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2015 | Book

Krise und Integration

Gesellschaftsbildung in der Eurokrise

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About this book

In der breiten Debatte über die Krise der gemeinsamen Europäischen Währung steht außer Zweifel, dass sie tief greifende Wirkungen auf den Europäischen Integrationsprozess hat. Jedoch gibt es höchst unterschiedliche Auffassungen darüber, welcher Art diese Wirkungen sind. Hat die Eurokrise die Entwicklung einer Europäischen Gesellschaft gebremst oder trägt sie zur Gesellschaftsbildung bei? Gefährdet die Krise die Europäische Integration oder ist sie selbst ein wichtiger Integrationsschritt?

Table of Contents

Frontmatter

Krise und Interpretation

Frontmatter
1. Die verborgene Seite der Krise
Zusammenfassung
Im Zentrum des Beitrages stehen die politische Verarbeitung der aktuellen Krisen in der Eurozone und die sich daraus ergebenden institutionellen Folgen für den europäischen Integrationsprozess. Gezeigt wird, dass die fiskalpolitischen Probleme einiger Mitgliedstaaten des gemeinsamen Währungsraums als eine „Vertrauenskrise“ der Gläubiger gegenüber der Eurozone interpretiert wurden und deshalb für die Wiederherstellung des „Gläubigervertrauens“ nun neben der jeweiligen Regierung auch die anderen Regierungen der Eurozone sowie die europäischen Institutionen verantwortlich sind. Dem Vertrauen der Gläubiger wird damit eine Systemrelevanz zu geschrieben, woraus ein entsprechender Handlungsbedarf abgeleitet wird, gleichzeitig führte dies auch zu einer Priorisierung. Denn den Erwartungen der Gläubiger wird nun eine höhere Bedeutung eingeräumt als den sozialen Problemen. Als Reaktion auf die Krise änderten sich somit die Beziehungen zwischen den politischen Akteuren der Eurozone und die Wahrnehmung und Einschätzung der Beziehungen zwischen Gläubigern, Leuten und politischen Akteuren.
Jenny Preunkert
2. Konfligierende Krisenframings deutscher Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände
Zusammenfassung
Krisen fordern Lösungen. Allerdings hat jeder Akteur seine eigene Vorstellung davon, wie diese Lösungen aussehen sollten. Folglich ist in Krisen zu beobachten, wie Akteure versuchen die öffentliche Meinung und die staatliche Krisenpolitik zu beeinflussen. Dieses Kapitel entwickelt einen wissenssoziologischen Ansatz und analysiert, wie die deutschen Sozialpartner die Große Krise, die mit der Pleite von Lehman Brothers 2007 begann, interpretierten. Die folgenden Forschungsfragen sind dabei leitend: Wie beurteilten die untersuchten Akteure die Krise öffentlich, welche Ursachen identifizierten sie und welche politischen Konsequenzen forderten sie? Der Beitrag argumentiert, dass Akteure versuchen Krisen als windows of opportunity zu nutzen, um bestehende nationale aber auch supranationale (also insbesondere den europäischen) Konfliktrahmen in ihrem Sinne zu verändern. Aus konflikttheoretischer Perspektive zeigt die Krise so ein integrationsförderndes Potenzial: in der Krise kommt es zu weiterer Institutionalisierung oder doch zumindest zur Politisierung bestehender Konfliktrahmen durch soziale Akteure. Die Krisenframings der Akteure reflektieren ihre Interessen in diesem Prozess und die sich intensivierenden Wechselbeziehungen sind im Simmelschen Sinne als Vergesellschaftung zu verstehen.
Johannes Kiess
3. Das Geheimnis in Krisenzeiten. Geheimhaltungssphären bei der Umsetzung des Europäischen Stabilitätsmechanismus
Zusammenfassung
Geheimnisse sind durch widerstrebende Forderungen nach Geheimhaltung und Offenlegung gekennzeichnet. In Demokratien müssen Geheimnisse gerechtfertigt werden, beispielsweise mit Verweis auf Privatsphäre, Staatssicherheit oder effizienten und effektiven Entscheidungsprozessen. Geheimhaltungsansprüche vor allem der Exekutiven stehen dabei Offenlegungsforderungen von BürgerInnen, Zivilgesellschaft und Parlamenten, insbesondere der parlamentarischen Opposition, gegenüber. Krisen, so das Argument dieses Beitrags, verschieben die Kräfteverhältnisse in dieser Aushandlung zugunsten der Exekutiven und zugunsten exekutiver Geheimhaltung, da sie einen besonderen Handlungsdruck konstruieren, der die Gewichtung von Geheimhaltung und Transparenz verändert. Am Beispiel der Aushandlung der deutschen Umsetzung des Europäischen Stabilitätsmechanismus werden die Forderungen der unterschiedlichen Akteure analysiert. Die Untersuchung konzentriert sich darauf, wie Grenzen und Notwendigkeiten von Geheimhaltung ausgehandelt und festgeschrieben werden. Damit trägt der Beitrag sowohl zur Debatte um die Exekutivlastigkeit europäischer Integration bei wie auch zur Beantwortung der Frage nach den Auswirkungen der Krise auf das Verhältnis zwischen Exekutive und Parlament.
Dorothee Riese

