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2020 | Book

Katastrophen zwischen sozialem Erinnern und Vergessen

Zur Theorie und Empirie sozialer Katastrophengedächtnisse

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About this book

Katastrophen gehören zu den grundlegenden Erfahrungen des menschlichen Daseins. Sie entsetzen, indem sie unvermittelt eine große destruktive Kraft entfalten, die von Individuen und Kollektiven als existenzbedrohend wahrgenommen wird. Soziale Ordnungen werden nachhaltig und ohne Aussicht auf baldige Wiederherstellung irritiert.
Ziel des vorliegenden Bandes ist es, Katastrophen als Erinnerungen aus unterschiedlichen Perspektiven sowie mit Rücksicht auf gesellschaftliche Katastrophengedächtnisse zu beleuchten. Im Mittelpunkt steht hierbei die Zeitperspektive im Sinne der wissens- und damit gedächtnisspezifischen Wechselwirkung zwischen Erfahrung und Erwartung. Die hier versammelten Beiträge leisten dies zum einen mit theoretisch-systematisierendem Interesse und zum anderen als Fallstudien zu einzelnen Katastrophenphänomenen.
Der InhaltFallstudien des Erinnerns und Vergessens katastrophaler Ereignisse • Theoretische Zugänge zu sozialen Katastrophengedächtnissen
Die HerausgeberDr. Michael Heinlein ist Wissenschaftler am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. – ISF München.Dr. Oliver Dimbath ist Professor für Soziologie an der Universität Koblenz-Landau.

Table of Contents

Frontmatter
Einleitung: Soziale Gedächtnisse der Katastrophe
Zusammenfassung
Im Folgenden wird es – gleichsam als Einleitung in diesen Band zu sozialen Katastrophengedächtnissen – zunächst darum gehen, den Begriff der Katastrophe näher zu bestimmen. Im Anschluss daran wird der Zusammenhang mit Formen und Funktionen sozialer Gedächtnisse hergestellt. Im Mittelpunkt steht dabei die These, dass es sich bei Katastrophen um gedächtnishafte Konstruktionen schlimmer Vergangenheiten handelt, die als Wissensbestände die Deutung der Gegenwart und die Vorbereitung auf die Zukunft beeinflussen. Am Ende dieses Abschnitts steht ein knapper Überblick über die hier versammelten Beiträge zu unterschiedlichen Facetten einer Assoziation katastrophaler Ereignisse mit Fragen sozialer Gedächtnisse sowie (kollektiven) Erinnerns.
Oliver Dimbath, Michael Heinlein

Empirische Analysen des Erinnerns und Vergessens katastrophaler Ereignisse

Frontmatter
Zur diskursiven Konstruktion des Erinnerns. Resilienzkonstruktionen in öffentlichen Medien und bei Bewohnern in Hochwasserquartieren 20 Jahre nach der Oderflut von 1997
Zusammenfassung
Gesellschaften können jeweils sehr eigene Vorstellungen ihrer Verwundbarkeit und Bewältigungsfähigkeiten auf Basis ihres gemeinsam geteilten, kulturellen Wissens entwickeln. Geteilte Wissensbestände, z. B. gemeinsame Erinnerungen, können so zu eigenen Realitäten werden, die jeweils spezifische Umgangsweisen mit flussbezogenen Gefahren bedingen können. Im kommunikativen Konstruktivismus wird davon ausgegangen, dass Wissen, etwa über vergangene und zukünftige Katastrophen, in Diskursen geteilt wird, die nicht nur historisch, sondern auch lokal-räumlich divergierende Wissensordnungen hervorbringen können. Auf diese Weise können Einschätzungen zur eigenen Vulnerabilität gegenüber Hochwassergefahren (‚Vulnerabilitätskonstruktionen‘) sowie über die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Bildung von Resilienz (‚Resilienzkonstruktionen‘) lokal sehr unterschiedlich ausfallen. Im vorliegenden Text werden diese Annahmen näher untersucht. Die hier vorliegenden empirischen Ergebnisse zeigen, dass lokalräumlich und historisch variierende Vulnerabilitätskonstruktionen aus lokal-gebundenen Mediendiskursen auch im Wissen lokaler Akteure beobachtbar sind. Auf diese Weise können Gefahren, die vom Fluss ausgehen, trotz räumlicher Nähe sehr unterschiedlich wahrgenommen werden, etwa auf beiden Seiten der Oder in Frankfurt und Słubice.
