1 Einleitung
Eine altersbedingte Hilfs- und Pflegebedürftigkeit markiert einen krisenhaften Einschnitt in der Biografie eines Menschen und zwingt die Betroffenen zu komplexen Bewältigungs- und Anpassungsstrategien (Schaeffer
2006; Schneekloth und Wahl
2005). Pflegende Angehörige sind in dieser Situation eine unverzichtbare Stütze: für die Betroffenen ebenso wie für das staatliche Gesundheitssystem. In Österreich werden rund 80 % aller pflegebedürftigen Menschen zu Hause durch Angehörige gepflegt (Pochobradsky et al.
2005). Eine flächendeckende Versorgung pflegebedürftiger Menschen scheint allerdings zunehmend gefährdet. Insbesondere dann, wenn steigende Pflegebedarfe – wie vielfach prognostiziert – auf eine abnehmende Pflegebereitschaft treffen (Blinkert und Klie
2004; Hörl et al.
2009, S. 381; Pochobradsky et al.
2005, S. 11).
Unter diesen Rahmenbedingungen kommt der Unterstützung pflegender Angehöriger und der Erforschung ihrer besonderen Situation eine erhöhte Relevanz zu. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den hohen physischen und psychischen Belastungen und der gesundheitlichen Gefährdung pflegender Angehöriger (EUROFAMCARE
2005; Mischke und Meyer
2008; Pochobradsky et al.
2005).
Obwohl der Belastungsbegriff als Dreh- und Angelpunkt der umfangreichen und multidisziplinären Forschung rund um die Angehörigenpflege bezeichnet werden kann, bleibt insgesamt unübersichtlich und mehrdeutig, was genau damit bezeichnet und untersucht wird. Dies mag einer relativ undifferenzierten Verwendung des Belastungsbegriffes geschuldet sein, unter dem die objektiven Belastungsfaktoren, das subjektive Belastungserleben der Betroffenen und die negativen Folgen von Belastungen subsumiert werden. Als problematisch erscheint insbesondere der häufig unternommene Versuch, zwischen diesen Dimensionen einfache, kausale Zusammenhänge aufzudecken. Zwar stellen die Dauer der Pflege, das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit oder der zeitliche Aufwand relevante Belastungsfaktoren dar, doch ein einfacher Rückschluss von diesen oder anderen „objektiven“ Faktoren auf das subjektive Belastungserleben der Betroffenen ist wenig plausibel, wie unterschiedliche, teils widersprüchliche Forschungsergebnisse zeigen (etwa: Kaizik et al.
2017; Pinquart und Sörensen
2003; Pochobradsky et al.
2005; Zarit et al.
1986). Wenig Berücksichtigung findet in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass das subjektive Belastungserleben der Betroffenen maßgeblich von deren individueller Bedeutungszuschreibung und Situationsdefinition abhängig ist, sowie von der Einschätzung der eigenen Ressourcen, die Situation zu meistern (Brügger et al.
2016; Mischke
2012, vgl. dazu das kognitive Stress-Modell von Lazarus und Folkman
1984). Nicht zuletzt ist anzumerken, dass Pflege
1 nicht ausschließlich als Belastung, sondern auch als positive Herausforderung erlebt werden kann. So berichten vor allem pflegende Partnerinnen von einer Persönlichkeitsentwicklung bzw. der Intensivierung und dem Wachstum ihrer Beziehung (Horowitz und Shindelman
1983; Leipold et al.
2006; Schönberger und Kardorff
2004).
Will man Belastungen der Angehörigenpflege nicht nur benennen und messen, sondern in ihrer Komplexität von innen heraus verstehen, so ist es notwendig, die Hintergründe des subjektiven Belastungserlebens der Betroffenen nachvollziehbar zu machen. Zudem wären positive Aspekte der Angehörigenpflege sowie die Ressourcen der Betroffenen zur Situationsbewältigung in den Blick zu nehmen (Mischke
2012).
