieser Entscheidung bis zum Jahr 2024 beeinflussten. Entlang von fünf übergreifenden Phasen wird analysiert, welchen Herausforderungen ProdComp beim Aufbau der EAM-Initiative im Laufe der Zeit gegenüberstand und wie diesen begegnet wurde, um die Etablierung von EAM kontinuierlich voranzutreiben. Darauf aufbauend leiten die Autoren aus der Fallstudie drei übergreifende Handlungsempfehlungen ab, die KMUs dabei unterstützen sollen, EAM in der Praxis erfolgreich zu etablieren.

Enterprise Architecture Management als Navigator zur strategischen und zielkonformen Entwicklung der Unternehmensarchitektur

Als Brückendisziplin begründet EAM den Rahmen zur ganzheitlichen Planung und Steuerung der IT-Landschaft im Einklang mit den Geschäftszielen eines Unternehmens [5]. Die Unternehmensarchitektur umfasst dabei einzelne Ebenen, die miteinander verknüpft sind und aufeinander abgestimmt werden müssen (siehe Abb. 1; [4]).
Als Disziplin des strategischen Managements konzentriert sich EAM darauf, die Entwicklung der Unternehmensarchitektur integriert über die einzelnen Ebenen hinweg sicherzustellen [4]. Zu diesem Zweck werden typischerweise drei Perspektiven auf die Unternehmensarchitektur modelliert [5]: einerseits der Ist-Zustand (z. B. Darstellung der vorhandenen Geschäftsfähigkeiten) und andererseits der Soll-Zustand (z. B. Darstellung der benötigten Geschäftsfähigkeiten). Aus der Gegenüberstellung von Ist- und Soll-Zustand ergeben sich schließlich die Handlungsschritte, die Unternehmen umsetzen müssen, um von den vorhandenen zu den benötigten Geschäftsfähigkeiten zu gelangen. Damit stellt eine EAM-Funktion in Unternehmen einen zentralen Bestandteil des Transformationsmanagements dar, die die Ausrichtung der Unternehmensarchitektur an den übergeordneten Unternehmenszielen sicherstellt [6].
Das Ziel von EAM ist es, den verschiedenen Stakeholdern sowohl aus der IT als auch aus den Geschäftseinheiten sowie dem Management eine gemeinsame Diskussionsgrundlage zu bieten, die eine strategische und zielkonforme Entwicklung der Unternehmensarchitektur ermöglicht. Daraus ergeben sich verschiedenen Mehrwerte für KMUs [2, 3]. Eine ganzheitliche Dokumentation der IT-Landschaft schafft beispielsweise Transparenz darüber, welche Systeme und Anwendungen vorhanden sind, welche Funktionen sie erfüllen und wie sie miteinander verknüpft sind. Auf diese Weise können KMUs Potenziale zur Standardisierung (z. B. redundante Lösungen) oder Eliminierung (z. B. veraltete Lösungen) identifizieren. Das Wissen um Abhängigkeiten und Schnittstellen zwischen Anwendungen und/oder Systemen in der IT-Landschaft hilft KMUs zudem, Risiken besser einzuschätzen und proaktiv Maßnahmen zu ergreifen, um potenzielle Probleme zu reduzieren oder gar zu vermeiden. Weiterhin ermöglicht eine ganzheitliche Dokumentation der IT-Landschaft Unternehmen ein erhöhtes Maß an Agilität und Flexibilität, indem sie schneller auf aufkommende Entwicklungen und neuste Innovationen reagieren können. Letztlich schafft eine ganzheitliche Dokumentation der IT-Landschaft ein besseres Portfoliomanagement, wodurch sichergestellt werden kann, dass alle Anwendungen auf einen konkreten Geschäftszweck einer Geschäftseinheit einzahlen. Auf diese Weise können auch zukünftige Investitionen in die IT-Landschaft (z. B. Einführung neuer oder Modernisierung bestehender Systeme) strategisch und zielkonform geplant und umgesetzt werden.