Kamil Bembnista, Thorsten Heimann
Katastrophenvergessen an der Oder. Zum Hochwasser von 1997
Zusammenfassung
Ein Katastrophenvergessen scheint angesichts der Herausforderungen unserer Zeit eher hinderlich, hemmt es doch die Anpassung an- und bietet Potential für die Entfaltung weiterer Katastrophen. Weshalb aber sind Prozesse des Vergessens so persistent? Warum und auf welche Weise verschwanden bzw. verschwinden Katastrophen aus dem individuellen und kollektiven Gedächtnis? Was bedeutet das für prospektive Katastrophenszenarien? Vergessensprozesse auf kollektiver wie individueller Ebene anhand eines empirischen Beispiels zu beleuchten, ist Ziel des vorliegenden Beitrags. Die Materialgrundlage bilden hierbei qualitative Interviews mit Anwohnerinnen und Anwohnern, die das Oderhochwasser von 1997 in Brandenburg selbst erlebten. Der Beitrag zeigt, wie individuelle Alltagsbildungsprozesse nach dem Hochwasser von 1997, die von Dissonanzreduktionen begleitet sind, neue Erkenntnisse schnell untergehen lassen. Sie treffen auf einen grundsätzlichen Wechsel von Erinnerungsrahmen zwischen den Generationen, der dazu führt, dass Katastrophenerinnerungen verblassen. Mit dem Wechsel von Erinnerungsrahmen zwischen den Generationen ergibt sich ein Vergessen von längerfristigem sozial-ökologischem Wandel, was wiederum eine Vorbedingung für die Entfaltung von Katastrophen sein kann.
Maike Böcker
Erinnern und Lernen aus Erfahrung: Eigen- und Fremdbilder als Hürde oder Brücke für die gemeinsame effektive Schadensbewältigung mit Spontanhelfenden
Zusammenfassung
In der Bewältigung von Katastrophenlagen kommen die bisherigen Erfahrungen der Einsatzkräfte aus ähnlichen Situationen zum Tragen. Aus jedem Einsatz werden Lehren gezogen. Erinnerungen eines Einsatzes bezüglich der spezifischen Krisensituationen, der Zusammenarbeit und der erfolgreichen und weniger erfolgreichen Aspekte wirken sich auf die Bearbeitung der kommenden Einsätze aus.
Christine Carius, Sybille Reinke de Buitrago
Rationalistische Zerrbilder. Konsequenz- und Angemessenheitslogik in Katastrophenerinnerungen am Beispiel der NSU-Untersuchungsberichte
Zusammenfassung
Eine zentrale Problematik in der Analyse von Katastrophen liegt darin, dass sich katastrophale Ereignisse nur schwer in ihrem Entstehen beobachten lassen, da sie kaum prognostizierbar sind und sich aus diesem Grund oft einer direkten Beobachtung entziehen. Dies trifft erkennbar auf technische Unfälle zu, aber natürlich auch auf katastrophale Ereignisse abseits technischer Systeme – und dies obgleich der überwiegenden Mehrheit solcher Ereignisse eine relativ lange Inkubationszeit vorausgeht (Turner 1976, 1978; Vaughan 1996). Aber auch ungeachtet dieser Problematik ließe sich zurecht fragen, wie gut sich Finanzkrisen, Flugzeugabstürze oder das Versagen polizeilicher Ermittlungen der Position einer singulären Beobachterin oder eines singulären Beobachters erschließen.
Henrik Dosdall
Organisationales Oszillieren zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Beobachtungsschema Loveparade 2010 in Entscheidungsprozessen von Hilfsorganisationen
Zusammenfassung
Obwohl in Prozessen des Entscheidens in Organisationen allgegenwärtig, wurde der Bedeutung des Antizipierens als eigenständigem Phänomen „der Zukunft Form zu verleihen“ in Organisationen bislang kaum Beachtung geschenkt. In Organisationen sind Antizipation und die Konstruktion potenzieller Zukünfte in der Gegenwart eng mit organisationalem Wissen und Gedächtnis verknüpft. Auf der Grundlage einer systemtheoretischen Zugriffsweise ergänzt um Adele E. Clarkes Konzept der anticipation work wird das Beobachtungsschema Loveparade 2010 im Folgenden hinsichtlich seiner spezifischen Eigenschaften und Simplifikationsleistungen insbesondere in Prozessen der Antizipation und der Bearbeitung einer unsicheren Zukunft in Hilfsorganisationen untersucht. Anhand der Rekonstruktion und Analyse empirischen Materials aus teilnehmenden Beobachtungen von Sanitätswachdiensten während Großveranstaltungen lässt sich zeigen, wie tief sich die Irritation etablierter Routinen während der Ereignisse der Loveparade 2010 in die Gedächtnisse dieser Organisationen eingeschrieben und Jahre später noch Einfluss auf Antizipationsprozesse und operatives Entscheiden hat.