Vor diesem Hintergrund bemüht sich der vorliegende Beitrag um eine mehrdimensionale Perspektive auf das subjektive Belastungserleben älterer, pflegender Partnerinnen. Analytischen Ausgangspunkt für die empirische Bearbeitung bietet die Pflegerolle, welche gleichsam als Belastungsfaktor und Ressource interpretiert werden kann und durch ihre Stellung zwischen sozialer Zuschreibung und individueller (Aus‑)Handlung einen differenzierten Blick auf die Belastungen der Partnerpflege verspricht. Der Blick auf partnerschaftliche Pflegearrangements dient als Brennglas, denn die Belastungen von verheirateten Paaren im gleichen Haushalt gelten – im Vergleich zu anderen Pflegearrangements (z. B. zwischen Eltern und Kindern) – als besonders hoch (Braun et al.
2009; Zank und Schacke
o.J., S. 53). Rollenaspekte werden insofern bedeutsam, als dass eine eintretende Pflegebedürftigkeit beide Partner zu einer Neukonstruktion von Position und Rolle zwingt. Gemeinsame Pläne und Lebensstile müssen aufgegeben oder umgestellt und Routinen überdacht werden (Davis et al.
2014; Gerhardt
1986; Schönberger und Kardorff
2004). Die Rolle der Pflegeperson liegt dabei quer zu bisherigen Rollen und unterliegt sowohl normativen, gesellschaftlichen Erwartungshaltungen als auch situativen, interaktiven Aushandlungsprozessen. Die Aneignung, Übernahme und Ausgestaltung der Pflegerolle bleibt nicht ohne Folgen für die Paarbeziehung sowie für das Selbstkonzept und Identitätsverständnis der Pflegenden.
Die Analyse dieser Zusammenhänge ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Dabei sollen empirische Analyse und theoretisch-methodologische Fragestellungen systematisch miteinander verknüpft werden.
Im empirischen Teil des Beitrages wird der Forschungsfrage nachgespürt, wie pflegende, ältere Ehefrauen ihre Pflegerolle wahrnehmen und erleben, wie sie die Rolle als pflegende Partnerin interpretieren, umgestalten, annehmen oder auch verwerfen und welche subjektiven Belastungen sich aus ihrer Doppelrolle als Partnerin und Pflegerin ergeben. Der Blick auf ältere pflegende Frauen entspringt einem besonderen Interesse an alterssoziologischen Fragestellungen sowie der Motivation, das eher vernachlässigte Untersuchungsfeld der häuslichen Pflege von und für ältere Menschen in den Mittelpunkt zu rücken. Die Konzentration auf Frauen ist dabei forschungspragmatisch bedingt, erweist sich aber auch aus methodologischen Überlegungen als sinnvoll, wie noch zu zeigen sein wird.
Das theoretisch-methodologische Forschungsinteresse liegt in einer mehrdimensionalen Erfassung und Untersuchung der Pflegerolle mit dem Ziel, ein theoretisch angeleitetes, heuristisches Modell zur empirischen Rollenanalyse zu entwickeln.
Zu Beginn des Beitrages steht eine zusammenfassende Darstellung und Einschätzung des Forschungsstandes zu Partnerpflege bzw. Pflegerolle. Unter Rückgriff auf soziologische und sozialpsychologische Rollentheorien wird anschließend ein multidimensionales, heuristisches Rollenmodell für die empirische Rollenanalyse vorgeschlagen. Die Einnahme einer rollentheoretischen Perspektive ist ein Novum in der Belastungsforschung und verspricht, das Belastungserleben der Betroffenen in seiner sozialen und individuellen Dimension sichtbar zu machen. Dieser Anspruch spiegelt sich auch im methodischen Design der empirischen Erhebung wider, welche das narrative Interview mit der Gruppendiskussion kombiniert. Die Ergebnisse einer interpretativ-inhaltsanalytischen Auswertung dokumentieren die Rollenerwartungen, Strategien der Rollenaushandlung und des Rollenmanagements, Rollenkonflikte und die daraus entstehenden Belastungen pflegender Partnerinnen. In einem Fazit werden die analytische Stärke einer rollentheoretischen Perspektive anhand der wichtigsten Untersuchungsergebnisse aufgezeigt sowie Limitationen und weiterer Forschungsbedarf expliziert. Abschließend werden die Voraussetzungen für eine gelingende rollentheoretische Analyse kritisch reflektiert.
