Auf Gewinnstreben und Existenzsicherung ausgerichtete Organisationen stehen mehr denn je vor der Herausforderung, zwei grundlegende Handlungsweisen zu beherrschen und produktiv zu verknüpfen (March
1991; Güttel und Konlechner
2017; Csar
2021). Die gegenwartsorientierte, effizienzbasierte, auf finanzielle Rückflüsse abzielende Ausnutzung (exploitation) bestehender Geschäftsfelder und die Erkundung zukunftsträchtiger, im Hinblick auf ihren finanziellen Erfolg jedoch noch ungewisser Wirkungsgebiete (exploration). Dabei wird das rigide, strukturierte, kostengetriebene Aktivitätsmuster (geschlossenes, transaktionales Führungsverhalten) eher mit Hierarchie, das flexible, freie, innovationsgetriebene Aktivitätsmuster (offenes, transformationales Führungsverhalten) eher mit Selbstorganisation in Verbindung gebracht (vgl. Rosing et al.
2011; Gebert und Kearney
2011), wobei der „Teufel im Detail“ steckt, denn auch Hierarchie benötigt situative Anpassungsfähigkeit und Lernen (z. B. Fayolsche Brücken, KVP in der Produktion) so wie in Projektarbeit und agilen Strukturen neben kreativen Freiräumen Rollenklarheit, Ziel- und Kostenorientierung erforderlich sind. Für die durch Teamarbeit hervorgebrachten Innovationen konnte dies in einer umfassenden Metaanalyse nachgewiesen werden. Demnach braucht es zur Aufrechterhaltung hoher Leistungsstandards bei der Aufgabenerfüllung zwei sich wechselseitig korrigierende Waagschalen: Die gegenseitige Unterstützung bei der Entwicklung und Umsetzung von Ideen auf der einen Seite und die kollektive Überwachung und kritische Bewertung auf der anderen Seite (vgl. Hülsheger et al.
2009, S. 1140). Es sind also auch hier exploitative und explorative Gewichte auszubalancieren. Der Versuch, beide Gewichte zu beachten und einen Ausgleich herzustellen, wird in der Literatur als Ambidextrie (wörtlich Beidhändigkeit) bezeichnet.
Dieser literaturgestützte, integrative Beitrag soll speziell das Verhältnis exploitativer und explorativer Kräfte als zentrale organisationsdynamische Herausforderung dual aufgestellter Organisationen thematisieren. Diese Kräfte gab es in der Wirtschaftsgeschichte schon immer. In traditionellen Organisationen herrschte aber oft ein Neben- und Gegeneinander zwischen beiden Handlungsfeldern. Moderne, ambidextere Organisationen streben hingegen bewusst ihr Mit- und Füreinander an. Dual operierende Organisationen adressieren, reflektieren und gestalten die widersprüchlichen Anforderungen von Exploitation und Exploration auf eine aktive Weise. Beide Lernmodi werden als Quellen gegenseitiger Inspiration angesehen. So wie Kreativität mitunter Struktur und Fokussierung braucht, sind auch die kreativen Potenziale, die in Routinen und Standards schlummern, zu entdecken und zu erschließen. Inzwischen hat sich um die Frage, ob nicht selbst vermeintlich träge Routinen kreative Elemente in sich bergen, ein eigenes Forschungsfeld entwickelt. Wie bei der vorgegebenen Partitur eines Musikstücks (know that) entscheidet am Ende die Aufführungspraxis (know how) darüber, was Dirigent und Orchester aus der Komposition machen. Das Musikstück bildet sich erst mit seiner Realisierung. Dabei gibt es einen gewissen Spielraum für Varianten (vgl. Feldman und Pentland
2003, S. 102 f.). Dies bedeutet: Die Art und Weise,
wie ein Prozess vollzogen wird, bestimmt über seine Qualität und auch darüber, ob aus ihm Neues entstehen kann.
Im Anschluss werden Exploitation und Exploration zunächst allgemein ausgeleuchtet. Der Schwerpunkt liegt auf der Zusammenführung wesensähnlicher Erklärungsschemata speziell aus der Organisationstheorie, um zu einem tiefgründigeren Verständnis dieser die gesamte Managementhistorie und -praxis durchdringenden Lern- und Entwicklungsmuster zu gelangen. Exploration und Exploitation werden als grundlegendes organisationales Spannungsfeld betrachtet, in dem sich alle anderen (gruppen)dynamischen Kräfte entfalten, wobei auch diese wiederum interferierend in das Hauptfeld hineinwirken (z. B. Aufgaben- vs. Beziehungsorientierung, individuelle Bedürfnisse vs. organisationale Notwendigkeit, ökonomische vs. soziale Erwägungen, Wir-Gefühl vs. Selbst-Behauptung, Kunden- vs. Mitarbeiterorientierung, formelle vs. informelle Einflüsse). Danach werden zentrale Organisationsmodelle analysiert, die beide Lernmuster dynamisch aufeinander beziehen und ein integratives, koproduktives Zusammenspiel anstreben. Diese begreifen die zwischen den Mustern angelegte Ambivalenz bzw. Paradoxie als herausfordernde Chance im Rahmen des Schnittstellenmanagements, denn Konfliktzonen sind immer auch Lernzonen (vgl. Busch
2015, S. 347 ff.). All das mündet in dem, was bereits seit Jahrzehnten in der Vorstellung der „lernenden Organisation“ zum Ausdruck gebracht worden ist (vgl. Unger
2002, S. 18) und heute unter den Schlagwörtern „Anpassungsfähigkeit“ oder „Agilität“ diskutiert wird (vgl. von Ameln
2016; Gergs
2019, S. 102 f.).
