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2016 | Book

Handbuch Entwicklungsforschung

Editors: Karin Fischer, Gerhard Hauck, Manuela Boatcă

Publisher: Springer Fachmedien Wiesbaden

Book Series : Springer NachschlageWissen

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About this book

Das Handbuch führt in den aktuellen Diskussionsstand der sozialwissenschaftlichen Entwicklungsforschung ein und liefert einen systematischen Überblick über die Vielfalt der vertretenen Paradigmen und Forschungsfelder.

Table of Contents

Frontmatter

Einleitung

Frontmatter
Was ist Entwicklungsforschung?
Entstehung, Gegenstand und Arbeitsweise einer jungen Disziplin

Wie sollen wir es nennen, das vorliegende Handbuch? Dass wir uns überhaupt diese Frage stellen, verweist auf ein akademisches Feld, dessen disziplinäre und institutionelle Verortung mitnichten eindeutig ist. Der Band versammelt Beiträge von ForscherInnen unterschiedlicher Fachrichtungen. Ihre Herkunftsdisziplinen reichen von Soziologie und Politikwissenschaft über Anthropologie bis Geschichte und Volkswirtschaft. Dass wir uns schließlich für den Titel „Entwicklungsforschung“ entschieden haben, eine Übertragung der „Development Studies“ ins Deutsche, macht die Sache nicht klarer. Denn die Vorstellungen davon, was Development Studies sein sollen, sind, wie Uma Kothari schreibt, „ so vielfältig, unterschiedlich und umstritten wie das, was Entwicklung selbst ausmacht“ (Kothari 2005a, S. 3, Ü. d. A.).

Karin Fischer, Manuela Boatcǎ, Gerhard Hauck

Theoretische Positionen

Frontmatter
Marxistische Entwicklungstheorie

Der niemals endende Zwang zur Kapitalakkumulation ist für alle marxistische Entwicklungstheorie das Grundgesetz der kapitalistischen Entwicklung. Diese Akkumulation aber verläuft niemals geradlinig und ungestört. Denn die Notwendigkeit der Akkumulation erzwingt zwar ständiges Wachstum der Produktion, aber die Steigerung der kaufkräftigen Nachfrage der Bevölkerung kann damit niemals auf Dauer Schritt halten, was in den zyklischen Krisen seinen Ausdruck findet. Reichtumstransfers von außen, insbesondere aus den Kolonien und Postkolonien, haben dieses Dilemma in den kapitalistischen Metropolen immer wieder abgeschwächt und zu überzyklischer Kapitalakkumulation verbunden mit überzyklischer Steigerung der Massenkaufkraft beigetragen. Inwieweit Entwicklung dieser Art auch ohne Außenbeiträge möglich ist, ist eine der großen Streitfragen in der marxistischen Diskussion.

Gerhard Hauck
Modernisierungstheorien

Ansetzend an der Herausforderung der nachholenden Entwicklung hat sich die Perspektive der Modernisierung zunächst als Nachvollzug der industriellen Entwicklung der Vorreiter, zumal Englands herausgebildet. Im Artikel wird hierzu auf Friedrich List und Karl Marx verwiesen, um dann die Grundlegung klassischer Modernisierungstheorien durch Max Weber, aber auch die fundamentale Umdeutung des Weberschen Ansatzes in den Entwicklungs- und Evolutionskonzepten seit den 1950er-Jahren in den Blick zu nehmen. Erkenntnisleitend ist dabei die Frage nach Gründen für die Persistenz der Modernisierungsperspektive ungeachtet erdrückender Inkongruenzen mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Reinhart Kößler
Entwicklung und Dependenz

Unter dem Sammelbegriff „Dependencia“ (Abhängigkeit) diskutierten vor allem lateinamerikanische AutorInnen in den 1950er- bis 1970er-Jahren die Unterentwicklung in Ländern des Globalen Südens. Sie kritisierten das vorherrschende modernisierungstheoretische Entwicklungsdenken und argumentierten, dass Unterentwicklung als integraler Teil der weltweiten kapitalistischen Entwicklung zu verstehen ist. Externe Faktoren müssen ebenso in eine Analyse integriert werden wie historische Momente, hier vor allem die koloniale Eingliederung in das Weltsystem. Damit widersprachen sie dem Verständnis einer nachholenden Entwicklung als interner Leistung der Länder ebenso wie der Klassifizierung als traditionell und vor-modern. Im Rahmen der Debatte wurden zentrale analytische Begrifflichkeiten wie strukturelle Heterogenität und strukturelle Abhängigkeit geprägt, die maßgeblich zu ihrer globalen Rezeption beigetragen haben.