2 Forschungsstand
Verheiratete bzw. in Partnerschaft lebende Menschen können zu einem großen Prozentsatz auf ihre PartnerInnen als Hauptpflegepersonen zurückgreifen. Vor allem in der Kohorte der über 80-Jährigen konzentriert sich die Betreuung in mehr als der Hälfte der Fälle auf den/die EhepartnerIn (Hörl et al.
2009, S. 367). Obwohl in der Partnerpflege der Männeranteil vergleichsweise hoch ist, wird auch in diesem Bereich der Großteil der Pflegearbeit von Frauen erbracht (Hörl et al.
2009, S. 368), was sich u. a. aus jenem kulturellen Verständnis ableiten lässt, welches Pflegeaufgaben immer noch klar dem weiblichen Verantwortungsbereich zuschreibt (Allen et al.
1999; Appelt et al.
2014; Hörl et al.
2009; Mairhuber und Sardadvar
2017; ÖPIA
2015).
Aus den vorliegenden Surveys und Repräsentativerhebungen zur informellen, häuslichen Pflege lassen sich nur unzureichende Rückschlüsse auf die Belastungen der Partnerpflege ziehen, da partnerschaftliche Pflegearrangements als eigenständige Untersuchungsgruppe selten in Erscheinung treten. Zudem erschweren unterschiedliche Erhebungsdimensionen – beispielsweise eine Konzentration auf die Pflege demenziell erkrankter Personen (z. B. Schneekloth und Wahl
2007) oder die Untersuchung bestimmter Altersgruppen (z. B. Hörl et al.
2009; ÖPIA
2015) – eine Vergleichbarkeit. Unter dem Diktum von Repräsentativität und Verallgemeinerung erfahren subjektive Bewertungen und individuelle Lebenslagen in quantitativen Studien naturgemäß wenig Berücksichtigung. Dadurch werden Belastungen zwar aufgezeigt, ihre Bedeutung und damit auch ihre Konsequenzen für die Betroffenen allerdings nicht geklärt.
Im Rahmen der Pflegeforschung und klinischen Psychologie wird das subjektive Belastungserleben anhand von Gesundheitsindikatoren oder klinischer Skalen, wie etwa für Lebensqualität, Angst und Depression, gemessen und in Abhängigkeit von Persönlichkeitsmerkmalen und Copingstrategien interpretiert (z. B. Dräger et al.
2012; Mischke
2012; Nijboer et al.
2001; Perner et al.
2012). Die Reduktion des Belastungserlebens auf psychologische Prozesse lässt allerdings die Einbettung der AkteurInnen in soziale Strukturen weitgehend unberücksichtigt. Auch hier können Zusammenhänge oder Unterschiede festgestellt, ihre Hintergründe aber nicht hinreichend erklärt werden (ähnliche Kritik bei Kaizik et al.
2017).
Unter der Annahme, dass das subjektive Belastungserleben pflegender Angehöriger komplexen, subjektiven Einschätzungen und Bewertungsprozessen unterliegt, die außerdem stets innerhalb und niemals unabhängig von sozial-normativen Strukturen stattfinden, erscheinen quantitative Forschungsansätze zur Beleuchtung der hier interessierenden Forschungsfrage nur eingeschränkt heranziehbar. Der erkenntnistheoretischen Grundannahme des symbolischen Interaktionismus folgend, dass Personen Dingen eine Bedeutung beimessen, anhand derer sie ihr Handeln ausrichten (Blumer
1973), findet sich dagegen im qualitativen Forschungsparadigma ein vielversprechender Zugang für das vorliegende Forschungsvorhaben.
Richtungsweisende qualitative Studien zur Situation pflegender PartnerInnen stellen die Studien von Anselm Strauss und Juliet Corbin (Corbin und Strauss
1985,
2004) aus den 1980er-Jahren dar, deren konzeptionelle, inhaltliche, aber auch methodologische Überlegungen zahlreiche nachfolgende Studien inspiriert haben (zur Partnerpflege etwa: Mischke und Meyer
2008; Schönberger und Kardorff
2004). Im Fokus der in diesen Studien entwickelten Grounded-Theory-Methodologie steht allerdings weniger der Belastungsbegriff, sondern die Analyse von „Pflegenden-Karrieren“ und die Frage nach der gemeinschaftlichen Bewältigung einer eintretenden Pflegebedürftigkeit (Corbin und Strauss
2004, S. 64).