1 Exploration und Exploitation als zentrale organisationsdynamische Herausforderung
Eine wichtige Herausforderung moderner Organisationen besteht darin, die jeweiligen Vorteile des exploitativen und explorativen „Betriebssystems“ zu nutzen und unvermeidbare Nachteile bzw. blinde Flecken jedes Systems durch das andere auszugleichen, auftretende Paradoxien zu erkennen und zu gestalten, so dass beide Systeme sich nicht „feindlich“ gegenüberstehen (Govindarajan und Trimble
2010), sondern im Idealfall voneinander lernen und profitieren können (vgl. etwa Busch und Hobus
2012 für die Teamebene). Bildlich gesprochen braucht es sowohl den schwerfälligen, aber berechenbaren „Tanker“, der viel Last transportieren kann, Umsatz und Gewinn erwirtschaftet, d. h. die bürokratische, effizienzorientierte, exploitative Struktur, als auch das wendige „Schnellboot“, das auf Trends, geänderte Marktbedingungen und Kundenbedürfnisse zügig reagieren kann, dabei aber sehr kostspielig ist und nicht immer die erhofften Ergebnisse erzielt. Dies wird durch die agile, kreativitätsorientierte, explorative Struktur ermöglicht. Weder das eine noch das andere Handlungsfeld darf vernachlässigt werden, denn wohl jede Organisation will erfolgreich sein und bleiben. Ein ähnlicher Grundgedanke findet sich in der ganzheitlich angelegten Portfolioplanung strategischer Geschäftsfelder (z. B. BCG-Matrix, McKinsey-Portfolio), wonach es genügend finanzielle Rückflüsse durch erfolgreiche Geschäftsfelder braucht (cash cows), um (überhaupt) in aussichtsreiche, aber noch defizitäre Geschäftsfelder (question marks) investieren zu können. Durch Diversifikation sollen Risiken minimiert, Renditen optimiert und Wachstumschancen erhöht werden.
Eine Überfokussierung auf Exploitation, auf die effizienz- und qualitätsgeleitete Optimierung bestehender Routinen, Strukturen, Technologien und Geschäftsfelder kann in strategische Kurzsichtigkeit (learning myopia) und organisationale Trägheit (organizational inertia) münden, durch die das Unternehmen Zukunftschancen übersieht; es „schlittert“ am Ende in eine Kompetenzfalle (success trap). Aus Kernkompetenzen werden Kernrigiditäten. Dies geschieht schleichend und daher zunächst oft unbemerkt. Es geht meist so lange gut, bis kein konkurrierender „Gamechanger“ auf den Plan tritt. Speziell im digitalen Bereich ist heute eine deutliche Beschleunigung zu erkennen. Während etwa Netflix 1999 noch dreieinhalb Jahre benötigte, um auf eine Millionen User zu kommen, brauchte Facebook 2004 hierfür nur noch zehn Monate, Chat-GPT Ende 2022 fünf Tage und Threads 2023 lediglich eine Stunde (
https://www.statista.com/chart/29174/time-to-one-million-users/, Stand: 20.06.2024). Doch auch eine Überfokussierung auf Exploration birgt Risiken, indem durch die innovationsgeleitete Erkundung neuer Strukturen, Prozesse, Produkte und Märkte zu viele „unausgegorene“ Ideen und ineffiziente Praktiken entstehen, Kostenorientierung und der Aspekt ihrer ökonomischen Verwertung hingegen zu sehr ausgeblendet werden. Das Unternehmen tappt schlussendlich in die Innovationsfalle (failure trap) (vgl. Hobus und Busch
2011; Levinthal und March
1993; Leonard-Barton
1992).
Im betrieblichen Kontext ist es ein erheblicher Unterschied, ob penibel auf Kosten zu achten ist oder keine Kosten gescheut werden müssen, ob Fehler auszumerzen oder bewusst zu tolerieren, Regeln einzuhalten oder auch gebrochen werden können, ob standardisierte Ausführung oder spielerische Suche verlangt werden, ob Berechenbarkeit und Disziplin das Handeln leiten oder Offenheit und Kreativität. Das eine Mal stehen Pläne (Ziel- bzw. Produktivitätsvorgaben), Programme (Verhaltensvorgaben) und Effizienzkriterien (Zeit‑, Kosten- und Qualitätsvorgaben) im Vordergrund, Freiräume werden eingeschränkt (Varianzreduktion). Das andere Mal wird Neuland betreten. Freiräume werden geschaffen (Varianzerhöhung), um zu neuartigen Lösungen zu gelangen. Ein Bewegen auf bereits vorverlegten Gleisen ist hier unerwünscht. Gefragt ist vielmehr Denken außerhalb des Referenzrahmens. Bildlich gesprochen lässt sich Exploitation mit Formationsschwimmen im abgegrenzten Bassin und Exploration mit Freiwasserschwimmen in offenen Gewässern vergleichen. Die Bündelung beider Aktivitäten, d. h. das bisherige Geschäft so lange wie nur möglich zu betreiben und zugleich ein neues Geschäft zu entwickeln, betrachtet der Managementvordenker Fredmund Malik als entsprechend herausfordernd. „Ein guter Ansatz, aber schwierig, weil man buchstäblich in zwei Welten operieren muss. Konzerne teilen sich deshalb häufig, siedeln neue Geschäfte auf Spielwiesen außen an, wo sie nicht unter bisherige Reporting-Systeme fallen, nicht behindert werden durch die Silo-Organisation. Wo man nicht einmal ein Budget machen kann, weil alles so unplanbar ist“ (O.V.
2016; vgl. auch Tushman
2015, S. 16). Die komplette Abschottung und räumliche Separierung einzelner Einheiten von der Restorganisation wird allerdings nur für radikale, bahnbrechende Innovationen diskutiert (vgl. Henderson und Clark
1990). Bei diesen Vorhaben können sich ausgewiesene Expert*innen vollumfänglich der Exploration widmen, agieren organisationsautark, d. h. räumlich getrennt von der Linie und frei von bürokratischen Zwängen, sind mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet und besitzen einen „Sponsor“ im Top Management, der seine schützende Hand über sie hält. Vorgeschlagen werden Konzepte wie das Projekthaus, Think Tanks, autonome Teams, Innovation Labs, Inkubatoren, Skunk Works oder die Bildung von „Reservaten“ mit „Garagenatmosphäre“ (Galbraith
1982). Der Macintosh, das Android-Betriebssystem oder der Toyota Prius sind auf diese Weise entstanden (Busch und Hobus
2011, S. 14 f.).
