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13-10-2021 | Fahrerassistenz | Schwerpunkt | Article

Warum auch Fahrerassistenzsysteme verschleißen

Author: Christiane Köllner

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Immer mehr Assistenzsysteme gehören zur Pflichtausstattung von Neufahrzeugen in der EU. Die Systeme sorgen für mehr Verkehrssicherheit, aber nur, wenn sie regelmäßig überprüft werden. 

Fahrassistenzsysteme sollen zu mehr Verkehrssicherheit beitragen und sind deshalb zunehmend vorgeschrieben. Ab kommendem Jahr gehören eine Reihe von Assistenzsystemen zur Pflichtausstattung von Neufahrzeugen in der Europäischen Union (EU), darunter Spurhalteassistenten, Notbremsfunktionen oder Rückfahrsysteme. Die Systeme müssen aber verlässlich funktionieren, um zuverlässig zu reagieren. 

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Fahrerassistenzsysteme und Automatisiertes Fahren

Fahrerassistenzsysteme erlebten bereits seit den Anfängen in den 70er und 80er Jahren eine faszinierende Entwicklung, die noch längst nicht abgeschlossen ist: Einerseits sind Einzelsysteme wie Adaptive Cruise Control, Lane Keeping Assistant, Parkassistenz etc. bereits in Serie, die bestimmte Aspekte der Fahrzeugführung unterstützen, indem sie z. B. bei der Längs- oder Querführung assistieren. Diese Entwicklung hat sowohl an Dynamik als auch an Funktionsvielfalt zugenommen.

Risikoereignisse könnten zunehmen

Dazu gehört auch, dass sie über die gesamte Lebensdauer des Fahrzeugs gewartet und kontrolliert werden müssen, sonst besteht die Gefahr, dass sie selbst zum "Risikofaktor" werden. Im Jahr 2029 könnte es nach Hochrechnungen der Experten von TÜV Rheinland und des britischen Transport Research Laboratory (TRL) auf den Straßen in der EU durchschnittlich rund 790.000 Risikoereignisse im Jahr geben, die allein auf eine verminderte Leistung von Spurhalteassistenzsystemen zurückgehen, wie die Fachleute in einer Studie untersucht haben. Für die Studie wurde am Beispiel von Spurhalteassistenzsystemen (Lane Keeping Assistants, LKA) analysiert, wie sich alterungsbedingter Verschleiß, Schäden am System und Unfälle oder mangelnde Kalibrierung von Kameras beim Austausch von Windschutzscheiben auf die Funktion von Assistenzsystemen konkret auswirken.

Je nach Szenario zeige sich in der aktuellen Studie, dass die geschätzte Zahl der durchschnittlichen jährlichen Risikoereignisse durch Fehlfunktionen der Systeme sogar bis zu 2,3 Millionen betragen könne. Als sogenannte Risikoereignisse gelten Fehler im System, die die Leistung, hier des LKA, vermindern. Spurhalteassistenzsystemen sind ein Schlüssel für das hochautomatisierte Fahren. Daher ist ihre Leistungsfähigkeit und funktionale Sicherheit besonders relevant.

Zu wenig bekannt

Nach Einschätzung von Dr. Matthias Schubert, als Executive Vice President Mobilität bei TÜV Rheinland für das globale Mobilitätsgeschäft verantwortlich, sei allerdings zu wenig darüber bekannt, wie sich Unfälle, unsachgemäße Reparaturen oder Verschleiß langfristig auf die Funktionsfähigkeit von Assistenzsystemen und damit auf die Sicherheit im Straßenverkehr auswirken. "Assistenzsysteme müssen über viele Jahre hinweg zuverlässig funktionieren. Mit unserer Studie haben wir erste Erkenntnisse darüber gewonnen, unter welchen Umständen Spurhaltesysteme möglicherweise nur noch eingeschränkt funktionieren – und welche Folgen das für die Sicherheit auf den Straßen haben kann", sagt Schubert. Er plädiert deshalb dafür, weitere Untersuchungen zur dauerhaften Verlässlichkeit der Assistenzsysteme und ihren Verschleiß durchzuführen.

Modifiziertes Testfahrzeug mit verschiedenen Szenarien

Im Rahmen der Studie unternahmen Fachleute von TÜV Rheinland auf der Teststrecke Zalazone in Ungarn Fahrten mit einem modifizierten Testfahrzeug, das über ein hochmodernes Spurhalteassistenzsystem verfügte. So hätten die Experten beispielsweise Beschädigungen der Windschutzscheibe im Bereich der LKA-Kamera, eine fehlerhafte Kalibrierung der Kameras nach Austausch der Windschutzscheibe und Unterbrechungen der Datenkommunikation im Fahrzeug während der Fahrt simuliert. Weiterhin seien Komponenten künstlich gealtert worden. In einem Szenario hätten sie zudem Veränderungen am Fahrwerk vorgenommen.