Auffällig zum Forschungsstand der Partnerpflege ist insgesamt (qualitativ wie quantitativ) eine Konzentration auf besondere Betreuungssituationen wie Palliativpflege, Demenz- und Krebserkrankungen (beispielsweise: Allen et al.
1999; Braun et al.
2009,
2010; Hagedoorn et al.
2000; Kaizik et al.
2017; Schönberger und Kardorff
2004; Zarit et al.
1986). Inwieweit sich vorliegende Untersuchungsergebnisse auf die hier interessierende Situation einer „gerontologischen“ Pflege übertragen lassen, ist zu prüfen, zumal sich nicht nur Krankheitsbilder und Pflegesituation unterscheiden, sondern vielfach auch die Lebenslagen und sozialen Merkmale der Untersuchungsgruppen variieren (untersucht wurden in den genannten Studien u. a. erwerbstätige Pflegepersonen, jüngere Paare mit Kindern, Eltern-Kind-Pflegebeziehungen etc.).
Es finden sich in der bestehenden Forschung zur Angehörigenpflege keine, oder nur sehr oberflächliche Bezugnahmen zum Rollenbegriff. Angelehnt an die Alltagssprache dient er meist als einfache „Begriffsschablone“ (Popitz
1972, S. 3) ohne theoretische Bezugnahmen. So werden unter dem Label „Rollenkonflikte“ in erster Linie die Mehrfachbelastungen von berufstätigen und/oder kindererziehenden Pflegepersonen verstanden (etwa: Zank und Schacke
o.J., S. 74) bzw. der Begriff der Rolle beinahe exklusiv für die Berufsrolle verwendet (etwa: Gerhardt
1986, S. 35; Mair und Mayer-Kleiner
2011, S. 27).
Einzig die Studie „Mit dem kranken Partner leben“ (Schönberger und Kardorff
2004) weist einen etwas breiter angelegten Rollenbegriff auf. Dieser wird allerdings weder theoretisch spezifiziert, noch systematisch auf die Analyse angewandt. Entsprechend vage bleibt daher auch die Schlussfolgerung der AutorInnen, dass „die Angehörigenrolle in der Pflegesituation als neues, strukturelles Element hinzutritt, welches die Partnerbeziehung verändert und eine Neuausbalancierung der Lebenssituation zusätzlich erschwert“ (Schönberger und Kardorff
2004, S. 202).
4 Methode und Forschungsdesign
Im Rahmen einer qualitativen Erhebung wurden sieben narrative Interviews sowie eine Gruppendiskussion mit neun pflegenden Frauen im Alter zwischen 70 und 80 Jahren geführt. Sie waren jeweils die Hauptpflegepersonen ihrer Ehegatten, die im gemeinsamen Haushalt, meist ohne nennenswerte externe Hilfe, gepflegt wurden. Rekrutiert wurden die Untersuchungspersonen im Rahmen eines Projektes, welches pflegenden Angehörigen eine Urlaubswoche zur Entlastung und Erholung ermöglichte. Die Auswahl der Untersuchungspersonen erfolgte spontan vor Ort im Sinne eines theoretical samplings. Nach dem Prinzip der Kontrastierung wurden Fälle aufgenommen, die Unterschiede aufwiesen hinsichtlich der Art der Erkrankung des zu Pflegenden (physische vs. psychische Pflegebedürftigkeit bzw. chronische Erkrankung vs. plötzlich eintretende Pflegebedürftigkeit), des Ausmaßes der Pflege (offizielle Pflegestufe zwischen 1 und 5) und der Dauer der Pflegebedürftigkeit (diese variierte zwischen eineinhalb und über 30 Jahren).