Yvonne Franke, Daniel Kumitz
Weltsystemansatz

Der Weltsystemansatz ist eine makrosoziologische Entwicklungstheorie. Er thematisiert vor allem räumliche Abhängigkeitsbeziehungen und langfristige Trends im globalen Kapitalismus. Im Beitrag werden die Gemeinsamkeiten und unterschiedlichen Spielarten des Ansatzes (von Amin, Arrighi, Frank und Wallerstein) diskutiert. Im Mittelpunkt stehen dabei das Drei-Zonen-Modell aus Zentrum, Semiperipherie und Peripherie und die historischen Hegemoniezyklen im Weltsystem. Neben Kritiken werden auch aktuelle Kontroversen dargestellt und diskutiert.

Stefan Schmalz
Der Subsistenzansatz in Theorie und Praxis

Subsistenzproduktion wird als Produktion für den Eigenbedarf definiert, darüber hinaus jedoch auch als Produktion zur Erhaltung der materiellen Lebensgrundlagen und als Gegenmodell zu einer an Profit und Wachstum orientierten Produktionsweise betrachtet. In der entwicklungstheoretischen Debatte wird sie von manchen als Alternative zum gängigen, auf ökonomischem Wachstum beruhenden Entwicklungsmodell herangezogen; andere AutorInnen betonen, dass Subsistenzproduktion kapitalistische Produktion subventioniert und beide, kapitalistische Produktion und Subsistenzproduktion, miteinander verflochten sind. Dagegen steht in der Debatte um Gemeingüter die Bedrohung der Subsistenzproduktion durch neoliberale Politiken und ihre Vereinnahmung durch entwicklungspolitische AkteurInnen im Mittelpunkt. Gleichzeitig wird in diesen Debatten Subsistenzproduktion als Ort des Widerstands konzipiert.

Ulrike Schultz
Entwicklung im Neoliberalismus

Entwicklungstheoretische und -politische Überlegungen im Neoliberalismus datieren in die 1950er-Jahre. Angriffsziel der Neoliberalen waren die weithin geteilten Paradigmen der Nachkriegsära, wonach eine staatlich geförderte und geplante Industrialisierung zusammen mit externer Hilfe eine nachholende Entwicklung ermöglichen sollten. Neoliberale EntwicklungsökonomInnen bereiteten seit den 1960er-Jahren mit vielzähligen Studien die entwicklungsstrategische Wende vor, die spätestens mit der Schuldenkrise ab den 1980er-Jahren im globalen Süden wirksam wurde. Diese zielte auf den Abbau des binnenorientierten Modells und seiner entwicklungsstaatlichen Regulierungen. An seiner Stelle propagierten die Neoliberalen eine Export- und Importorientierung, Privatisierungen und eine Liberalisierung des Kapitalverkehrs und der Arbeitsmärkte. Internationale Wettbewerbsfähigkeit, Rent Seeking und Humankapital sind seither fixe Bestandteile des entwicklungspolitischen Vokabulars. In der Armutspolitik finden sich mit konditionierten Cash Transfers, Mikrokrediten und privaten Eigentumstiteln Denkkonzepte aus der Frühzeit der Neoliberalen.

Karin Fischer
Multiple Moderne

Die Moderne erlaubt vielfältige Formen der Institutionalisierung konkurrierender Zukunftsvorstellungen. Der Kernbereich der Moderne ist die Annahme der Gestaltbarkeit der Zukunft durch menschliches Handeln. Auch fundamentalistische Bewegungen, deren Ziel Retraditionalisierung ist, sind in diesem Sinne moderne Bewegungen, da sie sich sowohl auf Zukunftsvorstellungen als auch auf Strategien menschlichen Handelns zur Realisierung dieser Vorstellungen beziehen. Damit stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Zukunftsvorstellungen, der Bildung von AkteurInnen und Prozessen der umstrittenen Institutionalisierung, durch die Moderne auf vielfältige Weise gestaltet ist.

Rüdiger Korff
Verwobene Modernen

Der Beitrag arbeitet einer kurzen Kritik des Konzepts der multiplen Modernen folgend den entwicklungstheoretischen Beitrag der Debatte um die verwobene Moderne heraus. Die Stärke des Ansatzes besteht darin, Entwicklung als einen verwobenen, inter- und transnationalen Prozess zu verstehen, der von asymmetrischen Machtbeziehungen und kolonialer sowie imperalistischer Gewalt geprägt ist.