Exploitation kann eher mit nüchtern-berechnendem, geordnet-strukturiertem Vorgehen, Exploration mehr mit den Begriffen verträumt, phantasiegeleitet, anarchisch in Verbindung gebracht werden. Auf der einen Seite steht der eher zwanghafte, auf der anderen der eher spontane Charakter. Gegenüber stehen sich allgemein Formalismus und Idealismus, die objektive Vermessung und die subjektive Anschauung der Welt, die Zahl und die Metapher, die Statistik und das persönliche Erleben. Im organisationalen Kontext finden sich hierfür die Konzepte Plan und Routine vs. Emergenz und Improvisation, Tradition und Innovation, Stabilität und Flexibilität, Bewahrung (best practice) und Kreativität (next practice).
James March hat mit dem Begriffspaar Exploration und Exploitation bereits seit langem bekannte, jedoch mit unterschiedlichen Bezeichnungen versehene, in unterschiedlichen Themengebieten und Disziplinen beschriebene Phänomene unter einem gemeinsamen Dach vereint. Viele im Change Management, in lern- oder organisationstheoretischen Ansätzen verwendete Beschreibungen lassen sich entweder dem eher explorativen oder dem eher exploitativen Lager zuordnen. Tab.
1 stellt bekannte, wesensähnliche Konzepte zusammen und liefert jeweils eine kurze Beschreibung.
Tab. 1
Exploitations- und explorationsähnliche Verhaltensmuster (deutlich erweitert, teilweise angelehnt an Busch und von der Oelsnitz
2018, S. 49 f.)
Generelle Regelung Einengung des Ermessens- und Entscheidungsspielraums; Verlust an persönlicher Gestaltungsfreiheit (Entindividualisierung) | Fallweise Regelung Die Möglichkeit zur individuellen Anordnung nach freiem Ermessen durch mit Anweisungsbefugnissen ausgestattete Personen (Individualisierung) |
Formalisierung und Standardisierung Entwicklung von Regeln und Routinen; wiederkehrende Verhaltensmuster; geplantes Verhalten | Flexibilisierung und öffnendes Verhalten Spielerische Suche nach Neuem; Improvisation je nach situativem Bedarf; emergentes Verhalten |
Varianzreduktion Selektive Retention, d. h. Reproduktion eines Organismus unter Erhaltung seiner genetischen Grundausstattung | Varianzerhöhung Variation und Mutation, d. h. zufällige oder geplante Veränderungen der Fähigkeiten und Verhaltensmuster eines Organismus |
Handlungswahl in Institutionen (choices within rules) Das Spiel (möglichst gut) spielen Regeleinhaltung (Konformität) und Pfadabhängigkeit | Handlungswahl über Institutionen (choices of rules) Die Spielregeln ändern Regelbrechung (Nonkonformität) und Pfadkreation |
Wandel 1. Ordnung Veränderung innerhalb eines invariant bleibenden Systems von einem internen Zustand zu einem anderen; gradueller, inkrementeller und begrenzter Wandel; Entwicklung, Anpassung und Verbesserung des Bestehenden Alltagsgeschäft | Wandel 2. Ordnung Veränderung des Systems; Metaveränderung; radikaler Wandel, Muster‑, Typen- und Identitätswechsel; Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses; Neudefinition von Rollen und Aufgaben Außergewöhnliche Herausforderung |
Evolutionsmodell Entwicklung in kleinen Schritten (piecemeal engineering); dauerhafter Lernprozess; erfahrungsgestütztes, selbstregulierendes und dezentrales Vorgehen Wie können wir das, was wir machen, besser machen? Kontinuierlicher Verbesserungsprozess (KVP, Kaizen), Total Quality Management | Revolutionsmodell Tiefgreifender und umfassender Wandel bzw. Umbruch (Quantensprung); begrenzte Zeitdauer; diskontinuierliches Vorgehen; Top-down-Steuerung Warum machen wir überhaupt das, was wir machen? Was können wir anders machen? Business Reengineering; Unternehmenssanierung |
Management Perfektes Organisieren von Abläufen; präzise Planung und Kontrolle; auf Qualität und Sicherheit achtend Das Bestehende bestmöglich verwalten | Leadership Geführte mit Visionen inspirieren, motivieren und ihnen Sinn vermitteln; unternehmerisch denkend und Risiken eingehend Umbrüche erfolgreich bewältigen |
Transaktionale Führung Von bestehenden Bedürfnissen ausgehen; auf Belohnungen und Bestrafungen setzen; die Fähigkeiten des Teams stärken; sich vor allem auf Positionsmacht stützen | Transformationale Führung Versuchen, Bedürfnisse zu verändern; hohe Erwartungen setzen; das Vertrauen des Teams stärken; sich auf Informations- und Identifikationsmacht (Autorität, Charisma) stützen |
Single-loop-learning Adaptives Lernen, das Handlungsweisen oder Annahmen, die Strategien zugrunde liegen, so verändert, dass die Wertvorstellungen einer Handlungstheorie unverändert bleiben Anpassungsverhalten eines stabilen Systems | Double-loop-learning Generatives Lernen, das zu einem Wertewechsel sowohl der handlungsleitenden Theorien als auch der Strategien und Annahmen führt Änderung der Situation des Systems |
Systemimmanente Kritik Kritik zur Verbesserung des bestehenden Systems; behutsame Fortentwicklung geltender Normen und Werte; Erhaltung der Tradition Orientierung am Wirklichen | Systemkritik Kritik zur Überwindung des bestehenden Systems; Entwicklung radikal neuer Normen und Werte; Zerstörung der Tradition Orientierung am Möglichen |
Thinking inside the box Konvergentes, horizontales, assoziatives Denken Verknüpfung von Ideen innerhalb bekannter Zusammenhänge, konservativ | Thinking outside the box Divergentes, laterales, bisoziatives Denken Verknüpfung von Ideen aus und zwischen bisher unbekannten Zusammenhängen, utopisch |