Antonia Langhof
Die Deportationen der galizischen Ruthenen im Ersten Weltkrieg. Zur Digitalisierung einer Katastrophe
Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag setzt sich mit sozialen Gedächtnissen der Katastrophe in der digitalen Umwelt, exemplifiziert an den Deportationen der galizischen Ruthenen durch das habsburgische Militär während des Ersten Weltkrieges auseinander, die sich symbolhaft im Internierungslager Thalerhof manifestieren und nach wie vor einen brisanten erinnerungs- und gedächtnispolitischen Kampfort darstellen. Zum einen werden die gegenwärtigen Formen und Praktiken des digitalen Erinnerns und Vergessens verdeutlicht, zum anderen wird der Einfluss der Digitalisierung auf den Wandel der sozialen Praktiken des Erinnerns in Bezug auf diese Katastrophe diskutiert, wobei die Emotionalisierung des Opferdiskurses und die Partizipationsmöglichkeiten an dem Opferdiskurs fokussiert werden. Im Aufsatz wird diskutiert, welche sozialen Gruppen sich an einer Digitalisierung des Opferdiskurses beteiligen. Dabei wird nach gesellschaftlicher Sortierung und Staatsangehörigkeit differenziert und auf die jeweiligen Interessen der untersuchten Gruppen eingegangen. Als Quellenbasis fungieren themenrelevante Online-Zeitungsartikel auf Russisch, Ukrainisch, Englisch und Deutsch der letzten zehn Jahre, Dokumentarfilme, Internet-Fernsehsendungen sowie ausgewählte Beiträge und Diskussionen in sozialen Netzwerken.
Egor Lykov
Resilienz im Kontext der deutschen Entwicklungspolitik. Zur Deutung von disruptiven Vergangenheiten und Zukünften im Zuge einer neuen Leitwährung der Selbstbeobachtung
Zusammenfassung
Obwohl sich Resilienz- und Gedächtnisforschung sozialwissenschaftlicher und soziologischer Provenienz mit verwandten Fragestellungen beschäftigen, liegen bisher keine Ansätze vor Überlegungen der beiden disziplinären Felder komplementär zu integrieren. Diesem Desiderat wird mit dem vorliegenden Beitrag Rechnung getragen, indem eine Heuristik vorgestellt wird, die sowohl Resilienz als auch das soziale Gedächtnis ex aequo als analytische Bausteine versteht. Um die empirische Tragfähigkeit einer solchen Forschungsheuristik zu demonstrieren, soll diese anhand einer empirischen Analyse erprobt werden. Ausgangspunkt hierfür bildet eine wissenssoziologische Studie, im Zuge derer unter anderem der Frage nach den Verwendungsweisen des Stichworts ‚Resilienz‘ in entwicklungspolitischen Zusammenhängen in Deutschland nachgegangen wird. Der Resilienzbegriff wird damit in zweifacher Weise thematisch: in wissenssoziologischer Perspektive als empirischer Untersuchungsgegenstand, in resilienz- und gedächtnissoziologischer Perspektive als Teil einer komplementären Heuristik.
