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2021 | OriginalPaper | Chapter

3. Institutionen, Interessen und Macht – Ein Analyserahmen für die Erklärung der Entwicklung der Allgemeinverbindlicherklärung

Author : Wolfgang Günther

Published in: Staatliche Stützung der Tarifpolitik

Publisher: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Die Allgemeinverbindlicherklärung ist eingebettet in den Institutionengefügen der jeweiligen nationalen Tarifsysteme. Institutionen sind definiert als formelle und informelle Regeln, die das Handeln von Akteuren beschränken und ermöglichen (siehe Hall/Taylor 1996).

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Footnotes
1
Die verschiedenen Schulen des Neo-Institutionalismus legen den Fokus auf eigene Definitionsmerkmale von Institutionen, die handlungsermöglichende und -beschränkende Wirkung von Institutionen ist aber deren gemeinsamer Nenner (für gute Überblicke siehe Hall/Taylor 1996; Immergut 1998; March/Olsen 2006; Campbell 2010).
 
2
Die behavioristische Annahme, dass politische Phänomene aus dem menschlichen Verhalten und Handeln erklärt werden könnten und das Verhalten die Präferenzen der Handelnden offenlegten, kritisierten Institutionalisten in drei wesentlichen Aspekten (siehe im folgenden Immergut 1998: 6–11): Erstens sind Präferenzen weder fest noch aus individuellem Handeln ableitbar, sondern können sich je nach Kontext unterscheiden. Zweitens könne von individuellem nicht auf kollektives Handeln geschlossen werden, weshalb die Mechanismen für kollektives Handeln und die Rolle von Organisationen berücksichtigt werden müssten. Und drittens entspräche das kollektive Handeln nicht notwendigerweise den Präferenzen des Individuums, weshalb die Rolle von Entscheidungsmechanismen für die Herstellung öffentlicher Güter und des Gemeinwohls bedacht werden müsste. Folge dieser Kritik war die Zuwendung zur Rolle von Institutionen.
 
3
Akteure sind nach Mayntz und Scharpf nach korporativen, kollektiven und individuellen Akteuren zu unterscheiden. Da der Untersuchungsgegenstand die Interessen von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften betrifft, ist hier nur die Definition von korporativen Akteuren als „handlungsfähige, formal organisierte Personen-Mehrheiten, die über zentralisierte […] Handlungsressourcen verfügen“ (Mayntz/Scharpf 1995: 49) relevant.
 
4
Abstrakt lassen sich Interessen im AZI definieren als „auf ein Subjekt bezogene Handlungsziele, die um des eigenen Überlebenserfolgs willen verfolgt werde sollten. Physisches Wohlergehen, Handlungsfreiheit und die Verfügung über wichtige Ressourcen, zu denen Macht, soziale Anerkennung und der Besitz einer gesicherten Domäne gehören, können als gewissermaßen vorgegebene Standardinteressen […] unterstellt werden“ (Mayntz/Scharpf 1995: 54).
 
5
Die Literatur zur Pfadabhängigkeit spricht von „Mechanismen“ anstatt Faktoren (Mahoney 2000; Beyer 2005: 6). Dahinter steht ein kausales Verständnis von Mechanismen. Dies meint, dass nicht nur Faktoren zusammen mit den Outcomes vorliegen müssen, um als Ursache für das Outcome identifiziert zu werden. Vielmehr ist ein Mechanismus eine theoretisch abgeleitete Hypothese, die das gleichzeitige Auftreten von Erklärungsfaktor und Outcome erklärt (siehe Beyer 2005: Fn. 1). Das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen des Mechanismus erklärt (bzw. „verbindet“) Erklärungsfaktor und Outcome. Die hier skizzierten Stabilisierungs-„Mechanismen“ bzw. -faktoren dienen dieser Arbeit als Faktoren. Der eigentliche Kausalmechanismus zur Erklärung von Stabilität oder Wandel einer Institution wäre demnach das Interesse der Akteure und ihre strategischen Entscheidungen.
 