Normalwissenschaft Akzeptanz eines Paradigmas durch die Scientific Community; Forschung (Definition von Problemen und Lösung von Rätseln) erfolgt innerhalb dieses Paradigmas | Außerordentliche Wissenschaft Infragestellung der Grundlagen und Grundpfeiler des bisherigen Paradigmas; Veränderung der Weltanschauung mit anschließendem Paradigmenwechsel |
Erklärendes Vorgehen (Verwertung von Daten) Messung allgemeingültiger bzw. subjektunabhängiger Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge (hypothesenüberprüfend); Erfassung von Gesetzmäßigkeiten (Positivismus) | Verstehendes Vorgehen (Auswertung von Daten) Beschreibung, Erschließung und Interpretation (inter-)subjektiver Gründe und Sinnzusammenhänge (hypothesengenerierend); Aufdeckung regelmäßiger, doch einmaliger Verhaltensmuster (Hermeneutik) |
Die Theorie des punktuierten (unterbrochenen) Gleichgewichts geht davon aus, dass sich in Unternehmen längere Phasen der relativen Stabilität und des evolutionären Wachstums, in denen Kooperationsroutinen und Standardisierungen das Verhalten prägen, mit kürzeren Phasen krisenhafter Zuspitzung und des revolutionären Umbruchs abwechseln. In diesen unruhigen Phasen findet die Restrukturierung und strategische Neuausrichtung statt, die dann wieder in neue Routinen und Standards münden (vgl. O’Reilly und Tushman
2013, S. 327; Greiner
1998; Gersick
1988, S. 32 ff.). Exploitation ist demnach sowohl zeitlich als auch inhaltlich weitaus häufiger anzutreffen als Exploration. Sie bildet den im Alltag dominanten Lern- und Entwicklungsmodus. Der zyklischen Vorstellung längerer Arbeitsphasen in „ruhigeren Fahrwassern“ durchbrochen von kürzeren Änderungsphasen in „reißenden Stromschnellen“ halten Schreyögg und Noss entgegen, dass sich organisationale Probleme und Problemlösungsprozesse stark überlappen und wechselseitig durchdringen, dass neu gebildete Verhaltensweisen und Prozesse stets in alte, weiterhin bestehende Verhaltensweisen und Prozesse eingebettet sind, dass Wandel keinen wirklichen Abschluss kennt, die Welt der organisatorischen Transformationsprozesse also weit weniger geordnet und sequentialisiert ist, als es in den Gleichgewichtsmodellen des Wandels suggeriert wird. Soziales Lernen hat demzufolge von der Einsicht auszugehen, dass Organisationen inhärent ruhelos sein müssen, um zu überleben (vgl. Schreyögg und Noss
2000, S. 40 ff.). Es müssen neue Fragen zu alten Problemen gestellt oder neue Antworten auf alte Fragen gefunden werden, d. h. Organisationen haben sich kontinuierlich auf veränderte Umweltanforderungen einzustellen (vgl. Schreyögg und Noss
2000, S. 46). Die generelle Kompetenz sozialer Systeme besteht darin, sich selbst auf der Basis des Gelernten flexibel zu erhalten und zu erneuern (vgl. Schreyögg und Noss
2000, S. 51). Exploration und Exploitation stehen demnach eher in einer verschränkten Sowohl-als-auch-Beziehung als in einer getrennten Entweder-oder-Beziehung (vgl. Link
2016).
Ein weiterer Denkfehler, der durch Tab.
1 womöglich nahegelegt wird, besteht darin, davon auszugehen, dass aus dem Exploitation-Lernmodus keine großen Entwicklungssprünge hervorgehen können. Dies kann so pauschal jedoch nicht behauptet werden. Ganz im Gegenteil haben speziell Erkenntnisse aus der Expertiseforschung seit Stuart E. und Hubert L. Dreyfus (
1986) ergeben, dass – besonders in komplexen Aufgabenbereichen – sich erst dann Kreativität und Virtuosität entfalten können, wenn ein Themengebiet durch disziplinierte Übung so gründlich erschlossen worden ist, dass es fehlerfrei und mit „Leichtigkeit“ beherrscht wird. Exploitative Exzellenz – die meisterhafte Beherrschung des Handwerks und aller fachlichen Grundlagen – bildet demzufolge den Boden, aus dem heraus sowohl kleinere als auch größere Innovationen überhaupt erst erwachsen können (vgl. Sennett
2008; Ericsson und Pool
2016). Nur wer sämtliche Ecken und Winkel seines Fachbereichs kennt, wer Details (rich picture) und Zusammenhänge (big picture) erfasst, kann vorhandene Defizite und Lücken erkennen, die es noch zu schließen, und Chancen identifizieren, die es noch zu erkunden gilt. Es gibt vermutlich nur wenige Innovationen, die wie aus dem Nichts auftauchen, ohne auf vorherige Kenntnisse, den State-of-the-art eines Fachgebiets, aufzubauen. Entstehendes setzt in den meisten Fällen Bestehendes voraus, braucht intensive Auseinandersetzung mit dem Wissen und den Erfahrungen der Vergangenheit. Nach George F. Kneller besteht eines der Paradoxa von Kreativität darin, dass man sich, um wirklich originell zu denken, zuvor – was weniger geistreich ist – mit den Ideen anderer, also dem „Altbekannten“, vertraut gemacht haben muss, das dann von einem neuen Blickwinkel aus betrachtet oder mit einem bisher nicht verbundenen Gegenstandsbereich verknüpft wird (vgl. Rowlands
2011, S. 49).
Zusammen genommen verweisen all diese Beispiele darauf, dass Exploration und Exploitation sich nur auf theoretischer Ebene strikt voneinander trennen lassen. In der betrieblichen Praxis stehen sie immer in enger Verbindung, auch wenn in bestimmten Bereichen einzelne Vorgehensweisen dominieren (z. B. Produktion vs. Forschung & Entwicklung). Durch die Beschleunigung des Wandels wächst heutzutage der grundsätzliche Bedarf, Exploitation und Exploration auf sinnvolle Weise organisational zu verankern, effektiv miteinander zu kombinieren, den Austausch zu fördern und die unterschiedlichen Kultur- und Führungslogiken beider Systeme in Einklang zu bringen.