Marie Naumann
Die Katastrophe als Ereignis und als Narrativ
Zusammenfassung
Katastrophen zeitigen den Einbruch eines außerordentlichen, diskontinuierlichen Geschehens. Diese Aussage belässt allerdings offen, ob die hereinbrechende Diskontinuität bis dahin Unberücksichtigtes gewaltsam zum Vorschein bringt oder etwas Unbestimmtes impliziert, dessen Erscheinen geradewegs in Hinsicht auf seine Neuheit hin bewältigt werden muss. Der folgende Beitrag zielt darauf, Überlegungen zu einem soziologischen Katastrophenbegriff mit einem Nachdenken über das Ereignis zu verbinden. Dieses soll hier nicht als historisches Geschehen ausgelegt werden, sondern – im Anschluss an die Arbeiten Jacques Derridas‘ – als ein Konzept, welches eine temporale Offenheit der Zukunft hervorhebt, mit der nicht zu rechnen ist. Die Katastrophe als Ereignis entzieht sich einer Modalität des Wissens, wie sie für moderne Beschreibungsformeln der Zukunft typisch gewesen sein wird. An die Stelle des Wissens treten Formen der Imagination und – wie wir in diesem Beitrag herausarbeiten – der Narration. Entlang empirischer Ausschnitte unserer Arbeit zu ungewöhnlichen Therapieverläufen in der zeitgenössischen Biomedizin plädieren wir dabei für eine sensitive Aufmerksamkeit für fortdauernde und umwegige Prozesse, die ein vielfältiges Antwortgeschehen in Gang setzen.
Marc Strotmann, Claudia Peter
¡Alerta sísmica! Ein biographietheoretischer Blick auf narrative und mediatisierte Formate des Erinnerns von Naturkatastrophen anhand des Erdbebens in Mexiko 2017
Zusammenfassung
Die Frage des sinnhaften Strukturierens und Bearbeitens von Katastrophenerfahrungen ist mit jenen Konstruktionsprozessen in einem engen Zusammenhang zu sehen, die sich biographisch im Subjekt verorten und im Austausch mit anderen vollziehen. Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend Prozesse der sozialen Gedächtnisgenese aus biographietheoretischer Perspektive zu beleuchten, den eigenwilligen Prozessen des sinnhaften Strukturierens von Katastrophenerfahrungen nachzugehen und dabei auch zu fragen, welche überindividuellen Bezugsrahmen der Bedeutungszuschreibung in dieser Hinsicht Relevanz erhalten. Im Rahmen des Beitrags werden diese Prozesse der sozialen Gedächtnisgenese anhand narrativer und mediatisierter Formen des Erinnerns eingehender beleuchtet, die im Zusammenhang mit dem Erdbeben 2017 in Mexiko, in der Region des Istmo de Tehuantepec, erhoben wurden. Wie die Ergebnisse der Untersuchung verdeutlichen, werden nicht nur Erfahrungen sozialer Vulnerabilität sowie das Gefühl des Im-Stich-gelassen-Werdens als zentrale Erinnerungsfiguren sichtbar, sondern auch Bearbeitungsmuster, die mit dem sozio-kulturellen Bezugsrahmen der Erinnerungsgemeinschaft eng verbunden sind. Wie die ersten Ergebnisse vermuten lassen, kommt zudem der möglichen Herausbildung divergierender Katastrophennarrative in dem untersuchten Kontext eine zentrale Bedeutung zu.
Angela Pilch Ortega
Dialektik des Erinnerns und Vergessens, oder: Neugebaute Altstadtensembles als Deckerinnerungen angesichts einer katastrophalen Geschichte
Zusammenfassung
Woran erinnert heute das monumentale Reiterstandbild von Kaiser Wilhelm I. am »Deutschen Eck« in Koblenz? An die Niederschlagung der Revolution 1848/49 in Baden und der Pfalz, bei der der damalige preußische Prinz eine wesentliche Rolle spielte?
Marcus Termeer
Katastrophenerinnerung im Spannungsfeld zwischen Vergangenheits- und Zukunftsorientierung. Zur Erinnerung der Spanischen Grippe in Deutschschweizer Zeitungen, 1993–2018
Zusammenfassung
Dieser Artikel untersucht das Katastrophengedächtnis zur Spanischen Grippe in den Deutschschweizer Massenmedien anhand ausgewählter Tages- und Sonntagszeitungen im Zeitraum von 1993 bis 2018. Er zeigt, dass die Spanische Grippe im Zusammenhang mit der Furcht vor einer zukünftigen Grippe-Pandemie in den 1990er Jahren zum massenmedialen Thema wird. Nach der Etablierung der Spanischen Grippe im Zusammenhang wird sie später zunehmend als genuin historisches Ereignis thematisiert. Der Artikel rekonstruiert zwei zentrale Erinnerungsschemata (ein erregerzentriertes und ein gesellschaftlich-historisches). Diese beiden Erinnerungsschemata erweisen sich je als eng gekoppelt mit dominanten Zeithorizonten des Erinnerns: Das erregerzentrierte Schema dient primär dem Blick in eine katastrophische Zukunft, das gesellschaftlich-historische dem Blick in eine singuläre Vergangenheit. Der Artikel argumentiert, dass diese beiden Erinnerungsformen in einem Spannungsverhältnis stehen.