Die strategische Bedeutung von Enterprise Architecture Management für kleine und mittlere Unternehmen

Während große Konzerne bereits in der Vergangenheit ganze Abteilungen oder Teams aktiv mit dem Aufbau einer EAM-Initiative betraut haben, ist dies bei KMUs nach wie vor selten der Fall [7]. Wenngleich die Unternehmensarchitektur von KMUs auf den ersten Blick weniger komplex erscheint als die von großen Konzernen, hat die Komplexität (z. B. durch die unstrukturierte Einführung neuer Anwendungen und/oder Systeme) in den vergangenen Jahren auch in KMUs stetig zugenommen. Insbesondere in Zeiten, in denen die Integration digitaler Technologien zunehmend fortschreitet, wird es auch für KMUs zunehmend wichtiger, die Unternehmensarchitektur integriert über die einzelnen Ebenen hinweg zu betrachten. Für den Aufbau einer EAM-Initiative in KMUs ist es dazu von zentraler Bedeutung, sowohl bei den Stakeholdern aus der IT als auch aus den Geschäftseinheiten ein Bewusstsein für die Notwendigkeit und den Mehrwert von EAM zu schaffen [6]. Nur so kann sichergestellt werden, dass alle Stakeholder im Unternehmen über die initiale Einführung hinaus das notwendige Commitment für eine kontinuierliche Nutzung mitbringen.
Die Etablierung von EAM erfolgt typischerweise entlang etablierter Vorgehensweisen und Tätigkeitsfelder [6]. Wesentliche Bausteine umfassen dabei unter anderem die Auswahl eines Rahmenwerks (z. B. The Open Group Architecture Framework, TOGAF) [8], welches eine Struktur zur Beschreibung der Unternehmensarchitektur bietet. Weiterhin müssen Unternehmen die Entwicklung einer Unternehmensarchitektur als Zielbild, die Definition von Kontrollmechanismen (z. B. Architekturprinzipien) sowie die Implementierung eines Change-Management-Ansatzes vorantreiben. Während in den frühen Phasen der Etablierung von EAM sich der Fokus häufig auf die IT-Abteilung richtet, werden mit zunehmender Reife immer mehr auch fachliche Perspektiven aus den Geschäftseinheiten einbezogen. Im höchsten Reifegrad stellt die EAM-Funktion schließlich ein strategisches Instrument dar, das zur zielgerichteten und kontrollierten Weiterentwicklung der IT-Landschaft im Einklang mit den Anforderungen der Geschäftseinheiten beiträgt [6].

Einblicke aus einer Fallstudie bei ProdComp

Im nachfolgenden Kapitel wird der Prozess der Etablierung von EAM in KMUs anhand einer Fallstudie bei ProdComp, einem mittelständischen Unternehmen im produzierenden Gewerbe, beschrieben, den die Autoren über einen Zeitraum von sechs Jahren wissenschaftlich begleitet und aktiv mitgestaltet haben. In diesem Zeitraum haben die Autoren 14 formelle Interviews sowie zahlreiche Workshops und informelle Gespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durchgeführt, die am Aufbau der EAM-Initiative bei ProdComp beteiligt waren. Auf diese Weise konnte ergründet werden, welchen verschiedenen Situationen und sich verändernden Umständen ProdComp beim Aufbau der EAM-Initiative im Laufe der Zeit gegenüberstand. Im Folgenden wird entlang von fünf übergreifenden Phasen dargestellt, wie ProdComp die Etablierung von EAM im Laufe der Zeit kontinuierlich vorangetrieben hat (siehe Abb. 2).