2 Organisationen als duale Betriebssysteme
Da das Grundproblem nicht neu ist, verwundert es nicht, dass es schon viele ältere Konzepte gibt, die sich mit dem Management exploitativen und explorativen Handelns beschäftigt haben. Während die älteren Konzepte eher dem dichotomen Ansatz der klaren Trennung folgten (= strukturelle Ambidextrie), bei dem das Top Management integrierende Instanz war, betonen die neueren Konzepte ihr dialektisches Verhältnis (= kontextuelle Ambidextrie), wonach sich die unterschiedlichen Lernmuster gegenseitig durchdringen und aneinander „reiben“ sollen, um aus dieser Spannung für beide Bereiche wertvolle Impulse zu liefern (im Sinne eines co-flourishing) (vgl. Gupta et al.
2006, S. 695 ff.). Die integrative und reflexive Arbeit verlagert sich hierbei als Zusatzbelastung auf relativ autonom agierende Mitarbeiter*innen (Arbeitskraftunternehmer, Intrapreneure) und Teams, bei denen Selbststeuerung und -kontrolle gleichwohl leicht in Selbstausbeutung umschlagen können (vgl. Sichler
2006, S. 61 ff.).
Eine der ältesten Gegenüberstellung findet sich in der Unterscheidung der
mechanistischen und organischen Struktur nach Burns und Stalker aus dem Jahr 1961. Beim mechanistischen (organischen) System ist die Umwelt statisch (dynamisch-komplex), die Leitungsspanne groß (klein); es besteht eine hohe (geringe) Anzahl an hierarchischen Ebenen, Entscheidungen sind stark (schwach) zentralisiert, Wissen ist an der Spitze konzentriert (netzwerkartig gestreut), der Wissenshorizont ist nach innen (außen) gerichtet, fachliche Autorität besitzt einen geringen (hohen) Stellenwert, die Qualifikationsunterschiede zwischen Stelleninhaber sind relativ hoch (niedrig), der Kommunikationsfluss ist vertikal, formell-befehlend (lateral, informell-beratend), Verantwortung wird häufig abgeschoben (erfolgt eigenverantwortlich), Motivation ist extrinsisch (intrinsisch), Stellenprofile sind abstrakt vorgegeben (werden kontinuierlich, in interaktiven Prozessen angepasst) und das Commitment ist bereichsspezifisch-gehorchend (gesamtunternehmerisch-progressiv) (vgl. Burns und Stalker
1995, S. 120 ff.).
Später wurde dies in den Konzepten der
Primär- und Sekundärorganisation gebündelt; alternative Bezeichnungen sind Linien- und Projektstruktur, Palast- und Zeltorganisation (vgl. Staehle
1994, S. 708–735, auch zu weiteren historischen Konzeptionen). Die Primärorganisation (maintenance organization) ist durch Routine und geringe Unsicherheit geprägt. Ihr Ziel ist die Produktion. Es bestehen feste Stellenbeschreibungen und Qualifikationen vor der Aufgabenübernahme. Funktionale Spezialisierung, Amtsautorität, ein langer Dienstweg und Top-down-Zielbildung kennzeichnen dieses System, dessen primärer Anreiz in der Bezahlung liegt. Die Abstimmung erfolgt vorwiegend hierarchisch (z. B. persönliche Weisung, Programm, Plan). Die Sekundärorganisation (parallel organization) ist durch Problemlösung und hohe Unsicherheit geprägt. Ihr Ziel ist die Organisation im Sinne der Hervorbringung neuer Ideen. Es bestehen flexible, rotierende Aufgabenzuweisungen, die (Weiter)Qualifizierung erfolgt während der Aufgabenbearbeitung. Diagonale Verknüpfungen, personale Autorität, ein kurzer Dienstweg und auch Bottom-up-Zielbildung kennzeichnen dieses System, dessen Anreize stärker in Lernchancen, sozialen Kontakten und Anerkennung liegen. Die Abstimmung erfolgt vorwiegend selbstorganisiert (z. B. Meeting, Feedback) (vgl. zum Vorhergehenden Staehle
1994, S. 733; Schreyögg und Koch
2020, S. 342 ff.).
Eine erste ganzheitlichere Betrachtung des Integrationsproblems innovativer und bürokratischer Strukturen lieferte Greiner in seinem
Unternehmenswachstums-Modell von 1972. Auch wenn damals die Begrifflichkeiten Exploration und Exploitation noch nicht in Verwendung waren, lassen sich die von ihm identifizierten alters- und größenabhängigen Entwicklungsphasen dem Wechsel beider Verhaltensmuster zuordnen. Sein Ansatz reiht sich in die oben erwähnte Theorie des punktuierten Gleichgewichts ein. Nach einer kreativen Wachstumsphase junger Start-ups kommt eine Führungsstilkrise. Es wird im Anschluss direktiver, zentralisierter und standardisierter geführt, was dann in eine Autonomiekrise mündet, der durch stärkere Dezentralisierung (Bildung von Profit Centern) begegnet wird. Das angestoßene Wachstum durch Delegation mündet in eine Kontrollkrise, die wieder stärker auf zielabhängige Koordination setzt, was in einer Bürokratiekrise endet. Als letzte Phase sieht Greiner Kollaboration: Das Unternehmen wird zu einem Netzwerk von Teams, die partizipativ und innovativ miteinander interagieren. Managementhandeln erfolgt spontan auf der Basis von Teams, es kommt zu einer kunstvollen Konfrontation zwischenmenschlicher Differenzen, soziale Kontrolle und Selbstdisziplin ersetzen die ausgefeilten Kontroll- und Koordinationssysteme der vorherigen Phase. Auch dieses Stadium, so spekulierte Greiner, erreiche irgendwann seinen „psychologischen Sättigungspunkt“. Mitarbeiter*innen gelangten durch die intensive Teamarbeit und den starken Innovationsdruck emotional und physisch an ihre Belastungsgrenzen. Die sich abzeichnende duale Organisationstruktur erlaube Mitarbeiter*innen, periodisch zu rasten, zu reflektieren und sich zu regenerieren: „a
habit structure for getting the daily work done and a
reflective structure for stimulating new perspective and personal enrichment. Employees could move back and forth between the two structures as their energies dissipate and are refueled“ (Greiner
1998, S. 60).