Ingrid Wehr
Postkolonialismus und Dekolonialität

Postkolonialismus ist ein Sammelbegriff für eine Reihe von kolonialismuskritischen Ansätzen in den Kultur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften, die essentialistische Annahmen über den Modellcharakter westlicher Entwicklung als eurozentrisch anzeigen. Anhand von Perspektiven aus kolonialen Kontexten machen post- und dekoloniale Ansätze auf die wechselseitige Konstitution von westlicher und nicht-westlicher Welt aufmerksam. Eine zentrale theoretische Rolle spielt dabei die Kritik an westlichen Konzeptualisierungen der Moderne vor dem Hintergrund der kolonialen Erfahrung mit dem britischen Kolonialismus, insbesondere in Indien, sowie mit dem iberischen Kolonialismus, insbesondere in Lateinamerika. Lücken in der Aufarbeitung der kolonialen Geschichte anderer europäischer Länder gehen einher mit der mangelhaften Rezeption kritischer, post- und dekolonialer Arbeiten.

Manuela Boatcă
Post-Development

In der zweiten Hälfte der 1980er- und zu Beginn der 1990er-Jahre formierte sich unter dem Terminus ‚Post-Development‘ ein heterogenes theoretisches Paradigma, das frühere (Fundamental-)Kritiken von Entwicklung/szusammenarbeit auf eine neue Art radikalisierte und jegliche reformistische Bestrebungen für ‚alternative‘ Entwicklungsstrategien zurückwies. In Rückgriff auf poststrukturalistische, post- und dekoloniale sowie ideologiekritische Theorieelemente problematisiert Post-Development ‚Entwicklung‘ als Konzept und politisches Projekt, das auf der Basis (euro-)zentristischer, kapitalistischer, wachstumsorientierter und androzentrischer Gesellschafts- und Wertesysteme in einer herrschaftslegitimierenden Weise die sogenannte ‚Dritte Welt‘ als ‚unterentwickelt‘ und ‚rückständig‘ kartiert und damit (nachholende) ‚Entwicklung‘ als einzig intelligibles Orientierungsmodell für jeglichen ‚sozialen Wandel‘ etablieren konnte. Im Post-Development wird im Gegenzug nach politischen Räumen und (Denk-)Praxen zur Transgression dieser ‚Hegemonie der Entwicklung‘ gesucht, damit ‚Alternativen zur Entwicklung‘ wieder als wünsch- und imaginierbar erscheinen (können).

Christine M. Klapeer

Was kann, was soll Entwicklungsforschung? Eine Ortsbestimmung

Frontmatter
Was kann, was soll Entwicklungsforschung?
Eine Ortsbestimmung

Die Gründerväter der Soziologie – von Auguste Comte bis Herbert Spencer – entwarfen allesamt Theorien der (gesamt-) gesellschaftlichen Entwicklung. „Entwicklung“ verstanden sie als Fortschritt, als gesetzmäßig ablaufenden Aufstieg der Menschheit oder auch jeder Einzelgesellschaft auf einer Stufenleiter, die von der absoluten Irrationalität, Sittenlosigkeit, Unfreiheit und Verelendung der „primitiven“ oder „barbarischen“ Gesellschaft über eine Mehrzahl von Zwischenstufen schließlich zur „Zivilisation“ führte, zu unserer eigenen Gesellschaft, in der das größtmögliche Ausmaß an Rationalität, Sittlichkeit und Freiheit sowie das größte Glück der größten Zahl verwirklicht seien. Fortschritt war das Gesetz der Menschheitsentwicklung. Er verlief überall gleich, Sprosse für Sprosse musste erklommen, keine konnte übersprungen werden, Rückschritt war ausgeschlossen. Und er war zielgerichtet, ausgerichtet auf das Telos der im Westen bereits verwirklichten, anderwärts erst einzuholenden „Zivilisation“.

