Wer heute weiß, was die Kunden morgen kaufen werden, kann seine Wettbewerbschancen erhöhen. Handelsunternehmen wissen, dass Künstliche Intelligenz ihnen dabei behilflich sein kann. Noch schreiten aber die wenigsten zur Tat. Eine Bestandsaufnahme.
Ob im Geschäftskunden- oder im Endverbrauchersegment: Kunden möchten nicht gerne auf die Verfügbarkeit eines Produkts warten. Leere Ladenregale im stationären Einzelhandel oder online nicht ad hoc verfügbare Produkte stellen damit einen entscheidenden Wettbewerbsnachteil für Handelsunternehmen dar. Zum Beispiel ist bei Lieferketten, dem Supply-Chain-Management (SCM), eine vorausschauende Planung aus diesem Grund unverzichtbar geworden.
Retailer sollten etwa verlässlich abschätzen können, wie hoch die Nachfrage für ein spezifisches Produkt in einem bestimmten Zeitraum ausfallen könnte. Dazu zählt auch das Antizipieren von Werbeeffekten, die den Abverkauf mitunter sprunghaft ankurbeln. Derartige Absatzprognosen sind mittlerweile dank Künstlicher Intelligenz (KI) auf einem besonders hohen Niveau möglich. Manche Handelsunternehmen in Deutschland machen deshalb bereits von der modernen Technologie Gebrauch. „Da ist aber noch reichlich Luft nach oben“, konstatiert Thomas Kempcke, Logistik-Experte und Autor der Studie „KI in der Supply Chain“. Diese wurde vom Kölner EHI Retail Institute im Auftrag des Software-Anbieters Relex Solution durchgeführt.
KI-Potenzial bislang ungenutzt
Zwar gehört KI für 76 % der Befragten kurz- und mittelfristig zu den zentralen Erfolgsfaktoren im SCM. Dieses Wissen wird allerdings erst stellenweise praktisch umgesetzt und zwar für
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die Erstellung von Absatzprognosen (16,7 %),
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Kampagnenprognosen (9,1 %),
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das Bestandsmanagement (acht Prozent) und
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die Warenfluss-Glättung (acht Prozent).
Keine Anwendung finden beispielsweise produktindividuelle Preissenkungen, die sich automatisch aus den Verkaufszahlen ableiten lassen. Waren, die sich schlecht verkaufen, können so rechtzeitig und unabhängig von geplanten Rabattierungen preislich attraktiver gemacht werden. Bislang ebenfalls ungenutzt ist die Möglichkeit, mittels KI auch Wetterprognosen bei der Filialbelieferung zu berücksichtigen.
Positive Effekte von KI im SCM
Grundsätzlich rechnen die befragten Händler jedoch mit gewinnbringenden wirtschaftlichen Effekten im Falle einer KI-Einführung. So gehen 80 % davon aus, dass sich die automatisierten Prozesse positiv auf die Warenverfügbarkeit auswirken würden. 76 % erwarten zudem Verbesserungen bei der Bestandsoptimierung. Wie effizient KI im Supply-Chain-Management eingesetzt werden kann, beweist zum Beispiel der Versender Otto. Das deutsche Versandhaus entwickelte einen Deep-Learning-Algorithmus, um die Retourenquote durch zu langsame Beschaffungsprozesse zu verringern. Datenanalysen hatten gezeigt, dass Kunden bestellte Ware häufiger zurückschickten, wenn der Versandprozess länger als zwei Tage dauerte. Auch Teillieferungen kamen bei der Zielgruppe nicht gut an.
„Das Versandhaus suchte also einen Weg, um die Warenabrufe bei den eigenen Lieferanten besser vorhersagen zu können. Der entwickelte Algorithmus kann aus der Analyse von drei Milliarden historischer Transaktionsdaten mit 20 Parametern Vorhersagen treffen, welche Produkte die Kunden im kommenden Monat mit 90-%iger Wahrscheinlichkeit bestellen werden. Dadurch konnte der Einkauf weiter automatisiert werden und gleichzeitig sowohl der Überbestand um 20 % verringert als auch zwei Millionen retournierte Produkte pro Jahr eingespart werden“, fassen die Springer-Autoren Christian Flechsig, Lorenz Trautmann und Jacob Lohmer im Buchkapitel „Langsam, aber sicher: Mithilfe von digitalen Technologien auf dem Weg zur Beschaffung 4.0“ zusammen (Seite 342).
Risikomanagement dank KI
Nicht immer jedoch lässt sich die Zukunft antizipieren. „Auch das im Zuge des unsicheren Marktumfelds, der Globalisierung und der Covid-19-Pandemie immer wichtiger werdende proaktive Supply-Chain-Risikomanagement kann durch KI unterstützt werden. KI-Algorithmen können hier unter anderem zur schnellen Aufdeckung von Disruptionen (zum Beispiel durch die kontinuierliche Überwachung von Social-Media-Kanälen), Compliance-Problemen bei Lieferanten sowie möglichen Betrugsfällen beitragen“, erklären die Springer-Autoren weiter (342). KI ist folglich auf breiter Ebene imstande, die Wettbewerbsfähigkeit eines Handelsunternehmens abzusichern.
Doch der Einsatz Künstlicher Intelligenz erfordert auch ein hohes Maß an Vorbereitung im Unternehmen. Wie die Springer-Autoren betonen, stellt die Verfügbarkeit und Qualität ausreichend großer Datensätze, die zur KI-basierten Analyse und Auswertung benötigt werden, eine große Hürde dar. Auch im Hinblick auf die eigene Belegschaft gibt es Hürden, wenn es um die Implementierung der modernen Technologie geht. Laut der Studie sind
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86 % der Meinung, nicht über genügend Personal zu verfügen, das entsprechend qualifiziert ist.
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68 % befürchten außerdem, dass KI auf nicht genügend Akzeptanz im Team stoßen könnte. Ein weiterer Hinderungsgrund sind die Investitionskosten, die
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76 % der Retailer scheuen.