Intransparenz und Erneuerungsbedarf als Auslöser

Zu Beginn der Fallstudie stand ProdComp in verschiedenen Bereichen unter Druck. Die bestehende IT-Landschaft deckte zwar funktional die Anforderungen der Geschäftseinheiten ab, jedoch waren Änderungen aufgrund der historisch gewachsenen Strukturen und Prozesse oft zeit- und ressourcenaufwendig. Daneben befanden sich verschiedene Systeme, insbesondere das Enterprise-Resource-Planning(ERP)-System, auf einem technologisch veralteten Stand. Um die IT-Landschaft zu erneuern und noch besser an den Anforderungen der Geschäftseinheiten auszurichten, entstand der Bedarf, einen Überblick über die vorhandenen Systeme sowie deren Abhängigkeiten und Schnittstellen zu erarbeiten. Bisher waren diese Informationen nur den Systembetreuern bekannt und – wenn überhaupt – dezentral dokumentiert. In der Folge entschied sich ProdComp Anfang 2018 dazu, eine EAM-Funktion einzurichten und in einem ersten Projekt systematisch einen Überblick über die IT-Landschaft zu erarbeiten. Dazu wurde ein EAM-Team gebildet, das vorhandene Unterlagen (z. B. Dokumentationen von Systembetreuern) analysierte und Interviews mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus der IT-Abteilung und den Geschäftseinheiten führte. Auf diese Weise konnte eine wertvolle Wissensbasis für weiterführende EAM-Aktivitäten geschaffen werden.

Verlagerte Prioritäten nach Ausbruch der COVID-19-Pandemie

Das initiale Momentum der Etablierung von EAM bei ProdComp wurde Anfang 2020 durch die weltweite COVID-19-Pandemie unterbrochen, da sich der Fokus weg von langfristiger Planung hin zu kurzfristigem Krisenmanagement verschob. In der Folge verlor der Aufbau der EAM-Initiative vorerst wieder an Priorität und es wurden Maßnahmen im Rahmen des Krisenmanagements ergriffen (z. B. Kauf neuer Software), ohne die Konformität mit der bestehenden Unternehmensarchitektur zu prüfen und eine entsprechende Dokumentation mit bisherigen Arbeiten vorzunehmen. Nichtsdestotrotz nutzte das EAM-Team die gewonnene Freiheit vom operativen Tagesgeschäft, um eine längerfristige Strategie für die weitere Etablierung von EAM bei ProdComp zu erarbeiten. Zudem setzte das EAM-Team in dieser Zeit einen besonderen Fokus darauf aufzuzeigen, dass die kurzfristigen Maßnahmen zur Bewältigung der Krise technische Schulden verursachten. Somit wurde sowohl den Stakeholdern aus der IT als auch aus den Geschäftseinheiten zunehmend klar, dass die Komplexität der IT-Landschaft durch die COVID-19-Pandemie zugenommen hatte und ein Bedarf für eine beschleunigte Etablierung von EAM bei ProdComp bestand. Somit konnte die COVID-19-Pandemie erfolgreich als Momentum für die weitere Institutionalisierung der EAM-Aktivitäten genutzt werden.

Verstärktes Momentum durch Verzögerungen im ERP-Projekt

Kurz darauf zeigte sich durch die Ablösung des alten ERP-Systems ein weiterer gewichtiger Fürsprecher der Etablierung von EAM bei ProdComp. Das ERP-Team adressierte wiederholt an das Management, dass für die Einführung des neuen ERP-Systems eine EAM-Funktion und damit ein grundlegender Überblick über die bestehende IT-Landschaft an verschiedenen Stellen notwendig sind, um den Projektfortschritt sicherzustellen. Obwohl dieser Bedarf vom EAM-Team grundsätzlich als positiv bewertet wurde, konnte er zunächst nicht bedient werden. Es wurden daher unterschiedliche Maßnahmen zur weiteren Professionalisierung der EAM-Aktivitäten umgesetzt. So wurde beispielsweise beschlossen, das weitere Vorgehen an TOGAF auszurichten, ein dazu passendes EAM-Tool zur Dokumentation einzusetzen und externe Berater mit eingehender Erfahrung zu beauftragen. Zudem konnte durch die Gründung eines Architekturboards ein Gremium, bestehend aus Solution Architekten aus den verschiedenen Bereichen der IT-Abteilung, geschaffen werden, das zur Diskussion von Anforderungen der Geschäftseinheiten genutzt werden konnte.