Gerhard Hauck, Karin Fischer, Manuela Boatcǎ

Von Definitionen und Messmethoden

Frontmatter
Entwicklung messen: Ein Überblick über verschiedene Indikatoren und ihre Grenzen

Der Beitrag stellt die Vielfalt von Indikatoren und Indizes im Politikfeld „Entwicklung“ im Kontext des sich wandelnden Verständnisses dieses Konzeptes seit den 1940er-Jahren dar. Im Laufe der Zeit entstehen neue Schwerpunkte, die zur Entwicklung von neuen Indikatorenbündeln führen (Wachstum und Modernisierung, soziale Entwicklung, nachhaltige Entwicklung, Governance, Glück und Wohlbefinden). Seit Ende der 1960er-Jahre werden zunehmend Indizes gebildet, die verschiedene Indikatoren zusammenfassen. Der Beitrag schließt mit der Diskussion einiger grundlegender Fragen zum Messen von Entwicklung.

Wolfgang Hein
Un-fassbare Armut
Definitionsprobleme und politische Brisanz

Die Messung von Armut ist für staatliche Sozialpolitik von grundlegender Bedeutung, da sie zur Bestimmung der Zielgruppen sozialer Fürsorge- und Sicherungspolitiken unerlässlich scheint. Allerdings bleiben die Adäquanz der zugrundeliegenden Definitionen und die Gültigkeit der angewendeten Verfahren äußerst umstritten. In der sozialwissenschaftlichen Diskussion werden monetäre Armuts-Grenzwerte seit langem als reduktionistisch kritisiert, und es wird vorgeschlagen, sie durch multidimensionale, dynamische und partizipative Ansätze zu ergänzen oder ganz zu ersetzen. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen nahm diese Kritik auf und verfolgt ein ganzheitliches „Human-Armuts“-Paradigma, dass Armut als Folge einer Verweigerung von Verwirklichungschancen fasst. In der öffentlichen Diskussion ebenso wie der praktischen Entwicklungspolitik dominiert dagegen weiterhin der Armuts-Grenzwert von einem US-Dollar (Kaufkraft-Parität) pro Person und Tag, den die Weltbank 1990 festlegte und 2005 auf 1,25 Dollar erhöhte. Aus unterschiedlichen Definitionen ergeben sich verschiedene Strategien und Zielgruppen der Armutsbekämpfung.

Erhard Berner
Wie ungleich ist die Welt?
Möglichkeiten und Grenzen der Ungleichheitsmessung

Wenn von der Messung von Ungleichheit die Rede ist, geht es zumeist um Einkommensungleichheit, sei es innerhalb nationalstaatlicher Gesellschaften oder zwischen verschiedenen Nationalstaaten. Aussagen über das Ausmaß der Ungleichheit basieren auf der statistischen Berechnung einer Kennzahl, die die Ungleichheitsverteilung misst bzw. die relative Konzentration innerhalb einer Verteilung ausdrückt. Der Beitrag stellt verschiedene Ungleichheitsmaße in ihren Grundzügen dar und diskutiert zentrale Ergebnisse ihrer Anwendung auf die globale Einkommensverteilung.

August Gächter, Beate Littig

Sachthemen der Entwicklungsforschung

Frontmatter
Landwirtschaft und Ernährung

Ausgehend vom gegenwärtigen Paradox der Über- und Unterernährung geht der Beitrag dessen strukturellen Gründen im Agrar- und Ernährungssystem der letzten 150 Jahre nach. Er skizziert die Grundzüge des britisch zentrierten ersten Nahrungsregimes (extensive food regime) von den 1870er- bis zu den 1930er-Jahren, des US-zentrierten zweiten Regimes (intensive food regime) von den 1940er- bis zu den 1970er-Jahren und des WTO-zentrierten dritten Regimes (corporate food regime) seit den 1980er-Jahren. Schließlich umreißt er gegenwärtige Strategien – neoliberale, reformistische, progressive und radikale – des agroindustriellen Ausbaus bzw. sozial- und umweltverträglichen Umbaus des globalen Agrar- und Ernährungssystems.

Ernst Langthaler
Fallstudie: Konflikte um Land im Spannungsfeld von Naturschutz, Minenbau und Landwirtschaft in Karamoja, Uganda

Wie viele andere ländliche Gebiete Afrikas ist auch die im Nordosten Ugandas gelegene Region Karamoja in den vergangenen Jahren vermehrt zum Schauplatz teils gewaltsamer Konflikte um Land geworden. Dies lässt sich zum einen auf die gesteigerte Nachfrage nach fruchtbarem Land vonseiten der indigenen Bevölkerung und zum anderen auf die Präsenz verschiedener (inter-)nationaler AkteurInnen in der Region zurückführen, die Landflächen primär für Naturschutz- oder Minenbauzwecke nutzen wollen. Folglich lassen sich unterschiedliche Konfliktlinien ausmachen, deren Vielschichtigkeit im Rahmen dieses Beitrags erläutert wird.