Räume in der Eurokrise

Frontmatter
4. Europäische Städte in der Finanzkrise. Eine explorative Studie zum Verhältnis von Autonomie und Resilienz
Zusammenfassung
Der Artikel vermittelt einen Eindruck von der Situation europäischer Städte in der Finanzkrise. Ausgehend von der These einer höheren Resilienz von Städten wird zu Beginn der Begriff der Resilienz untersucht und auf Städte angewendet. Anschließend werden allgemeine Krisenindikatoren herangezogen und für urbane Agglomerationen spezifiziert. Da die vorläufigen Ergebnisse der Untersuchung ökonomischer Indikatoren die Annahme einer besonderen urbanen Resilienz nicht unbedingt stützen, wird abschließend geprüft, ob und in welchem Ausmaß lokale Autonomie die städtische Widerstandskraft gegen Kriseneinflüsse erhöht.
Sylke Nissen
5. Grenzen europäischer Grenzen. Das Schengen-System in der Migrationskrise
Zusammenfassung
Die „Migrationskrise“ im Mittelmeer im Jahr 2011 führte zu einer Krise des Schengen-Systems innerhalb der Europäischen Union. Zwischen den Außengrenzstaaten und den Binnengrenzstaaten der Union entstand ein Konflikt darüber, wie diese Krise überwunden und der europäische Raum gestaltet werde könne. Eine neue Schengen Governance wurde verhandelt. In diesem Artikel analysiere ich die Diskurse in Deutschland und Italien um die neue Schengen Governance, welche exemplarisch für die unterschiedlichen Argumentationen und Positionen der Binnengrenzstaaten und der südlichen Außengrenzstaaten stehen. Deren dichotome Reaktionen auf die Krisensituation im Mittelmeer zeigen, das ist meine These, den Konflikt zwischen den Binnen- und Außengrenzstaaten als Ergebnis der mit dem Abbau der Binnengrenzen einhergehenden Europäisierung der Außengrenzen der Europäischen Union.
Isabel Hilpert
6. „Differenzierte Integration“ als Lösung europäischer Integrationskrisen
Zusammenfassung
Die Europäische Union wird seit 2009 von einer, als „Euro-Krise“ bezeichneten, Staatsschulden-, Banken- und Wirtschaftskrise stark belastet. Im Verlauf dieser Krise wird in der Europapolitik verstärkt die Frage diskutiert, inwieweit die Anwendung differenzierter Integrationsstrategien zu einer Entschärfung dieser Problemsituation beitragen könnte. Auf der These aufbauend, dass Krisen und Momente des Scheiterns wesentliche und prägende Merkmale in der Geschichte der europäischen Integration darstellen, untersucht der vorliegende Beitrag die Frage, inwieweit es den politischen Akteuren in der Vergangenheit bereits gelungen ist, Krisen durch die Anwendung differenzierter Integrationsstrategien aufzulösen. Im Rahmen einer historischen Analyse wird dabei gezeigt, dass die Europapolitik mit der „differenzierten Integration“ bereits frühzeitig eine besondere Integrationsstrategie entwickelt hat, die hervorragend an diese europäische Konflikt- und Problemstruktur angepasst ist und in der Vergangenheit dazu beitragen konnte, schwierige Krisensituationen zu bewältigen. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung verleihen der aktuellen Europadebatte damit ein wichtiges empirisches Fundament.
Anja Riedeberger

Politik und Ökonomie der Eurokrise

Frontmatter
7. Renten, Finanzmärkte und Wohlfahrtsstaaten nach der Großen Rezession
Zusammenfassung
Welche Wechselwirkungen zwischen Finanzmärkten und wohlfahrtsstaatlichen Institutionen lassen sich im Zuge der Finanzkrise von 2007/2008 und ihrer Folgen beobachten?
1.
Private Pensionsfonds operieren prozyklisch, sie gehen zur Erzielung von ausreichenden Erträgen in einem Niedrigzinsumfeld höhere Risiken ein und versuchen, diese Risiken durch Umstellung auf „defined contribution“-Systeme auf ihre Klienten abzuwälzen.
 