Erneutes Krisenmanagement durch Cyberangriff

Trotz der Professionalisierung der EAM-Aktivitäten wurde das Momentum Mitte 2022 durch einen Cyberangriff gebremst. Der Fokus bei ProdComp verlagerte sich erneut von langfristiger Planung hin zu kurzfristigem Krisenmanagement, nachdem nahezu alle Systeme abgeschaltet werden mussten und der Geschäftsbetrieb für mehrere Wochen zum Erliegen kam. Im Gegensatz zur COVID-19-Pandemie konnte das EAM-Team während des Cyberangriffs jedoch einen aktiven Beitrag zur Wiederinbetriebnahme der Systeme und damit zur Wiederaufnahme des Geschäftsbetriebs leisten. Nachdem das Management eine Übergangsorganisation zur Bewältigung der Krise eingerichtet hatte, wurde das EAM-Team ein zentraler Bestandteil davon und in sämtliche damit verbundene Entscheidungen einbezogen. In diesem Zuge wurden zudem verbindliche Architekturbewertungen für alle bestehenden, wieder in Betrieb zu nehmenden Systeme definiert, die zukünftig ebenso für alle neuen Systeme verpflichtend sein sollten. Damit erhöhte sich einerseits die Präsenz der EAM-Funktion in der Wahrnehmung der relevanten Stakeholder in der IT und den Geschäftseinheiten. Andererseits konnten die Architekturbewertungen dazu genutzt werden, die bestehende Dokumentation im EAM-Tool zu ergänzen und so die Qualität zu verbessern. Auf diese Weise wurden insbesondere Potenziale zur Standardisierung und Konsolidierung der IT-Landschaft identifiziert, die mittelfristig angegangen werden sollten. Somit konnte der Cyberangriff erfolgreich als Momentum für die weitere Institutionalisierung der EAM-Aktivitäten genutzt werden.

Rivalisierende Initiative zur Einführung einer Prozessorganisation

Gegen Ende der Fallstudie entstand bei ProdComp durch das Management die Initiative zur Einführung einer Prozessorganisation, die mit zunehmender Etablierung die Gestaltung der Unternehmensarchitektur für sich beanspruchte. Es kam zu Meinungsverschiedenheiten mit dem EAM-Team hinsichtlich Zuständigkeiten und Kompetenzen für die einzelnen Ebenen der Unternehmensarchitektur. Wenngleich die Verantwortung für die Unternehmensarchitektur fortan im Aufgabenbereich des Prozessmanagements verortet wurde, konnte das EAM-Team die Situation nutzen, um sich zentral in den neu etablierten IT-Demand-Prozess zu integrieren. Zudem konnte die Legitimität der EAM-Funktion gegenüber dem Prozessmanagement durch die TOGAF-Zertifizierung eines Enterprise Architekten, der von nun an alle EAM-Aktivitäten innerhalb der IT-Abteilung zentral verantwortete, gesteigert werden. Letztlich einigten sich das EAM-Team und das Prozessmanagement somit auf eine kollaborative Gestaltung der Unternehmensarchitektur.
Am Ende der Fallstudie fand ProdComp einen produktiven Ansatz für das Management der Unternehmensarchitektur, der nun sowohl von den Stakeholdern aus der IT als auch aus den Geschäftseinheiten aktiv gelebt wird. Die EAM-Funktion wird bei ProdComp als solches als legitimes Instrument anerkannt, das in Zusammenarbeit mit der Prozessorganisation aktiv genutzt wird, um die Unternehmensarchitektur strategisch und zielkonform zu entwickeln. Auf diese Weise konnten die eingangs geschilderten Herausforderungen, an aufkommenden Entwicklungen und neuesten Innovationen im Einklang mit den Geschäftszielen des Unternehmens partizipieren zu können, bei ProdComp erfolgreich überwunden werden.