Narrative Interviews dienen dazu, erlebte Prozesse und die kognitive Verarbeitung von Erfahrungen nachvollziehbar und verstehbar zu machen (Przyborski und Wohlrab-Sahr
2014, S. 83). Die Interviews wurden mit einer erzählstimulierenden Frage eröffnet („Bitte erzählen Sie, wie es dazu gekommen ist, dass Sie Ihren Mann pflegen!“) und dann mithilfe eines problemzentrierten Interviewleitfadens fortgeführt. In allen Fällen konnten durch dieses Vorgehen eine sehr offene und persönliche Erzählung angestoßen und das individuelle Belastungserleben, lebensgeschichtliche Erfahrungen und subjektive Sichtweisen, Wünsche, Ängste und Handlungsstrategien der Betroffenen eingefangen werden.
Die Methode der Gruppendiskussion eignet sich insbesondere dafür, kollektive Orientierungsmuster und Wissensbestände für Gesellschaftsgruppen mit geteilten Lebenslagen und Erfahrungen sichtbar zu machen (Bohnsack
2008, S. 374; Przyborski und Wohlrab-Sahr
2014, S. 93). Die Untersuchung einer relativ homogenen Kohorte, wie sie hier in Bezug auf Geschlecht, Alter und der geteilten Erfahrung als pflegende Angehörige vorlag, stellte somit einen Vorteil bzw. eine Bedingung dar. Methodisch ließen sich geteilte Orientierungs- und Deutungsmuster der Untersuchungspersonen durch die Berücksichtigung von Reaktionen der Gruppe auf bestimmte Meinungsäußerungen, Werthaltungen oder erzählte Handlungen auffinden bzw. offenbarten sich „konjunktive Erfahrungsräume“ durch eine besondere Übereinstimmung und ein intuitives Verständnis zwischen den Diskussionsteilnehmerinnen.
Die Gesprächsinhalte wurden vollständig und wortwörtlich, einschließlich sinntragender Lautäußerungen, Betonungen, Pausen etc. transkribiert und anschließend inhaltsanalytisch – (in Anlehnung an Kuckartz
2012) sowie sequenzanalytisch ausgewertet. Die Kategorienbildung erfolgte in einem mehrstufigen Prozess, der ein induktives und deduktives Vorgehen kombinierte. Ähnlich dem „Offenen Codieren“ der Grounded Theory Methodologie wurden Konzepte und Themen am Material identifiziert und zu Kategorien zusammengefasst. Dadurch konnte sichergestellt werden, auch jene Aspekte zu berücksichtigen, die zwar für die Forschungsfrage relevant, nicht aber aus der Rollentheorie per se ableitbar sind. Gleichzeitig dienten die drei Dimensionen der Pflegerolle als deduktive Ausgangskategorien, die an das Material herangetragen und die in mehreren Durchläufen präzisiert und ausdifferenziert wurden. Die Codierung des gesamten Materials erfolgte computergestützt mittels der Software MaxQDA. Besonders aussagekräftige Interviewpassagen wurden außerdem einer Sequenzanalyse unterzogen und die Interviews zu Falldarstellungen verdichtet. Die gesamte Auswertung erfolgte im Team und in Abstimmung mit Fachkolleginnen und -kollegen.
6 Fazit
Ziel der durchgeführten Studie war es, das Potenzial einer mehrdimensionalen Rollenanalyse für die Untersuchung empirisch-problemorientierter Fragestellungen auszuloten. Die dafür vorgeschlagene dreidimensionale Analyseheuristik diente als Analyseinstrumentarium zur Aufdeckung von Hintergründen und Ursachen des subjektiven Belastungserlebens pflegender, älterer Frauen und ermöglichte ein vertieftes Verständnis für die Situation pflegender Partnerinnen.
Die Analyse zeigt, dass durch die normative Erwartungshaltung einer bedingungslosen und jederzeit zur Verfügung stehenden Pflege der erlebte Autonomie- und Freiheitsverlust für pflegende Partnerinnen besonders hoch ist. Eine, von den Betroffenen als selbstverständlich interpretierte, soziale, moralische und emotionale Verpflichtung zur Sorge um den Partner lässt keine Distanzierung oder gar Ablehnung der Pflegerolle zu. Das Abgeben von Pflege- und Betreuungsaufgaben gerät potenziell unter den Verdacht einer Rollenuntererfüllung oder mangelnden Rollenkonformität und ist stets mit einem erhöhten Legitimationsbedarf sowie einem schlechten Gewissen verbunden. Während eine zurückhaltende Annahme von Unterstützungsangeboten in der Literatur meist auf persönliche Gründe, wie etwa ablehnende Haltung, altruistischer Habitus, finanzielle Hürden etc., zurückgeführt wird (Dräger et al.