Barbara Gärber
Migration und Entwicklung

Nach der Präsentation regional spezifizierter Basisdaten zu Migration, unterscheidet der Text drei Phasen des Verhältnisses von Migration und Entwicklung mit Pendelbewegungen von einer positiven zu einer negativen und erneut einer positiven Bewertung. Allerdings bleibt die Debatte dem modernisierungstheoretischen Paradigma verhaftet, da Wirtschaftswachstum und das Senden von Rücküberweisungen synonym mit positiv erachteten Migrationsformen gesetzt werden. Anschließend werden Fragen von Migrationskontrolle und Nationalstaatlichkeit sowie politischen Initiativen zu Migration und Entwicklung beleuchtet.

Helen Schwenken
Fallstudie: Diasporas als AkteurInnen der Entwicklungspolitik

Seit etwa 15 Jahren rücken Diasporas als AkteurInnen immer stärker ins Interesse der Entwicklungspolitik und -forschung. Einen wichtigen Impuls hierfür lieferte die Feststellung, dass Remittances, also die Rücküberweisungen von MigrantIinnen und anderen Diaspora-Angehörigen in ihre Herkunfts- bzw. Bezugsländer, die Summe der dorthin geflossenen bi- und multilateralen ODA bei weitem übersteigt. In der Folge rückten nacheinander Aspekte wie die Summen und Verwendungen der getätigten Rücküberweisungen, herkunftslandbezogene Aktivitäten jenseits dieser Geldsendungen, die Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Diaspora- mit Geberorganisationen bei Projekten in den jeweiligen Herkunfts- oder Bezugsländern sowie die wachsende Zahl an gezielten Diaspora-Politiken insbesondere in Ländern des globalen Südens in den Fokus der Forschung sowie der politischen Gestaltung. Diaspora-Angehörige waren und sind jedoch nicht nur Objekte entwicklungspolitischer Interventionen, sondern eigenständige AkteurInnen, die ihre Eigeninteressen, sozialen Obligationen und praktische Solidarität im vermachteten Feld von Entwicklungspolitik teils im Windschatten von, teils in Opposition zu und teils weit jenseits dominanter Entwicklungspolitik verfolgen.

Joshua Kwesi Aikins
Geschlechtergerechtigkeit zwischen neoliberalem Empowerment und postkolonialer Kritik

Geschlecht als Kategorie sozialer Ungleichheit ist in der Entwicklungsforschung inzwischen etabliert, gleichwohl umkämpft. Ausgehend von herrschaftskritischen Analysen von Ausblendungen und Ungleichheiten bestimmen unterschiedliche Perspektiven die Diskurse und Entwicklungspolitik. Der „Gender and Development“-Ansatz verfolgt das Ziel der Geschlechtergleichheit durch Inklusion in bestehende Strukturen, Empowerment sowie die Einlösung von Frauenrechten und Normen der Global Governance. Modernisierungskritische und post-koloniale Ansätze lehnen Opfer- und Defizitstereotypen ebenso ab wie die Setzung universeller Normen. Sie fordern die Anerkennung der Eigenständigkeit der „Anderen“. Transnationale Solidarisierung für Geschlechtergerechtigkeit muss deshalb Wege finden zwischen globalisierter Inklusionspolitik und lokalem sozio-kulturellem Eigensinn.

Christa Wichterich
Fallstudie: Filipinas in Japan

Die philippinische Bevölkerung in Japan bildet mit mehr als 200.000 Einwohnern die drittgrößte ethnische Minderheitengruppe in Japan. Davon sind ca. 77 % Frauen.

Kaoru Yoneyama
Globale Arbeit und Produktion

Trotz ihrer grundlegenden Bedeutung als gesellschaftliches Verhältnis wurde Arbeit in der Entwicklungsforschung bislang eher randständig integriert. Wichtige Bezugspunkte liefern vor allem die Theorie der Neuen Internationalen Arbeitsteilung und die neueren Ansätze über Globale Produktionsnetze. Eine kritische Debatte dieser Ansätze fragt zum einen nach Potentialen sozialer Höherentwicklung durch die Etablierung von globalen Arbeitsstandards. Zum anderen richtet sie sich auf einen erweiterten Begriff von Arbeit, so dass die Verzahnung von formaler Erwerbsarbeit, informeller Arbeit und unbezahlter Reproduktionsarbeit in den Blick kommt. Damit werden nicht nur Prekarisierungsprozesse, sondern auch die Bedeutung von Kategorien wie Geschlecht und Ethnizität für die Konstitution von Arbeit sichtbar.