Bei den Versuchsfahrten verglichen die Fachleute, wie sich der modifizierte Pkw jeweils in unterschiedlichen Streckenabschnitten (Kurve und Gerade) verhielt. Im Fokus hätten Situationen, bei denen weder Kontrollleuchten noch andere Warnsysteme aktiviert wurden, gestanden. Beobachtet haben die Fachleute etwa bei simulierten Steinschlägen in der Windschutzscheibe, dass sich die Funktion des LKA verschlechterte und es sich in seltenen Fällen ohne Vorwarnung abschaltete. Auch das Überfahren der Fahrbahnmarkierung ohne Vorwarnung oder Reaktion des Systems hätten die Fachleute feststellen können. Bei der provozierten Kontaktunterbrechung in der Datenleitung des Pkw während der Fahrt habe sich das System sofort deaktiviert, die folgende abrupte Rückkehrbewegung des Lenkrads in Richtung der Mittelstellung könne den Fahrer überraschen.

Der Routine-Effekt: Fahrer werden überrascht

"Die zunehmende Verbreitung von Fahrassistenzsystemen führt dazu, dass wir uns immer mehr auf sie verlassen. Das passiert unbewusst – auch, wenn uns die Systeme eigentlich nur entlasten sollen und die Verantwortung immer bei uns als Fahrerin oder Fahrer verbleibt", erklärt Rico Barth, globaler Leiter des Kompetenzbereichs vernetztes und automatisiertes Fahren bei TÜV Rheinland.

Passiert dann ein Risikoereignis, kann es heikel werden. Ein solches Ereignis könne laut TÜV Rheinland beispielsweise dann auftreten, wenn sich ein gealtertes Spurhalteassistenzsystem wie vorgesehen abschaltet, weil es wegen Beschädigung der Windschutzscheibe in gewissen Situationen nicht mehr richtig "sehen" kann. "Die spontane Abschaltung des Systems wird dann problematisch, wenn der Fahrende in diesem Moment nicht voll konzentriert ist oder die Hände nicht fest am Lenkrad hat, weil sie oder er sich vollständig auf das System verlassen hat“, so Rico Barth. "Mit anderen Worten: Manche Situationen erleben Fahrerinnen und Fahrer als Fehlfunktion, obwohl das Assistenzsystem richtig funktioniert."

Wie Untersuchungen der Hochschule Kempten und MdynamiX herausgefunden haben, ist bei Fahrerassistenzsystemen aber nicht nur durch den Routine-Effekt problematisch, sondern auch psychischer Stress, wie aus dem Artikel Fahrerlebnis versus mentaler Stress bei der assistierten Querführung der ATZ 2-2019 hervorgeht. So haben die beiden Partner in einer Studie Probanden im Realeinsatz die Fahreigenschaften von LKAs testen lassen. Die Probanden klagen über den psychischen Stress bei eingesetztem LKAs. Unvorhersehbare Systemabbrüche, intransparente Systemgrenzen, hoher Überwachungsaufwand und schlechte Spurführungsgüte führten zu schlechten Bewertungen im Sinne von Sicherheitsgefühl und Komfort.

Regelmäßige Wartung und Einbindung in Hauptuntersuchung

Wie gut ein technisches System auf Dauer funktioniert, so TÜV Rheinland, lasse sich nur durch eine regelmäßige Wartung und technische Überprüfung zeigen. Dafür sei unter anderem der Zugang zu den Systemdaten für unabhängige Dritte wie TÜV Rheinland im Rahmen der wiederkehrenden Hauptuntersuchungen wichtig. Denn die korrekte Funktionsweise eines Assistenzsystems könne sich schon durch kleine Unfälle oder fehlerhafte Reparaturen gravierend verändern. So sollen beispielsweise bereits 2025 in der EU voraussichtlich rund 9,7 Millionen mit Kameras ausgestattete Windschutzscheiben ausgetauscht werden; 2019 waren seien es erst zwei Millionen gewesen. 

Das durchschnittliche Alter der zugelassenen Pkw in Deutschland liegt nach Angaben des Kraftfahrt-Bundesamtes aktuell bei 9,8 Jahren. Tendenz steigend. Nach Meinung von Schubert sollten deshalb nun dringend weitere Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie sich die verlässliche Funktion der Fahrassistenzsysteme über deren gesamte Lebensdauer sicherstellen lasse. So könnte eine weitere Studie beispielsweise zusätzliche Assistenzsysteme wie etwa vorausschauende Notbremssysteme oder Assistenzsysteme aus dem Kleinwagensegment in den Blick nehmen.

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