2012; EUROFAMCARE
2005, S. 6; Pochobradsky et al.
2005, S. 62), zeigt die vorliegende Studie, dass die Einstellungen, Handlungen und Entscheidungsfindungen der Betroffenen von sozial-normativen Erwartungshaltungen maßgeblich beeinflusst werden. Daraus lässt sich ableiten, dass eine Unterstützung pflegender Angehöriger der Schaffung von Möglichkeitsräumen zur legitimen Distanzierung von der Pflege(-rolle) bedarf, was neben konkreten Maßnahmen insbesondere auch eine Bewusstseinsbildung und Einstellungsänderung voraussetzt.
Es ist bekannt, dass die institutionelle Unterbringung einer pflegebedürftigen Person für die Angehörigen mit einem erhöhten Stress und negativen Gefühlen wie Kontrollverlust, Schuldgefühl, Traurigkeit etc. verbunden ist (Kellett
1999). Vorliegende Studie zeigt, dass eine Heimunterbringung die pflegenden Frauen nicht aus ihrem Pflichtgefühl und ihrer Sorge um den Partner entlässt, gleichzeitig aber die täglichen, als sinnvoll und notwendig erachteten Handlungsroutinen hinfällig werden und eine Neuorientierung im Lebensalltag notwendig wird. Eine Unterstützung von pflegenden Angehörigen im Übergangsprozess von der häuslichen zur institutionellen Pflege scheint damit notwendig und könnte von einer stärkeren Berücksichtigung von Rollenaspekten profitieren. Die Untersuchungsergebnisse lassen positive Effekte auf das Belastungserleben pflegender Angehöriger vermuten, würde man die gemeinschaftliche Entwicklung von neuen, sinnstiftenden Rollenmodellen, in Abstimmung mit Pflegebedürftigen und der professionellen Pflege, fördern. Darüber hinaus könnten mögliche Konflikten, wie sie im Heimkontext immer wieder zwischen professionellem Pflegepersonal und Angehörigen entstehen, vermieden bzw. eine Zusammenarbeit von professioneller und informeller Pflege angestoßen werden (vgl. Engels und Pfeuffer
2007, S. 293).
Die Schilderungen der Betroffenen bestätigten eindrücklich, dass in partnerschaftlichen Pflegearrangements Beziehungsaspekten eine besondere Bedeutung zukommt. Auf die Wichtigkeit einer gelingenden Paarbeziehung für das Wohlbefinden pflegender Angehöriger wurde in der Literatur mehrfach hingewiesen (Braun et al.
2009,
2010; Gräßel
2000; Pinquart und Sörensen
2003; Trukeschitz et al.
2014). Die vorliegende Analyse zeigt, dass vor allem das geänderte Rollengefüge und Konflikte zwischen unterschiedlichen Rollenanforderungen eine besondere Herausforderung darstellen, die von den Angehörigen als deutlich belastender erlebt werden als andere, „pflegerische“ Aufgaben. Dies verweist einmal mehr darauf, dass häusliche Pflege eine vielschichtige und umfassende Sorgearbeit darstellt, die einer ganzheitlichen Betrachtung bedarf. Die Entwicklung eines ganzheitlichen Pflegebegriffes wäre daher Voraussetzung für eine bedarfsorientierte Pflegeunterstützung, die in Erweiterung herkömmlicher Unterstützungsangebote (Hauskrankenpflege, Essen auf Rädern etc.) auch eine psychologische und emotionale Unterstützung pflegender Angehöriger inkludiert. Eine rollenanalytische Sichtweise liefert Hintergrund und Erklärung dafür, warum eine emotionale Unterstützung wichtig und bedeutsam ist, und zwar nicht nur für Angehörige von demenziell erkrankten Menschen (dies fordern Kruse und Wahl
1999, S. 341), sondern tendenziell für alle, vor allem partnerschaftliche, Pflegebeziehungen.