Martina Sproll
Fallstudie: Global Care Chains

Der Begriff Global Care Chains wurde von den amerikanischen Soziologinnen Arlie Hochschild (2000) und Rhacel Parreňas (2001) geprägt und gilt heute als wichtige Analysekategorie für das Verständnis der weltweit registrierten feminisierten Migration. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Nachfrage nach Care-Arbeiterinnen sowohl in den Industrieländern der westlichen Welt als auch in den Mittelschicht- und Oberschichthaushalten Asiens (Indien, Singapur, Hongkong, etc.), des Mittleren Ostens (Saudi-Arabien, Libanon, Ägypten etc.) wie auch Mittel- und Lateinamerikas in der letzten Dekade exponentiell gestiegen. Die Internationale Arbeitsorganisation geht von vorsichtigen Schätzungen aus und beziffert die Anzahl der im Haushalt Erwerbstätigen auf 53 Millionen, wovon 83 Prozent weiblich sind (ILO 2013: 19).

Helma Lutz
Staat und Entwicklung

Für postkoloniale Staaten spezifisch ist, dass sie als Produkt der gewaltförmigen kolonialen Verflechtungen in die verschiedenen Phasen der Globalisierung eingebunden wurden und dabei Prozesse der Staatsbildung, aber auch der Entstaatlichung erfahren haben. Dekolonisierungsprozesse waren durch die Hoffnung auf die Bildung eines eigenen Staates geprägt, welcher als Entwicklungsstaat für eine nachholende Entwicklung und für ein besseres Leben für alle sorgen können sollte. Die zugrundeliegende politische und wissenschaftliche Vorstellung, Durchstaatlichung könne zu einer Überwindung von Ungleichheiten führen, kann jedoch nicht losgelöst werden davon, dass das politische Verhältnis von Gesellschaft und Staat nach Bevölkerungsgruppen – je nach historischen und regionalen Kontexten – unterschiedlich gestaltet wird; und dass die Bedeutung des Staates für Entwicklung im Globalisierungsprozess der letzten Jahrzehnte grundlegende Veränderungen erfahren hat.

Marianne Braig
Fallstudie: Endlich Ordnung? Autoritäre Staatlichkeit in Kolumbien und Mexiko

Die Gewalteskalationen in lateinamerikanischen Ländern stellen gewohnte Konzepte über den Staat in “Entwicklungsländern” infrage. Der Beitrag untersucht, welche Veränderungen der staatlichen Gewaltausübung beobachtet werden können und inwiefern dies für autoritäre Transformationen von Staatlichkeit spricht.Er greift auf die Beispielfälle Kolumbien und Mexiko zurück, um komplexen Zusammenhängen zwischen Staat und Gesellschaft, Kriminalität und Unsicherheit und Gewalt und sozialer Ungleichheit auf die Spur zu kommen.

Alke Jenss
Soziale Bewegungen und selbstbestimmte Entwicklung

Der Artikel gibt eine Arbeitsdefinition des Begriffs „soziale Bewegung“ und schließt an mit einem Überblick über einflussreiche theoretische Ansätze in der Bewegungsforschung. Darauf folgt eine Typologie sozialer Bewegungen, beginnend mit den antisystemischen Bewegungen des 19. Jh. bis hin zu gegenwärtigen Formen globaler Protestkultur und indigenen Bewegungen. Die Bewegungen werden hinsichtlich ihrer Organisationsstrukturen, Ziele und Praktiken beschrieben sowie zeitlich und räumlich und in den theoretischen Ansätzen verortet.