6
Es bleibt unklar, ob diese Wandlungsprozesse allein auf einen Generationenwechsel und gesellschaftlichen Wertewandel (Beyer 2005: 17; Lepsius 1990: 81–84) zurückzuführen sind, oder ob nicht auch geänderte Machtverhältnisse Wandel ermöglichen. Dies wiederum öffnet die Frage nach den Handlungsmotiven der Akteure. Diese Frage ist in der Literatur umstritten. Drängen Akteure auf einen Wandel von Institutionen aufgrund neuer Ideen und normativer Vorstellungen (Blyth 2016; Schmidt 2010) oder benutzen sie diese als strategische Machtressource, um ihre Interessen durchzusetzen (Carstensen/Schmidt 2016)? Sind also (materielle) Interessen und Macht doch die dominierenden Erklärungsansätze?
Parsons (2016) weist auf die methodischen Schwierigkeiten hin, die eigenständige Rolle von Ideen für Public Policies und Institutionen analytisch aufzubereiten. Wie Ideen Policies beeinflussen, könne man dementsprechend analysieren, wenn man sich methodisch und theoretisch-analytisch klar macht, an welchen Stellen im Erklärungsprozess Ideen Macht beeinflussen. Hierfür nennt Parsons (2016) a) Ideen, die in der Hand Mächtiger liegen, b) Ideen, die Akteuren ermöglichen, Macht zu erlangen, c) Ideen, die das Schmieden von Koalitionen zwischen Akteuren erleichtern, d) Ideen, die in Institutionen eingebaut sind, dadurch weiterwirken und ihre Macht entfalten.
Die Frage nach der eigenständigen Rolle von Ideen, Normen und Kultur für Handlungsorientierungen von Akteuren sowie der Interaktion mit anderen Akteuren ist im Rahmen einer empirisch-analytischen Arbeit, die alle Aspekte gleichberechtigt berücksichtigt, nicht aufzulösen (Mayntz/Scharpf 1995: 67). Dieser Fokus würde andere, theoretisch plausible Bestimmungsfaktoren für Interessen der Akteure wie strukturelle Faktoren (z. B. Branchenstrukturen, Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt), die Machtverteilung oder institutionelle Formen der Selbstregulierung ausblenden.
 
7
Die Literatur zu institutionellem Wandel benennt abgrenzbare Modi des Wandels – Displacement, Layering, Drift, Conversion und Exhaustion (siehe im Folgenden Streeck/Thelen 2005b; Mahoney/Thelen 2010) –, die zum Standardrahmen zur Identifizierung institutionellen Wandels wurden (van der Heijden/Kuhlmann 2017). Displacement findet statt, wenn alte Institutionen diskreditiert, beseitigt und durch neue ersetzt werden. Layering charakterisiert das Phänomen, wenn alte Institutionen bestehen bleiben und durch neue ergänzt – also aufgeschichtet – werden. Institutionelle Drift entsteht, wenn die Regeln einer alten Institution nicht an neue Umstände angepasst werden; die Institution erfüllt dann nicht mehr ihre Funktion und wird „zahnlos“. Auch beim Wandlungsmodus der Conversion bleibt die Institution formell erhalten, erfüllt nun aber eine andere Funktion und bezweckt ein anderes Ziel. Als fünften Modus identifizieren Streeck und Thelen (2005b: 29) schließlich Exhaustion, den Zusammenbruch einer Institution. Da die empirischen Fälle der AVE in Deutschland, den Niederlanden und Finnland mit Ausnahme Deutschlands kaum Wandel aufzeigen, verzichtet die Arbeit darauf, die Modi des Wandels als Analyserahmen strikt anzuwenden. Die Ergebnisse des Fallkapitels zu Deutschland nehmen kursorisch darauf Bezug.
 
8
Gleichwohl hat im deutschen Fall das Bundesverfassungsgericht in einem Grundsatzurteil 1977 festgestellt, dass die AVE im öffentlichen Interesse legitim ist, um „Lohndrückerei“ und „Schmutzkonkurrenz“ durch tariflose Unternehmen und Beschäftigte entgegenzuwirken (BVerfG 24.5.1977, BVerfGE 44, 322, Zachert 2003).
 