Handlungsempfehlungen zur Etablierung von Enterprise Architecture Management

Als Brückendisziplin stellt EAM ein anerkanntes Instrument des strategischen Managements zur ganzheitlichen Planung und Steuerung der IT-Landschaft im Einklang mit den Geschäftszielen eines Unternehmens dar [5]. Der Aufbau einer EAM-Funktion gestaltet sich jedoch insbesondere für KMUs als große Herausforderung [7]. Auf Grundlage der beschriebenen Entwicklungen bei ProdComp über einen Zeitraum von sechs Jahren können drei übergreifende Handlungsempfehlungen abgeleitet werden, die KMUs eine Orientierung bei der Etablierung von EAM bieten.
1.
Die Etablierung von EAM in KMUs erfordert die Legitimität des gesamten Unternehmens, sowohl bei den Stakeholdern aus der IT als auch aus den Geschäftseinheiten. Die Unterstützung durch das Management ist dabei ein zentraler Aspekt, um Legitimität zu schaffen. Unternehmen sollten frühzeitig Legitimität für eine EAM-Initiative schaffen und diese kontinuierlich sicherstellen. Die Fallstudie bei ProdComp hat beispielsweise gezeigt, dass es wichtig ist, die Notwendigkeit und den Mehrwert von EAM zu kommunizieren, um organisationsweites Commitment zu erreichen. Einerseits wurde dies durch die Bedienung konkreter Bedürfnisse aus dem ERP-Projekt erreicht, was zur Schaffung eines klaren Mehrwerts für das ERP-Team beitrug. Andererseits konnte dies durch die Integration der EAM-Initiative als Teil der Übergangsorganisation nach dem Cyberangriff erzielt werden, wobei das Management dem EAM-Team ein hohes Gewicht – über die IT-Abteilung hinaus – zusprach.
 
2.
KMUs sollten Krisensituationen und größere organisationale Veränderungen gezielt als Katalysator nutzen, um die Etablierung von EAM zu beschleunigen. Unternehmen sollten das kurzzeitig vorhandene Momentum nutzen, um den initialen Aufwand zur Schaffung der für den Aufbau einer EAM-Initiative nötigen Grundlagen zu bewältigen. Die Fallstudie bei ProdComp hat beispielsweise gezeigt, dass die COVID-19-Pandemie und der Cyberangriff im Nachhinein strategisch wertvoll waren, um aufwendige konzeptionelle Grundlagenarbeit (z. B. die systematische Erfassung der IT-Landschaft) zu bewältigen, für die KMUs im operativen Geschäft oft nur begrenzte Ressourcen oder Unterstützung durch das Management zur Verfügung haben.
 
3.
Das Aufzeigen kurzfristiger Mehrwerte im akuten Bedarfsfall kann die pragmatische Legitimität einer EAM-Initiative in KMUs sichern. Eine langfristige Verankerung im Unternehmen ist jedoch nur durch eine gleichzeitige Professionalisierung und Institutionalisierung von EAM-Aktivitäten möglich. Unternehmen sollten eine Balance zwischen beiden Perspektiven finden. Die Fallstudie bei ProdComp hat beispielsweise gezeigt, dass während der rivalisierenden Initiative zur Einführung einer Prozessorganisation einerseits kurzfristig ein pragmatischer Mehrwert durch die Integration von EAM-Aktivitäten in den IT-Demand-Prozess geschaffen wurde und gleichzeitig die langfristige Professionalisierung durch die TOGAF-Zertifizierung eines Enterprise Architekten vorangetrieben wurde.
 
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Our product recommendations

WIRTSCHAFTSINFORMATIK

WI – WIRTSCHAFTSINFORMATIK – ist das Kommunikations-, Präsentations- und Diskussionsforum für alle Wirtschaftsinformatiker im deutschsprachigen Raum. Über 30 Herausgeber garantieren das hohe redaktionelle Niveau und den praktischen Nutzen für den Leser.