Luca Tratschin
Die (Neu-)Ordnung sozialer Beziehungsmuster in filmischen postkatastrophischen Gesellschaften
Zusammenfassung
Die Repräsentation verschiedenster Arten von Katastrophen durchzieht die Filmgeschichte von Beginn an. Katastrophen scheinen in all ihren Facetten eine Faszination auszuüben: sei es der Schauwert von Verwüstungen und Zerstörungen, das menschliche Leid, der individuelle Überlebenskampf oder die gesellschaftlichen Reaktionen. In Katastrophenfilmen werden das Spektakel und die Unterhaltung gewissermaßen mit therapeutischen oder gar kathartischen Funktionen verbunden; so ist es nicht erstaunlich, dass Katastrophen ihren filmischen Ausdruck verstärkt in Zeiten wahrgenommener Krisen oder des rapiden Wandels finden.
Jan Weckwerth

Theoretische Zugänge zu sozialen Katastrophengedächtnissen

Frontmatter
Geist und Zeit: Zum Verhältnis von Spuk, Gedächtnis und Erlösung in und nach der Postmoderne
Zusammenfassung
Dieser Beitrag versucht sich an einer Standortbestimmung des Gespensterglaubens, indem er den Stellenwert des Gespensts als Metapher und Symbol für die Verdrängung individueller und kollektiver Traumata und Katastrophen untersucht. Angelehnt an Derridas einflussreicher Schrift Marx’ Gespenster wird dabei zunächst die Verabsolutierung menschlicher Rationalität als zentrale Katastrophen in der Postmoderne gelesen. Anschließend wird gezeigt, wie die epistemologisch wie ontologisch liminale Positionierung des Gespensts es aber gleichzeitig auch erlaubt, eine neue Form von Welterfahrung zu denken, die versucht, der postmodernen Oberflächlichkeit, Simuliertheit und Dekonstruktion von Realität eine dialogische (Derridas Hantologie) oder religiös-skeptizistische (Meillassouxs Hyper-Chaos) Ästhetik und Epistemologie entgegenzusetzen.
Wolfgang Funk
Catastrophic Teleologies and Contemporary Memory Cultures
Zusammenfassung
This chapter theorizes the relationship of catastrophes and memories by situating this nexus in different historical contexts, with a particular focus on the global age. More specifically, I suggest that contemporary Katastrophenerinnerungen are increasingly becoming Risikoerinnerungen (memories of risk). Katastrophenerinnerungen are about collective responses to uncertainty. These processes are conditioned by two co-extensive developments. One relates to the changing significance of futurity as ecological catastrophes are challenging the ontological security once provided by palliative nation-state narratives extolling progress as the main guide for control over the future. This shift toward risk is driven by the fact that national recourse to progress no longer captures social and political imaginaries – especially not since catastrophes and the framing and awareness thereof, seem to preclude any conclusive secular teleology. The second trajectory focuses on the role media plays in re-presenting catastrophes thereby shaping the contours of Katastrophenerinnerungen. I conclude that Katastrophenerinnerungen are less about the future but primarily collective responses to uncertainty.
Daniel Levy
Deutungsmuster des Katastrophischen als Bezugsrahmen des Katastrophenerinnerns und -vergessens
Zusammenfassung
Das Erleben einer Katastrophe schlägt sich tendenziell im individuellen und kollektiven Gedächtnis nieder. Die Gestalt der Erinnerung ist allerdings weniger eine Reproduktion der Katastrophenerfahrung als vielmehr eine Rekonstruktion unter den Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Erinnerungsaktes: Erinnerung, so argumentierte bereits Halbwachs, kann sich stets nur innerhalb aktuell verfügbarer Bezugsrahmen vollziehen. Zum einen hat Erinnerung damit einen grundlegend sozialen Charakter; zum anderen ist Vergessen damit konstitutiver Bestandteil des Erinnerns. Der folgende Beitrag argumentiert allgemein für eine stärkere Berücksichtigung sozialer Wissensbestände als konstituierende Bedingungen des Erinnerns und stellt konkret soziale Deutungsmuster als Lichter der Erinnerung dar. Am Beispiel des Murenabgangs 2012 in St. Lorenzen wird die Varietät der Erinnerung entlang verschiedener Deutungsmuster veranschaulicht, sowie Verschiebungen in der Erinnerung – neben etwaigen Einflüssen wie dem Zeitverlauf, dem Verblassen von Spuren, der Schaffung von Ankerpunkten – auf Deutungskonflikte und damit einhergehende Umbrüche in der zugrunde liegenden symbolischen Ordnung zurückgeführt.
