Insbesondere schnelle Sportwagen werden immer öfter im Computer entwickelt. Dr. Ingo Albers von Porsche erläutert den Sinn von realen Straßentests und Prüfstandsläufen im Interview.
Ingo Albers, Projektleiter Fahrwerk Baureihe Taycan
Porsche
ATZ / Springer Professional: Herr Dr. Albers, wir alle kennen und lieben die Filmaufnahmen von Testfahrten mit Fahrzeugen aus Zuffenhausen beziehungsweise Weissach auf der Nordschleife des Nürburgrings. Ist die Bedeutung dieser Tests angesichts von modernen Computersimulationen und realitätsnahen Prüfstandsläufen weniger wichtig geworden?
Albers: Sie haben Recht, diese Filmaufnahmen werden von vielen Fans und Kunden sehr gern gesehen, es sind ja auch tolle Onboard-Aufnahmen dabei, die wir selber auch gern sehen. Wir leben davon, Emotionen auszustrahlen und erfahrbar zu machen. Wir werden ganz klar und ohne Wenn und Aber den Nürburgring als unser Erprobungswohnzimmer behalten, auch wenn wir andere, ergänzende Entwicklungsmethoden einsetzen. Wir sind überzeugt: Wenn ein Fahrwerk auf der Nordschleife funktioniert, funktioniert es überall auf der Welt.
Mechatronische aktive Wankstabilisierungen dienen dazu, die Bandbreite zwischen komfortablem Fahren und sportlichem Um-die-Ecke-Driften möglich zu machen. In welchen Fahrzeugsegmenten spielen dieses Systeme ihre Vorteile am besten aus: im SUV (Cayenne) oder in der Limousine (Panamera)?
Wir setzen unsere Wankstabilisierungssysteme in der Mehrzahl unserer Baureihen ein, nämlich in Cayenne, Taycan, Panamera und 911. Wir sind von diesen Systemen sehr überzeugt, da sie in allen Fahrzeugen sowohl die Performance als auch den Fahrkomfort steigern. Die SUV profitieren am meisten, da der Zielkonflikt mit höherem Schwerpunkt zunimmt, und auch die Wirksamkeit alleine durch die signifikante Reduktion der Wankwinkel optisch sehr deutlich wird.
In Bezug auf Fahreigenschaften wie Präzision und Fahrbarkeit profitieren jedoch alle Fahrzeuge von der schnellen Anpassung der Wankmomentverteilung an die jeweilige Fahrsituation. Weiterhin ermöglicht das System bei den SUV im Gelände durch aktives Entkoppeln der Räder eine bessere Radlastverteilung und somit höhere Traktion.
Welche Knackpunkte gilt es in deren Auslegung zu berücksichtigen?
Wie bei allen mechatronischen Systemen ist es wichtig, bei der Auslegung das komplette mechatronische Systemverhalten im Fahrzeug zu berücksichtigen. Ausgehend vom Zielfahrzeugverhalten werden die notwendigen maximalen Aktuator-Momente sowie die erforderliche Systemdynamik ermittelt. Damit lassen sich dann die Aktuator-Dimensionierung sowie die Anforderungen an Sensorik und Steuergeräte ableiten. Dieser Prozess geschieht bei Porsche komplett rechnerisch und erfolgt in engem Dialog mit dem jeweiligen Entwicklungspartner.
Wie wird das automatisierte Fahren nach SAE-Level 3 die DNA des Hauses Porsche verändern? Was ist mit Level 4 und 5 zu erwarten, auch in Sachen Chassistechnik?
Die Fahrerassistenz ist bei Porsche im Fahrwerkbereich integriert, sodass wir hier die Wechselwirkungen sehr effizient und intensiv diskutieren können. Wir haben bei Porsche immer sehr fahraktive und Fahrer-zentrierte Fahrzeuge, aber selbstverständlich wollen wir unsere Fahrer in vielen Situationen möglichst gut und komfortabel entlasten. Das sind besonders solche Situationen, in denen aktives Fahren nicht im Fokus steht, etwa im Stau oder beim Parken. Weiterhin wird in allen Porsche-Fahrzeugen der Stand der Technik im Bereich Sicherheit verfügbar sein. Die höheren SAE Level haben einen signifikanten Einfluss auf mögliche neue Innenraumarchitekturen und somit auch auf Pedalerie, Bremssystem, Lenkrad und Lenksystem.
Weiterhin gibt es hohe Anforderungen bezüglich Systemverfügbarkeit, Fehlerraten und Bordnetz. Unter Anderem werden redundante multimodale Sensorsysteme benötigt, die die Fahrzeugumgebung vollständig nach allen Seiten abdecken, sowie redundante Hochleistungsrechner, die die enorme Sensor-Datenmenge verarbeiten können. Das automatisierte Fahren ab Level 3 wird gegenüber den bisher bekannten teilautomatisierten Funktionen etwas weniger Differenzierungs-Bandbreite in der Funktionsausprägung und Funktionsapplikation zulassen. Gerade aber auch bei den hochautomatisierten Funktionen wollen wir das Differenzierungspotenzial soweit wie möglich nutzen und unseren Kunden ein gesamthaftes Erlebnis mit typischer Porsche DNA bieten.
Auf der chassis.tech plus am 29. und 30. Juni 2021, auf der Sie in München auch eine Keynote halten werden, sind dieses Jahre sehr viele Vorträge über die Entwicklungsarbeit am Fahrwerk mit Fahrsimulatoren zu hören. Welche Aspekte müssen beachtet werden, um deren Nutzen voll zur Geltung zu bringen?
Generell kann man sagen, dass insbesondere die Entwicklungsarbeiten in den frühen Konzeptphasen gestärkt werden müssen, um bei den hohen Komplexitäten zu den Haupt-Entwicklungs- und Applikationsphasen gut gerüstet und sortiert zu starten. Primär setzen wir in der frühen Phase unsere bei Porsche erarbeiteten und etablierten Objektivkennwerte ein. Anhand dieser Kennwerte sind wir in der Lage, mittels Simulation sehr präzise das Fahrverhalten zu prognostizieren und somit Eigenschaftsziele bis auf Bauteilebene abzuleiten. Mit dem Fahrsimulator nutzen wir ein weiteres Werkzeug, welches in der Lage ist, unseren Entwicklungswerkzeugkasten zusätzlich zur reinen Simulation am Arbeitsplatz und zur Applikation am Fahrzeug perfekt zu ergänzen.
Durch die Möglichkeit, dem Abstimmungsexperten frühzeitig mittels Simulator die Chance zu geben, seine Erfahrung einzubringen, starten wir mit einem höheren Reifegrad in die Hardware-Phase. Wir nutzen also die Vorteile der Simulation, Simulatoren, Prüfstände und der realen Erprobungsträger in Abhängigkeit der Aufgabenstellung unter Berücksichtigung des jeweiligen Kosten- und Nutzenverhältnisses.
Das gesamte Interview mit Dr. Ingo Albers können Sie in der ATZ 5-6/2021 nachlesen.