In eine ähnliche Richtung argumentierten Nonaka und Takeuchi mit ihrem Konzept der
Hypertext-Organisation. Auch hierbei handelt es sich um zwei ineinander verschränkte Strukturen: eine zentrale, hierarchisch-formale, dauerhafte Geschäftssystem-Ebene und eine dezentrale, heterarchisch-informale, temporäre Projektteam-Ebene. Beide greifen auf eine gemeinsame Wissensbasis zurück (Unternehmensvision und -kultur, Datenbanken, Technologien). So wie Computer mehrere Schichten im Hypertext durchforsten, navigieren Mitglieder der Hypertextorganisation durch unterschiedliche Schichten mit je eigenen Lernkontexten. Von der klassischen Linie werden sie in Projekte abgestellt, dokumentieren nach deren Beendigung diese Erfahrungen in der Wissensbasis und transferieren sie zugleich mit ihrer Rückkehr in die Linie wieder in das Geschäftssystem (vgl. Nonaka und Takeuchi
2012, S. 201 ff.). Übergeordnetes Ziel ist es, bürokratische Effizienz mit lokaler Flexibilität in Teams in Einklang zu bringen. Güttel und Konlechner (
2009, S. 166 f.) konnten ähnliche Mechanismen für ein forschungsintensives Unternehmen nachweisen. Hochqualifizierte Mitarbeiter*innen waren sowohl in Grundlagenforschung als auch in angewandter Forschung und Dienstleistung eingebunden, indem sie einerseits in wissensschöpfenden, andererseits in wissensverwertenden Projekten tätig waren (dual anchorage). Ihre überlappende Mitgliedschaft sorgte für einen intensiven Wissens- und Erfahrungstransfer. Die fluiden Projektstrukturen wirkten als integrative Mechanismen zwischen der explorativen und der exploitativen Welt (vgl. auch Reischl et al.
2022 für eine Betrachtung dieses Problems in KMU).
Kotter hat mit seinem Konzept des
dualen Betriebssystems den bekanntesten Ansatz entwickelt. Auch in diesem greifen flexibel-kreative (Team‑)Netzwerke und Hierarchien ineinander. Es kommt zum fortwährenden Austausch von Informationen und Aktivitäten, ja erst dieser intensive Austausch unterscheidet das System von der klassischen Unterteilung in Primär- und Sekundärorganisation. Es existiert eine „untrennbare Partnerschaft von Hierarchie und Netzwerk, nicht nur eine optimierte Hierarchie (…) Es geht nicht darum, dass die eine Seite hart und kennzahlengesteuert, die andere dagegen weich oder unverbindlich ist (…) ein gut geführtes Netzwerk [besteht] keineswegs [nur] aus enthusiastischen Freiwilligen, die einfach machen, was sie wollen“ (Kotter
2015, S. 20 f.). Der explorative Bereich lernt also vom exploitativen Bereich und umgekehrt. Derselben Grundlogik folgen die „
agilstabile Organisation“ (Pircher
2018) und die „
chaordische Organisation“ (Hock
2008), auf die an dieser Stelle nur der Vollständigkeit halber verwiesen werden soll. Und schließlich wird auch das
Toyota Production System immer wieder als „ambidextere Benchmark“ der erfolgreichen Bewältigung organisationaler Paradoxien herausgestellt (vgl. Adler et al.
2009).
Im Bereich der Agilität wird mit dem Konzept der
Holokratie auf Hierarchie im klassischen Sinne verzichtet, doch tritt sie über die Hintertür in Gestalt ausgefeilter Meetingsysteme und Rollenstrukturen sowie durch umfangreiche Regelwerke doch wieder ein (vgl. Farkhondeh und Müller
2021). An die Stelle künstlich geschaffener Machthierarchien, die nach Robertson durch die Distanz zwischen Entscheidungsbedarf und Entscheidungsbefugnis viel zu lange Reaktionszeiten aufweisen und zur Silobildung neigen, treten dynamisch veränderliche Governancestrukturen mit verteilter Autorität im Sinne natürlicher Zweckhierarchien. Gestaltungsentscheidungen werden nicht mehr allein von oben getroffen, sondern auch durch Echtzeit-Daten in lokal angesiedelten Einheiten. An die Stelle festgelegter Stellenprofile treten bedarfsabhängige, klar abgegrenzte und talentbezogen besetzte Rollen. Spannungen, d. h. von Mitarbeiter*innen wahrgenommene Herausforderungen und Möglichkeiten, dienen als kontinuierliche Veränderungsimpulse – einerseits für operative Meetings, in denen iterativ und inhaltsgetrieben die nächsten Schritte abgestimmt, eingeschätzt und protokolliert werden (exploitatives Arbeiten im Team), andererseits für Governance-Meetings, in denen Rollenstrukturen überprüft und verbessert werden (exploratives Arbeiten am Team) (vgl. Robertson
2016, S. 26 ff.). Die Holokratie passt sich, so die Idealvorstellung, wie ein Chamäleon den jeweiligen situativen Erfordernissen an. Dies schließt ein Nebeneinander relativ stabiler und höchst veränderlicher Rollenstrukturen jedoch nicht aus. Eine empirische Studie zu mehreren Unternehmen, die dem holokratischen Modell folgen, hat etwa ergeben, dass aufgrund der Gestaltungsprinzipien der Holokratie die Organisation sogar stark formal durchstrukturiert wird (Sua-Ngam-Iam und Kühl
2021).
Als letztes unter volatilen, unsicheren, komplexen und ambigen (VUKA-)Bedingungen operierendes Organisationskonzept soll hier das
Team of Teams-Modell von General McChrystal betrachtet werden, der dieses als Antwort auf die Situation, der sich die US Army in Afghanistan gegenübersah, erfahrungsbasiert entwickelte. Die Organisation besteht wiederum aus ineinander verschachtelten Teams, die Organisationen im Kleinformat bilden (empowered execution). Leitprinzipien regeln das Miteinander, aber selbst diese sind nicht auf Dauer gestellt, sondern stellen Antworten auf die momentan gültige Situationsdeutung dar. Geführt und zusammengehalten wird diese anpassungsfähige Organisationsstruktur von einem „Team der Teams“. Es sorgt für strikte Kommunikationsforen und zentrale Vorgaben. Dabei wird eine ausgeprägte Transparenz gepflegt und von allen verlangt (vgl. McChrystal et al.