9
College van Rijksbemiddelaars, CvR.
 
10
Als Korporatismus wird hier die Interesseneinbindung von korporatistischen Akteuren, also Verbänden – genauer: Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften –, im Staat in institutionalisierten Netzwerken und Organen (Lehmbruch 1982) und die Interessendurchsetzung durch Kooperation und politischen Tausch (Pizzorno 1978) verstanden.
 
11
Die Forschungsliteratur zu Korporatismus identifizierte weiterhin Faktoren für eine erfolgreiche Konzertierung. Während der keynesianischen Wirtschaftspolitik der 1960–70er Jahre war Korporatismus wahrscheinlicher unter sozialdemokratischen Regierungen (Korpi 1983; Lange 1984; kritischer Cameron 1984), für die Zeit der neuen Sozialen Pakte der 1980-90er Jahre (Berger/Compston 2002; Hassel 2006; Afonso 2013) rückt die Bedeutung linker Regierungsbeteiligung in den Hintergrund zu Gunsten der Rolle von Wählerwettbewerb und den Merkmalen des politischen Systems (Avdagic 2010; Baccaro/Simoni 2008), auch wenn die parteipolitische Ideologie noch immer einen Faktor für die gewählte Regierungsstrategie darstellt (Hamann/Kelly 2007).
 
12
Konzertierung meint die makroökonomische Steuerung mittels Einbindung der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in eine koordinierte Lohn- und Einkommenspolitik.
 
13
Die Arbeit nimmt die Interessen von Arbeitgebern und Gewerkschaften an der AVE in den Fokus und lässt dabei eine eigenständige Rolle des Staates als dritten Akteur außen vor. Der Staat wird dennoch durch zwei Perspektiven sichtbar, als institutioneller Rahmen und als Regierungshandeln. Angelehnt an die Industrial Relations-Literatur (z. B. Bean 1994: Kap. 5; Traxler 1999) wird der Staat in der institutionellen Architektur der Arbeitsbeziehungen sichtbar, also bei den Fragen, ob Tarifautonomie oder staatlich festgesetzte Lohnleitlinien bestehen, verbandlich verhandelte (Tarif-)Ergebnisse mit Hilfe des Staates implementiert werden oder ob der Staat selbst als Partei an Verhandlungen beteiligt ist. Zudem ist der Staat im institutionellen, gesetzlichen Rahmen sichtbar, indem er Institutionen wie Schlichtungsmechanismen, das Verbands-, Streik-, und kollektives Arbeitsrecht bereitstellt, oder gesetzlich festgeschriebene Mindestregelungen (z. B. Mindestlöhne) festlegt. Die Arbeit fasst den „Staat“ als dieses institutionelle Setting auf – also korporatistische Arrangements, Erfahrungen mit staatlicher Intervention in die Lohnsetzung und der gesetzliche Rahmen – und gibt ihm aus dieser „Polity“-Perspektive eine institutionelle Rolle, keine als eigenständigen „Akteur“. Die theoretische Annahme ist, dass dieser institutionelle Rahmen das Handeln der Sozialpartner strukturiert und ihre Interessen beeinflusst.
Eine zweite Perspektive betrachtet den Staat in den Arbeitsbeziehungen als „Politics“, also als politisches Handeln von identifizierbaren Akteuren. Die Institutionen in den Arbeitsbeziehungen können sich einerseits wandeln durch das Verhalten der Sozialpartner (in der tarifpolitischen Arena), andererseits durch das Handeln von Regierungen und Parlamenten (in der politischen Arena), die z. B. den gesetzlichen Rahmen verändern. Die Arbeit untersucht demnach politische Aushandlungsprozesse von Regierungen oder politischen Parteien, die darauf abzielen, die (gesetzlichen) Regelungen zur AVE zu ändern.
 