Antje Linkenbach
Fallstudie: Bewegungen gegen die Privatisierung im Gesundheitswesen in El Salvador

Am Beispiel der Bewegung gegen die Privatisierung des Gesundheitswesens in El Salvador analysiert der Text Aufkommen, Mobilisierungskraft und Auswirkungen von sozialen Bewegungen. In El Salvador bildete sich in den Jahren 2002–2003 eine soziale Bewegung heraus, die es schaffte Gesundheitspolitik in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu rücken. Sowohl strukturelle als auch konjunkturelle Gründe trugen zur unerwarteten Größe und Mobilisierungskraft der Bewegung bei. Die Beschäftigten des Gesundheitswesens, insbesondere die Ärzteschaft, organisierten gemeinsam mit einem Bürgerbündnis gegen die Privatisierung des Gesundheitswesens große Demonstrationen und einen langen Streik. Günstige Gelegenheitsstrukturen wie die Unterstützung des Anliegens aus der Zivilgesellschaft und der Oppositionspartei FMLN kamen der Bewegung zu Gute. So wurden nicht nur eine Verschiebung der öffentlichen Meinung, sondern auch die Verhinderung der geplanten Privatisierung und ein bemerkenswerter Politikwechsel möglich.

Anne Tittor
Rassismus und Entwicklungspolitik

Entwicklung und Fortschritt sind Begrifflichkeiten, die seit dem Zeitalter der Aufklärung mit ideologischer Verbrämung einer Hierarchisierung von Menschen und deren Gesellschaften zu tun haben. Diese Wahrnehmung fördert eine Wertigkeit, die mit Herabstufung einher geht und damit einer rassistischen Sichtweise entspricht. Als allein erstrebenswerte Daseinsform gelten die westlich-industriellen Produktions- und Lebensweisen. Aufgrund dieses Eurozentrismus, der die eigene Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt und darüber hinaus dazu neigt, alles andere als „weniger gut“ zu (miss-)verstehen, gibt es zwischen Kolonialismus und Entwicklungshilfe mitunter nur graduelle Unterschiede in der Wahrnehmung des Anderen. Dadurch beförderte rassistische Diskriminierungen sind deshalb keinesfalls passé. Dies zeigen noch immer dominante Sichtweisen in der Entwicklungspolitik.

Henning Melber
Fallstudie: „Entwicklung“ in Schulbüchern

Eine Analyse gegenwärtig verwendeter Schulbücher in den Fächern Erdkunde und Sozialwissenschaften ergibt, dass Menschen aus dem globalen Süden immer noch als passiv und hilfsbedürftig repräsentiert werden. „Überbevölkerung“ wird als Hauptursache von Armut dargestellt, Entwicklungszusammenarbeit als Lösung von Problemen im Süden, und Kolonialismus als ein ambivalentes Unterfangen mit sowohl positiven als auch negativen Aspekten.

Aram Ziai, Elina Marmer
Ungleiche Entwicklung: Historische und räumliche Perspektiven

In diesem Beitrag werden theoretische Konzepte ungleicher Entwicklung dargestellt. Ungleiche Entwicklung ist als polarisierende sozialräumliche Entwicklung dem Kapitalismus ebenso immanent wie es Krisen sind. Gerade hinsichtlich der Krisenerklärung können diese Konzepte zu einem analytischen Verständnis beitragen, wo Theorien an ihre Grenzen stoßen, die modellhaft sind, nur funktionale Regionen kennen bzw. keine Vorstellung von Machtbeziehungen haben. Lösungsstrategien der hier vorgestellten Ansätze setzen an Entwicklungsstrategien an, die sich an den Bedürfnissen der Region orientieren.

Joachim Becker, Rudy Weissenbacher
Fallstudie: Ungleich verbundene Entwicklung: Russland und der Westen seit dem 16. Jahrhundert

Durch Kirchen und Politik, Handel und Migrationen sind die Teile Europas seit dem Mittelalter verbunden, da die Zentren jedoch im Süden blieben, war die Verbindung ungleich. Als vom 13. Jahrhundert an der „Westen“ zum zentralen Raum Europas wurde, wurde der „Norden“ zwar schließlich zum „Osten“, der aber mit geringerer Bevölkerungsdichte und weniger Städten vor allem Rohstofflieferant war. Um ihre politische Souveränität zu erhalten, mussten die osteuropäischen Staaten das westliche Rüstungsniveau erreichen. Das gelang vor allem Russland, wofür es allerdings einen höheren Anteil am BSP aufwenden musste, als westliche Staaten, so dass weniger Mittel zum „Aufholen“ der Ungleichheit zur Verfügung standen.