Business & Information Systems Engineering

BISE (Business & Information Systems Engineering) is an international scholarly and double-blind peer-reviewed journal that publishes scientific research on the effective and efficient design and utilization of information systems by individuals, groups, enterprises, and society for the improvement of social welfare.

Wirtschaftsinformatik & Management

Texte auf dem Stand der wissenschaftlichen Forschung, für Praktiker verständlich aufbereitet. Diese Idee ist die Basis von „Wirtschaftsinformatik & Management“ kurz WuM. So soll der Wissenstransfer von Universität zu Unternehmen gefördert werden.

Literature
1.
go back to reference Bidan, M., Rowe, F., & Truex, D. (2012). An Empirical Study of IS Architectures in French SMes: Integration Approaches. European Journal of Information Systems, 21(3), 287–302.CrossRef Bidan, M., Rowe, F., & Truex, D. (2012). An Empirical Study of IS Architectures in French SMes: Integration Approaches. European Journal of Information Systems, 21(3), 287–302.CrossRef
2.
go back to reference Niemi, E., & Pekkola, S. (2020). The Benefits of Enterprise Architecture in Organizational Transformation. Business & Information Systems Engineering, 62(6), 585–597.CrossRef Niemi, E., & Pekkola, S. (2020). The Benefits of Enterprise Architecture in Organizational Transformation. Business & Information Systems Engineering, 62(6), 585–597.CrossRef
3.
go back to reference Tamm, T., Seddon, P. B., & Shanks, G. (2022). How Enterprise Architecture Leads to Organisational Benefits. International Journal of Information Management, 67(1), 102554.CrossRef Tamm, T., Seddon, P. B., & Shanks, G. (2022). How Enterprise Architecture Leads to Organisational Benefits. International Journal of Information Management, 67(1), 102554.CrossRef
4.
go back to reference Gimpel, H., & Röglinger, M. (2017). Disruptive Technologien – Blockchain, Deep Learning & Co. Wirtschaftsinformatik & Management, 9(5), 8–15.CrossRef Gimpel, H., & Röglinger, M. (2017). Disruptive Technologien – Blockchain, Deep Learning & Co. Wirtschaftsinformatik & Management, 9(5), 8–15.CrossRef
5.
go back to reference Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V. (2011). Enterprise Architecture Management – neue Disziplin für die ganzheitliche Unternehmensentwicklung (S. 1–46). Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V. (2011). Enterprise Architecture Management – neue Disziplin für die ganzheitliche Unternehmensentwicklung (S. 1–46).
6.
go back to reference Aier, S., Winter, R., & Wortmann, F. (2012). Entwicklungsstufen des Unternehmensarchitekturmanagements. HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik, 49(2), 15–23.CrossRef Aier, S., Winter, R., & Wortmann, F. (2012). Entwicklungsstufen des Unternehmensarchitekturmanagements. HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik, 49(2), 15–23.CrossRef
7.
go back to reference Baudis, T., Czapowski, J., Reiz, A., & Wißotzki, M. (2017). Enterprise Architecture Management in kleinen und mittleren Unternehmen (S. 2067–2079). Gesellschaft für Informatik. Baudis, T., Czapowski, J., Reiz, A., & Wißotzki, M. (2017). Enterprise Architecture Management in kleinen und mittleren Unternehmen (S. 2067–2079). Gesellschaft für Informatik.
8.
go back to reference The Open Group (2018). The TOGAF® Standard: Version 9.2. The Open Group (2018). The TOGAF® Standard: Version 9.2.
Metadata
Title
Etablierung von Enterprise Architecture Management in kleinen und mittleren Unternehmen: Erkenntnisse aus einer Fallstudie
Authors
Simon Meierhöfer
Moritz Schüll
Christoph Buck
Publication date
11-09-2024
Publisher
Springer Fachmedien Wiesbaden
Published in
Wirtschaftsinformatik & Management
Print ISSN: 1867-5905
Electronic ISSN: 1867-5913
DOI
https://doi.org/10.1365/s35764-024-00530-5

Premium Partner