Sandra Maria Pfister
Resilienz als relationale Prozessheuristik. Analytische Potentiale für eine Theorie des Katastrophenerinnerns
Zusammenfassung
Das Konzept der Resilienz verweist zum einen auf die Frage, wie soziale Einheiten mit (vor allem disruptiven) Herausforderungen produktiv umgehen und so aus Krisen und Katastrophen sogar gestärkt hervorgehen können. Zum anderen wird es überdies gegenwärtig als soziologische Prozessheuristik diskutiert und weiterentwickelt, welche die dialektische Verknüpfung von Phänomenen der Kontinuität und Diskontinuität in den Fokus rückt. Von besonderem Interesse sind hier nichtlineare Prozesse, bei denen nicht der Befund von Kontinuität trotz Diskontinuität, sondern stattdessen von Kontinuität durch Diskontinuität (und vice versa) im Mittelpunkt steht. Damit befasst sich der Beitrag mit einer spezifischen Perspektive auf Katastrophen und Katastrophenerinnern. Da sich diese Perspektive durch eine besondere Betonung von Erinnerungsprozessen auszeichnet, scheint es entsprechend lohnend, ihre Potentiale für eine Theorie des Katastrophenerinnerns und zugleich die analytischen Einsichten einer Theorie des Katastrophenerinnerns für das Konzept der Resilienz zu eruieren. Angezielt wird damit, ein soziologisches Konzept der Resilienz weiterzuentwickeln, welches einen Beitrag zum besseren theoretischen Verständnis katastrophisch-disruptiver Phänomene und ihres Erinnerns leisten kann.
Benjamin Rampp
Das Vergessen und Erinnern zukünftiger Katastrophen. Wissens- und zeitsoziologische Perspektiven
Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Naturverhältnisse, die zu immer weiter in die Zukunft ausgreifenden Naturrisiken führen, untersucht der Beitrag Formen, Grenzen und Chancen des Vergegenwärtigens zukünftiger Katastrophen, das heißt eines prospektiven Katastrophenerinnerns. Eine Erörterung von Gemeinsamkeiten des Vergegenwärtigens von Vergangenem und von Zukünftigem, die sich aus Sicht der wissenssoziologischen Gedächtnis- und Zeitforschung zeigen, führt über Schwellen des Erinnerns von Vergangenem hin zu einem Verständnis von Schwellen des Zukunftserinnerns. Letztere tragen zu unterschiedlichen Reichweiten der Zeithorizonte prospektiven Katastrophenerinnerns bei und grenzen Bereiche des Zukünftigen ab, aus denen Zukunftsereignisse nicht oder nur in vergleichsweise geringerem Maße vergegenwärtigt werden können und insofern vergessen bleiben. Die hier gewählte egologisch fundierte wissenssoziologische Perspektive führt die sozialwissenschaftliche Analyse einerseits zu stark subjektbezogenen (autobiografischen) Mechanismen, die zur Gegenwartsgebundenheit der Zeithorizonte des Erinnerns und einem entsprechenden Zukunftsvergessen beitragen. Andererseits lässt sie zugleich Spielräume der stärker sozial beziehungsweise institutionell vermittelten Formen des Zukunftserinnerns erkennen, die größere zeitliche Reichweiten erfassen und daher über die beschriebenen Schwellen des Vergegenwärtigens zukünftiger Katastrophengefahren hinausreichen können.
Dietmar Rost
Backmatter
Metadata
Title
Katastrophen zwischen sozialem Erinnern und Vergessen
Editors
Dr. Michael Heinlein
Prof. Dr. Oliver Dimbath
Copyright Year
2020
Electronic ISBN
978-3-658-28933-1
Print ISBN
978-3-658-28932-4
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-28933-1