Hans-Heinrich Nolte
Umwelt und Entwicklung

Das Kapitel skizziert die umweltbezogenen Debatten der Entwicklungspolitik und -forschung von den 1960er-Jahren bis heute. Leitbilder wie „nachhaltige Entwicklung“ und „Grüne Ökonomie“ werden vorgestellt und eingeordnet. Daran anschließend bietet das Kapitel einen Überblick über Forschungen zu Umwelt und Entwicklung aus dem Feld der Politischen Ökologie. Diese stützen sich theoretisch auf die Annahme von Natur und Gesellschaft als konstitutiv aufeinander bezogen. Dargestellt werden das Konzept „Environmental Justice“ sowie öko- und neomarxistische, feministische und poststrukturalistische Arbeiten.

Kristina Dietz, Bettina Engels
Fallstudie: Wer bestimmt über die Ressourcen der Arktis?
Der Konflikt um das Arctic National Wildlife Refuge

Die nicht-erneuerbaren Ressourcen der Arktis sind in den letzten Jahren in den Mittelpunkt vieler Interessen gerückt. Diese reichen von Staaten die dadurch ihre wirtschaftliche und politische Situation verbessern wollen bis zu Umweltschützern die eine angeblich unberührte Wildnis zu retten versuchen und zu indigenen Gruppen die ihre eigenen Souveränitätsansprüche damit demonstrieren wollen. Der vorliegende Beitrag wählt das Beispiel des Arctic National Wildlife Refuge (ANWR) in Alaska um die Komplexität dieser Interessenskonflikte zu demonstrieren. Dabei geht es sehr stark um verbriefte und moralische „Rechte“ mit denen Teilnehmer an diesen Auseinandersetzungen argumentieren.

Peter Schweitzer
Fallstudie: Bewegungen für Umweltgerechtigkeit in Indien
Chipko Andolan und Narmada Bachao Andolan

Umweltgerechtigkeitsbewegungen unterscheiden sich von Umweltbewegungen darin, dass sie die Sorge für die Umwelt mit Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit verbinden. Sie vertreten einen nachhaltigen Umgang mit der Natur und wollen in der sozialen Sphäre Korrekturen durchzusetzen. Umweltgerechtigkeitsbewegungen verstehen Natur als Lebensraum menschlicher Gemeinschaften – Menschen leben in der Natur. Umweltbewegungen dagegen tendieren dazu, Natur hauptsächlich als (externe) Um-Welt des Menschen zu sehen, die es zu schützen gilt – auch und gerade vor den Menschen.

Antje Linkenbach
Entwicklungspolitik: Programme, Institutionen und Instrumente

Entwicklungspolitik etablierte sich in den 1950er-Jahren als globales Politikfeld. Programmatisch bewegt sie sich seither zwischen Wachstumsförderung und Armutsbekämpfung. Inzwischen existiert ein global handelndes Institutionengeflecht aus multilateralen, nationalstaatlichen und nichtstaatlichen Organisationen. Obwohl die Strategien und der Erfolg der Entwicklungspolitik Gegenstand umfassender Kritik sind, ist die Forderung nach der Intensivierung der Entwicklungspolitik ungebrochen.

Dieter Neubert
Fallstudie: Multikulturalismus und Entwicklung

Seit Ende der 1980er Jahre setzte sich ein multicultural turn in der EZ durch. Auch wenn grundsätzliche Unterschiede in den Positionen der diversen, in dieser Debatte involvierten Akteure und Autoren bestehen, stellt das vom liberalen Multukulturalismus geprägten Verständnis von Kultur und kultureller Identität eine Art gemeinsamer Nenner in diesem Feld dar. Demzufolge ist die Aufrechterhaltung der existierenden kulturellen Vielfalt eine Voraussetzung für die Herausbildung einer intakten individuellen Identität, ohne die die Entfaltung der individuellen Autonomie nicht denkbar ist. Unter den vielen Kritiken, die den liberal-multikulturellen EZ-Programmen indessen gelten, hebt der Eintrag drei Anstöße vor: i) Sie basieren in der Regel auf einem statischen – und nicht mehr zeitgemäßen – Kulturbegriff; ii) Sie ignorieren die Verflechtungen zwischen Macht und Kultur; iii) Die Spannung zwischen kulturellen Differenzen und sozialen Ungleichheiten werden dabei nicht berücksichtigt.

Sérgio Costa
Metadata
Title
Handbuch Entwicklungsforschung
Editors
Karin Fischer
Gerhard Hauck
Manuela Boatcă
Copyright Year
2016
Electronic ISBN
978-3-658-04790-0
Print ISBN
978-3-658-04789-4
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-04790-0