2.
Die von US-Regierungen ermutigte Vergabe von Subprime-Hypotheken und deren Verwandlung in toxische Derivate waren wesentliche Komponenten der spekulativen Hauspreisblase, deren Platzen sowohl die globale Krise auslöste als auch durch die Enteignung zahlreicher Hausbesitzer sozialpolitische Absichten zunichte machte.
 
3.
Die neoliberale, angebotsseitige Wirtschaftspolitik machte zwar aus einer normalen Finanzkrise erst eine Megakrise, aber das führte nicht zum Abschied vom neoliberalen Projekt. Die für die Bankenrettung erforderlichen Staatsverschuldungen boten vielmehr – insbesondere in der Eurozone – Anlass, das neoliberale Projekt mit Mitteln der Austeritätspolitik, vor allem sozialpolitischer Leistungskürzungen, fortzusetzen.
 
Heiner Ganßmann
8. Europäische Integration durch soziale Konflikte
Zusammenfassung
Die derzeitige Verschärfung von innereuropäischen sozialen Konflikten wird überwiegend mit Sorge betrachtet. Der vorliegende Beitrag nimmt diese Sorge zum Anlass, den sozialen Konflikt im Sinne Georg Simmels als Grundlage von Vergesellschaftung und Gesellschaft zu rehabilitieren. Zunächst werden grundlegende Argumente für Bedingungen zusammentragen, unter denen Konflikte sozialintegrative Wirkungen haben können. Dann werden die aktuellen Entwicklungen in Europa zu den konflikttheoretischen Überlegungen in Beziehung gesetzt. Dabei geht es um die Frage, ob die Krise der Europäischen Integration die soziale Integration Europas behindert oder begünstigt.
Thilo Fehmel
9. Negative Europäisierung. Die Eurokrise und die Paradoxien der institutionellen Überintegration
Zusammenfassung
Die gegenwärtige Krise der Europäischen Union ist als Konsequenz der institutionellen Überintegration des europäischen Markt- und Währungsraumes zu verstehen, der gleichzeitig institutionelle Defizite auf dem Feld der Wirtschafts- und Sozialpolitik gegenüberstehen. Das Spannungsverhältnis dieser asymmetrischen Institutionalisierung bringt Paradoxien hervor, die durch den institutionellen Integrationsmodus der Europäischen Union selbst nicht mehr aufgelöst werden können. Die Effekte davon kumulieren in einer Dynamik negativer Europäisierung, die sich einerseits in der Selbstblockierung des Handlungssystems, andererseits in der Gleichzeitigkeit von fortschreitender Institutionalisierung und gesellschaftlicher bzw. politischer Desintegration manifestieren. Dadurch bildet die Europäische Union als transnational agierendes Institutionengebilde, wie in diesem Beitrag gezeigt wird, den Rahmen einer beispiellosen rekursiven und dadurch selbstverstärkenden Krisendynamik.
Maurizio Bach
10. Eurokrise und Gesellschaftsbildung
Zusammenfassung
Die Analyse der Folgen der Eurokrise beruht auf zwei Unterscheidungen: um einen zwischen Geld und Währungen und zum anderen zwischen institutionellem Konfliktrahmen und sozialen Konflikten. Im ersten Schritt zeige ich, dass die Abschaffung des Wechselkursmechanismus EU-weite Kooperations- und Konfliktbeziehungen verdichtet. Im zweiten Schritt argumentiere ich, dass durch die Eurokrise sowohl die Institutionenbildung vorangetrieben hat, als auch eine komplexe Konfliktkonstellation entstehen ließ. Die Konflikte wirken eher gesellschaftsbildend, da sie die Institutionen, welche den Konfliktrahmen bilden, kaum angreifen können.
Georg Vobruba
Metadata
Title
Krise und Integration
Editors
Jenny Preunkert
Georg Vobruba
Copyright Year
2015
Electronic ISBN
978-3-658-09231-3
Print ISBN
978-3-658-09230-6
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-09231-3