2020; Weibler
2019). Einschränkend ist hier allerdings zu sagen, dass sich diese äußerst anpassungsfähige Struktur von den zuvor erörterten Konzepten insofern abgrenzt, als die hochdynamischen Bedingungen in der Regel nicht den „normalen“ betrieblichen Rahmenbedingungen entsprechen (auch wenn das ursprünglich aus dem Bereich des Militärischen stammende VUKA-Konzept zunehmend auf die Wirtschaft übertragen wird).
3 Verbindungen herstellen, Vernetzen und Übersetzen als Kernaufgaben
Zwar ist Koordination schon immer eine der wichtigsten organisationalen Grundfunktionen gewesen, ja Organisation
ist Koordination, doch ging es in traditionellen Strukturen mehr um die zielgerichtete Ausrichtung (alignment) von Einzelaktivitäten und Ressourcenzuweisung „von oben“, weniger um den Brückenschlag zwischen den unterschiedlichen „Lernwelten“. Der integrative Gesamtblick, die Herstellung einer strategischen Grundausrichtung war primär eine Funktion der Geschäftsführung. Exploitation und Exploration wurden als getrennt voneinander zu verfolgende Aufgaben behandelt. Moderne, dual operierende Organisationen sollten es auf allen Ebenen schaffen, Verbindungen zwischen den zwei Welten herzustellen, das Schnittstellenmanagement zu optimieren, die interfunktionale Zusammenarbeit zu forcieren und allgemein das Überschreiten von Grenzen zu ermöglichen (boundary spanning, vgl. Ancona und Bresman
2007; Busch
2015, S. 280 ff.). Jedem einzelnen Organisationsmitglied kommen hierbei Steuerungs- und Verknüpfungsaufgaben zu. Es geht um Vernetzung und um Übersetzung, um Brückenbau und gegenseitige Anregung durch Informations- und Erfahrungsaustausch. Solche über die rein operativen Aufgaben hinausgehenden Aktivitäten werden häufig als nebensächlich betrachtet, ihr indirekter Wertschöpfungsbeitrag ist jedoch – im Sinne eines „invisible asset“ – sehr wertvoll, ja er bildet das Rückgrat dualer Organisationen. Noch viel zu selten werden diese Aufgaben als eigenständige Aufgaben anerkannt, auch wenn in der Forschung bereits seit langem entsprechende Konzepte diskutiert werden. Insbesondere kommen hierfür erfahrene Mitarbeiter*innen und solche mit besonderen Talenten in Frage. Bei Toyota gibt es beispielsweise sog. „Koordinatoren“ mit einer „Anlernzeit“ von 20 Jahren, die über einen Rundumblick auf den gesamten Fertigungsbereich verfügen, also sowohl Detail- als auch Überblickswissen in sich vereinen. Ihre Zahl wird auf etwa 2000 Personen im Konzern geschätzt. Weltweit sind diese „Allroundtalente“ als Trainer, Vermittler und Mentoren (sensei) gefragt. Jüngere Mitarbeiter*innen können von ihrem reichen Wissens- und Erfahrungsschatz profitieren. Koordinatoren verkörpern zugleich grundlegende Werte und Prinzipien des Unternehmens (vgl. Stewart und Raman
2007, S. 81).
Im Rahmen promotoren- und rollentheoretischer Modelle werden zwar nicht solche Ausnahmeerscheinungen behandelt, aber doch herausragende, führungssubstituierend wirkende, oft informell und lateral auftretende Mitarbeiter*innen mit besonderen Einzelleistungen. Sie verfügen z. B. über vertieftes Organisations- und Beziehungswissen, spezielle fachliche Kenntnisse, kommunikatives Geschick, Koordinations- und Moderationstalent oder ausgeprägte Managementfähigkeiten (vgl. Belbin
2001; Gemünden et al.
2006). Speziell die auf Verbindung abzielenden
Liaison-Konzepte gewinnen in dualen Organisationen immer mehr an Bedeutung, da sie nicht nur zusammenführend wirken und das gegenseitige Lernen anregen, sondern auch Zufallsentdeckungen (serendipity) wahrscheinlicher machen (vgl. Busch
2023). Im Verlauf der Zeit wurden hierfür bereits zahlreiche Bezeichnungen entwickelt: Integrator, Koordinator, Kommunikationsingenieur, „transferral occupations“ (Litwak
1961), „linking pin“ (Likert
1967), „technological gatekeeper“ (Allen und Cohen
1969), „nerve center“ bzw. „focal point“ (Mintzberg
1973), „external relations“ bzw. „(team) boundary spanning“ (Ancona und Caldwell
1992), „t-shaped skills“ (Iansiti
1993), „Schnittstellen-Manager“ (Brockhoff
1994), „sociometric star“ (Scott
2000), „Kreis-Lead“ bzw. „Lead-Link“ (Robertson
2016). All das sind Bezeichnungen von Mitarbeiter*innen und ihrer (trans)funktionalen Beiträge, die auf eine „Übersetzer- oder Mittlerrolle zwischen unterschiedlichen Abteilungen (Fach- und Berufsorientierung), unterschiedlichen Organisationsformen (Hierarchie/Teams) und unterschiedlichen Handlungsorientierungen (Planung/Entscheidung)“ (Staehle
1994, S. 735) verweisen (vgl. auch Choi
2002, S. 198 und Weinkauf et al.
2005, S. 98 zu einem allgemeinen Überblick über formelle und informelle Integrationsmechanismen). Am Ende geht es immer um die Überwindung von Grenzen, die Ermöglichung von Durchlässigkeit, die Aufrechterhaltung eines kontinuierlichen, auf Vertrauen und Kooperation aufbauenden Informationsflusses, der nicht nur Einzelakteure, sondern zunehmend Netzwerke mit geeigneten Vernetzungsformaten (z. B. Großgruppenmethoden) erfordert (vgl. Gergs
2019, S. 107). Die Gestaltung des betrieblichen Kommunikationsraums wird zu einer vordringlichen Managementaufgabe (vgl. Gergs
2017, S. 321).