In dieser Untersuchungsgruppe wird deutlich, dass die beiden wichtigsten sinn- und identitätsstiftenden Rollen aller Betroffenen, nämlich jene der Partnerin und jene der Pflegerin, in erster Linie von der interaktiven Bestätigung des pflegebedürftigen Partners abhängig sind. Sobald diese Bestätigung ausbleibt, sind ein gelingendes Selbstbild sowie das eigene Identitätsverständnis der Betroffenen gefährdet. Es lässt sich daraus folgern, dass eine gewisse Rollenkomplexität eine wichtige Ressource für das Wohlbefinden pflegender Angehöriger darstellt. Die Relevanz und Notwendigkeit von sozialer Teilhabe und Vernetzung pflegender, älterer Menschen kann damit nicht nur moralisch bestätigt, sondern rollenanalytisch abgeleitet werden.
Nicht zuletzt zeigt sich der Aspekt der sozialen Anerkennung als wichtiger Faktor für ein positives Selbstbild und Selbstwertgefühl der Betroffenen. Daran schließt sich der Aufruf an Politik und Öffentlichkeit, pflegenden Angehörigen für ihre herausfordernde Aufgabe eine erhöhte Wertschätzung entgegenzubringen, ihre Leistungen sichtbar zu machen und zu belohnen, statt diese als gegeben und selbstverständlich vorauszusetzen oder mit ehrenamtlichem Engagement zu verwechseln.
Neben diesen Erkenntnissen wirft die durchgeführte Studie auch einige offene Fragen und weiteren Forschungsbedarf auf. Limitationen ergeben sich in erster Linie in Bezug auf die strukturell-normative Dimension der Pflegerolle, die hier nur ausschnitthaft und exklusiv aus der Perspektive der pflegenden Angehörigen eingefangen werden konnte. Welchen Einfluss Sozialisation, soziale Herkunft oder Biografie auf die Wirklichkeits- und Bedeutungskonstruktionen der Betroffenen haben oder welche alters- oder geschlechtsspezifischen Normvorstellungen und Diskurse hier außerdem verhandelt werden, sind interessierende Fragestellungen, die durch biografische, diskursanalytische oder gendertheoretische Ansätze sinnvoll ergänzt werden können. Da Rollenverhältnisse nicht als konstant, sondern historisch wandelbar anzunehmen sind, bedürfte es einer prozessorientierten Analyse, um auch Änderungen der Pflegerolle im Rahmen einer Pflegekarriere zu untersuchen. Zudem wäre eine Ausweitung der Untersuchung auf andere Personengruppen aufschlussreich.
Schließlich ist anzumerken, dass das analytische Potenzial der soziologischen Rollentheorie nicht voraussetzungslos, sondern maßgeblich davon abhängig ist, das soziologische Konzept von Rolle in Rückbindung an dessen theoretische Wurzeln operationalisierbar zu machen. Diese Aufgabe ist alles andere als banal, denn ein ausgearbeitetes Programm der empirischen Rollenanalyse ist aktuell nicht verfügbar. Die Kritik, dass die soziologische Rollentheorie häufig nur als Steinbruch für Begrifflichkeiten und allgemeine Beschreibungen diene, mag zutreffend sein. Nicht zuletzt kann sie aber auch als eine Aufforderung an die soziologische Theoriebildung verstanden werden, sich den bislang vernachlässigten Fragen der Operationalisierung und empirischen Anwendung ihrer Konzepte zu stellen. Die Klärung des Verhältnisses zwischen Theorie und Empirie scheint essenzielles Moment und Voraussetzung dafür zu sein, das analytische Potenzial soziologischer Konzepte für eine theoriebasierte und systematische Bearbeitung anwendungsbezogener Fragestellungen ausschöpfen zu können. Nicht zuletzt ist die vorliegende Arbeit daher auch als Anregung zu verstehen, dem „vergessenen Paradigma“ der Rollentheorie (Schülein
1989) wieder eine erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken und dabei bislang ungeklärte methodologische Fragen verstärkt zu berücksichtigen.