14
Das strukturelle Ungleichgeweicht kann damit nur gedämpft, nicht ausgeglichen werden. Offe und Wiesenthal (1980) machen dies u. a. an Schwierigkeiten zum kollektiven Handeln fest, die für Arbeit größer als für das Kapital ausfallen: Arbeiter A, der bereit ist für weniger zu arbeiten als der gewerkschaftlich organisierte Arbeiter B, wird wahrscheinlicher eingestellt. Da die Befriedigung materieller Bedürfnisse aber von der Aufnahme von Arbeit abhängt, entschließt sich Arbeiter B für einen niedrigeren Lohn zu arbeiten. Die Arbeiterschaft muss daher Institutionen schaffen, um kollektives Handeln zu ermöglichen (Olson 2004). Je größer die Organisation, desto heterogener die Interessen und damit die Interessenbestimmung und -durchsetzung (Offe/Wiesenthal 1980: 80). Die strukturelle Abhängigkeit von Arbeit vom Kapital ist weder im einzelnen Betrieb noch in der Organisation von Verbänden aufgelöst (Offe/Wiesenthal 1980: 93–98).
 
15
Gewerkschaftliche Machtressourcen lassen sich in vier Arten unterscheiden (Schmalz/Dörre 2014; Arbeitskreis Strategic Unionism 2013; Brinkmann/Nachtwey 2010): strukturelle, organisatorische, institutionelle und gesellschaftliche bzw. politische.
Strukturelle Macht erwächst aus der Position des Arbeitnehmers am Arbeitsmarkt und im Produktionsprozess (Wright 2000: 962; Silver 2005: 30–32). Marktmacht besitzt, wer über seltene, nachgefragte Qualifikationen besitzt, sich vom Arbeitsmarkt zurückziehen kann, ohne um seine ökonomische Existenz zu fürchten, und bei Arbeitsniederlegungen hohe Kosten verursacht (z. B. Piloten, Zugführer, Ärzte). Organisatorische Macht meint die Fähigkeit zu kollektivem Handeln (Brinkmann/Nachtwey 2010: 21). Dies umfasst den Zusammenschluss von Beschäftigten zu Gewerkschaften und Parteien, deren Mobilisierungsfähigkeit und die Legitimität, die aus einer umfassenden Repräsentativität entsteht. Mobilisierungsfähigkeit und hohe Mitgliedszahlen erhöhen einerseits die Chancen auf die Durchsetzung von Interessen, andererseits stiften sie Legitimität für die Interessenvertretung. Unter gesellschaftlicher und politischer Macht ist die Fähigkeit zu verstehen, mit anderen sozialen Gruppen Koalitionen zu schließen, „hegemoniefähig“ zu werden (Schmalz/Dörre 2014: 230), Diskurshoheit zu erreichen und gewerkschaftliche Positionen in Politik und Gesellschaft zu verankern und durchzusetzen. Zu institutionellen Machtressourcen siehe oben.
 
16
Dies kann als informelle Praxis geschehen oder per Gesetz vorgeschrieben sein, so z. B. im niederländischen Tarifvertragsgesetz von 1927, das die Anwendung von Tarifverträgen auch auf nichtorganisierte Betriebsangehörige festschreibt.
 
17
Korpi (2006) verdeutlichte die unterschiedlichen Strategien von Arbeitgebern bei sozialer Regulierung durch drei Kategorien. Demnach können sie a) „Protagonisten“ von Regulierung sein, also proaktiv dafür eintreten, b) als „Konsenter“ erst nach Druck und Gegenmacht einer Regulierung (u. U. widerwillig) zustimmen, oder c) als „Antagonisten“ die Regulierung ablehnen.
 
18
Die bemerkenswerte Erkenntnis dieser Forschung ist, dass die durch Europäisierung bewirkte Öffnung von Märkten (Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräfte), auch unter Einwirkung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (Joerges/Rödl 2009; Lindstrom 2010), zwar zu einem Liberalisierungsdruck der industriellen Beziehungen führte (Streeck 1998; Höpner/Schäfer 2012), die Arbeitgeberseite dennoch kein geschlossener Verfechter weiterer Liberalisierung war. Unter Konkurrenzdruck von Außenseitern, Druck von Gewerkschaften oder der Drohung staatlicher Intervention forderten manche Arbeitgeber die Re-Regulierung der Lohnstandards (Fischer 2002; Afonso 2012, 2017; Seikel 2015).
 
Metadata
Title
Institutionen, Interessen und Macht – Ein Analyserahmen für die Erklärung der Entwicklung der Allgemeinverbindlicherklärung
Author
Wolfgang Günther
Copyright Year
2021
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-33454-3_3