Likert hat mit seinem Linking-Pin-Modell bereits früh versucht, eine liaisonbasierte Organisation theoretisch zu konzipieren. In dieser sind sämtliche Teams vertikal, horizontal und lateral umfassend vernetzt; zudem fand bereits damals der Gesundheitsaspekt von Mitarbeiter*innen Berücksichtigung. Likert sprach vom partizipativen System 4 (dem das konsultative System 3, das wohlwollend-autoritäre System 2 und das ausbeuterisch-autoritäre System 1 vorgelagert sind) (vgl. Likert
1967, S. 50 f.,
1972, S. 110 ff.). Zu betonen ist allerdings, dass es sich hierbei um ein Modell handelt, das die Wirklichkeit vereinfacht, aber auch um eine Idealvorstellung, die durch Egoismus, mikropolitisches Verhalten, Neid, Macht‑, Geld- und Geltungsgier und viele andere weniger tugendsame menschliche Strebungen im betrieblichen Alltag untergraben und daher höchst selten, wenn überhaupt, erreicht wird. Die Abweichung zwischen theoretischem Anspruch und gelebter Wirklichkeit gilt allerdings für sämtliche zuvor dargestellten Organisationskonzeptionen. Abgesehen davon kann Likerts Modell aber auch heute noch wertvolle Anregungen liefern, um dazu beizutragen, dass Exploration und Exploitation besser zueinander finden und sich gegenseitig ergänzen. Denn auch wenn die Frage der Integration der zwei Welten bereits seit Jahrzehnten diskutiert wird, bleibt sie eine zentrale Herausforderung, der sich jede etwas größere Organisation gegenübersieht. Wolfgang Staehles Resümee von vor dreißig Jahren hat nichts an Aktualität und Gültigkeit eingebüßt: „Das zentrale Problem der heutigen Organisationspraxis ist, wie Primär- und Sekundärorganisation sinnvoll nebeneinander und miteinander arbeiten können“ (Staehle
1994, S. 735). Weick (
1995, S. 162) hat hierfür eine treffende plastische Formulierung gefunden: „Organisationen fallen auseinander und müssen ständig neu hergestellt werden.“ Nur die Auseinandersetzung verhindert ein Auseinanderfallen (vgl. Lackner
2008, S. 90).
4 Fazit
Exploration und Exploitation bilden seit den Anfängen der Industrialisierung, ja überhaupt in allen strukturierten zwischenmenschlichen Kooperationen den Ausgangspunkt grundlegender Entwicklungen und Dynamiken. Dieses innerorganisationale Spannungsfeld bewusst zur Kenntnis zu nehmen und über die Möglichkeiten seiner aktiven Gestaltung nachzudenken, ist in den letzten Jahrzehnten allerdings drängender geworden. Der vorliegende Beitrag hat seinen Schwerpunkt bewusst auf die organisationale Ebene gelegt. Diese setzt den Rahmen für gruppenbezogenes und individuelles Verhalten. Natürlich haben sich auch Teams und der/die einzelne Mitarbeiter*in den widersprüchlichen Arbeits- und Lernanforderungen zu stellen. Die Besonderheiten, die Exploration und Exploitation auf diesen Ebenen entfalten, die Klärung des Zusammenspiels von Individuum, Gruppe und Organisation im Sinne einer ganzheitlichen Mehrebenenbetrachtung inklusive der Einbindung von Umwelteinflüssen sind ebenso zu berücksichtigen und zukünftig noch eingehender zu untersuchen. Speziell selbstorganisierte Teams leisten im operativen Alltag Kernaufgaben, indirekt aber auch Übersetzungs- und Vernetzungsarbeit. Sie sind diejenigen Orte der Spannungsbearbeitung, in denen die Teammitglieder, aber auch die Teamführung den Umgang mit widersprüchlichen Anforderungen tagtäglich erfahren, erlernen und kultivieren müssen.
Der professionelle Umgang mit Widersprüchen gilt geradezu als Kriterium der Gruppenreife; die dadurch in Gang gesetzten gruppendynamischen Reibungsprozesse sind wichtige Entwicklungstreiber (vgl. Lackner
2008). Exploration und Exploitation bilden somit lediglich den größeren organisationalen Spannungsbogen ab, innerhalb dessen viele weitere Widersprüche auftreten und zu klären sind (z. B. Selbstbestimmung vs. Fremdbestimmung, Demokratie vs. Hierarchie, Sinnhaftigkeit vs. Indifferenz, Personen- vs. Aufgabenbezug, Transparenz vs. Intransparenz, vgl. Krejci und Groth
2020, S. 61, 66 f.; Gergs und Lakeit
2020). Das Faszinierende an der Exploration-Exploitation-Betrachtung besteht darin, dass es sich bei dem Begriffspaar um keine „fertigen“, fest umrissenen Konzepte handelt, sondern um begriffliche Annäherungen an Phänomene, die ihrem Wesen nach variabel und deshalb quasi als Daueraufgabe aufzufassen sind. Damit stehen sie in der Tradition der kontingenztheoretischen Vorstellung, nach der es keinen allzeit gültigen „one best way“ organisationalen Handelns gibt, sondern dass immer wieder eine Überprüfung der jeweiligen Passung (fit) zwischen Organisation und Umwelt zu erfolgen hat, die das eine Mal eine mehr exploitative, das andere Mal eine mehr explorative Verhaltensausrichtung geboten erscheinen lässt. Das wechselnde Aufsetzen der explorativen und exploitativen „Brille“ auf ein und dasselbe Organisationsgeschehen ermöglicht nicht nur die Entdeckung neuer Einsichten, sondern verhindert auch Kurzsichtigkeit durch eine einseitige Lernfixierung. Der Ausgleich zwischen explorativen und exploitativen Kräften verläuft dabei wie in einer guten Ehe nie konfliktlos. Stabile, vertrauensbasierte Partnerschaften sind äußerst selten perfekt, vielmehr entwickeln sie sich durch die Kunst des konstruktiven Streitens weiter. Entsprechend können auch Organisationen durch positive Konfliktbewältigung ihre Anpassungs- und Überlebensfähigkeit ausbauen.
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