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Open Access 07-12-2022 | Angewandte Geographie

Lokale Wertschöpfungsstrategien in global vernetzter Kreislaufwirtschaft – Eine Analyse des brasilianischen Elektroschrott-Recyclings

Authors: Hans-Christian Busch, Judith Wiemann

Published in: Standort | Issue 1/2023

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Zusammenfassung

Dieser Beitrag untersucht lokale Wertschöpfungsstrategien der Circular Economy des globalen Südens. Über die bloße Abfallentsorgung hinausgehend stehen dabei alternative Strategien der Wertschöpfung und Inwertsetzung verschiedener Akteure entlang der Recyclingkette von Elektroschrott (E-waste) im Mittelpunkt. Wir analysieren diese lokalen Wertschöpfungsstrategien in Verbindung mit globalen Verflechtungen in der E‑waste-Recyclingkette in São Paulo, Brasilien – als anschauliches Fallbeispiel im globalen Süden. Die Ergebnisse der qualitativen Studie erweitern vorherrschende hochtechnologische Ansätze um zwei Möglichkeitskorridore: Erstens arbeiten kleine Akteure in vorderen Kettensegmenten daran, gebrauchte Materialien neuen Verwendungszwecken zuzuführen (Bricolage-Wertschöpfungskorridor). Zweitens fokussieren sich brasilianische Recyclingunternehmen im mittleren Kettensegment auf die Vereinfachung auf wesentliche Kernfunktionen, um ausrangierte Elektrogeräte erneut in Wert zu setzen (frugaler Wertschöpfungskorridor). Somit werden zwar einerseits in vorderen Kettensegmenten (reparierte oder aufgearbeitete) zirkuläre Kreislaufprodukte erkennbar. Andererseits überwiegt in hinteren Segmenten allerdings weiterhin ein Schwerpunkt auf ökonomisch rentablerer Materialextraktion. Neben einer kritischen Perspektive auf kreislaufwirtschaftliche Ansätze im globalen Süden zeigen die Ergebnisse daher, wie alternative Perspektiven auf Wertschöpfung tendenziell dazu beitragen können, einen nachhaltigen Wandel hin zu einer geschlossen lokalen Circular Economy zu erreichen.

Einleitung

Begrenzte natürliche Ressourcen und Umweltverschmutzung durch unzulängliche Entsorgung befeuern die Kritik an linearen Wirtschaftsmodellen. Linearen Produktionssystemen werden zunehmend zirkuläre Ansätze – international als Circular Economy diskutiert – gegenübergestellt. Zwei Ziele leiten zirkuläre Ansätze: Werterhaltung (d. h. Materialien verbleiben länger im Wirtschaftskreislauf) und Materialeffizienzsteigerung der gesamten Wirtschaft (Geissdoerfer et al. 2017). Jedoch regt sich auch Kritik, denn Circular Economy stellt bis dato eher ein Idealbild dar, das erst ansatzweise umgesetzt wird (Corvellec et al. 2020). Auch geographische Debatten würdigen Circular Economy daher kritisch (Hobson 2016).
Das Recycling ausrangierter elektrischer und elektronischer Geräte (internationaler Terminologie folgend hier als E‑waste bezeichnet) stellt ein anschauliches Fallbeispiel und kritisches Analyseobjekt der global vernetzten Circular Economy dar (Lepawsky 2018; Hobson 2016). E‑waste-Recycling erfolgt in spezifisch organisierten Wertschöpfungsketten, die sich mit jeder Prozessstufe zunehmend kleinteilig verzweigen (Lepawsky 2018).
Im globalen Süden umfassen E‑waste-Wertschöpfungsketten sowohl formelle als auch informelle lokale Akteure (Hobson 2016). Hier und im Folgenden wird das generisches Maskulinum verwendet, wenn Organisationen gemeint sind, wie etwa Kollektive von Sammler:innen, Unternehmen oder öffentliche Organe, und keine Einzelpersonen. Zwar wird, wie Millington und Lawhon (2019, S. 1046) schildern, die Recyclingwirtschaft im globalen Süden im Kontrast zum globalen Norden oft als „informell, krisengeschüttelt und im Scheitern begriffen“ gezeichnet. Analysen zeigen aber auch, dass gerade in E‑waste-Recyclingketten nicht bloß Abfallentsorgung stattfindet: Vielmehr wird E‑waste auch als innovative Materialquelle (Knapp 2016) oder „Quelle der Wert- und Produktkreation“ gesehen (Corwin 2018, S. 17). Somit verspricht die Analyse konkreter Strategien der Wertschöpfung und Inwertsetzung verschiedener Akteure entlang der E‑waste-Recyclingkette wertvolle Erkenntnisse hinsichtlich zirkulärer Ansätze.
Dieser Beitrag untersucht E‑waste-Recycling in São Paulo, Brasilien, als beispielhaften Fall im globalen Süden gemäß der Leitfrage: Welche lokalen Wertschöpfungsstrategien verfolgen unterschiedliche Akteursgruppen in der global vernetzten brasilianischen E‑waste-Recyclingwirtschaft? Zunächst betrachten wir im konzeptionellen Rahmen E‑waste-Recycling in globalen Produktionszusammenhängen. Anschließend entwickeln wir ein differenziertes Bild der lokalen Wertschöpfungsstrategien des brasilianischen E‑waste-Recyclings. Im Fazit resümieren wir die Ergebnisse im Lichte laufender Debatten.

E-waste-Recycling in global vernetzter Perspektive

Innerhalb geographischer Debatten zur Kreislaufwirtschaft wird E‑waste zunehmend diskutiert (Hobson 2016). Verschiedenste ausrangierte Elektro- und Elektronikprodukte, z. B. Haushaltsgeräte, Smartphones oder Computer, werden in der Kategorie E‑waste zusammengefasst (Forti et al. 2020). E‑waste stellt also ein wachsendes Phänomen dar, dessen weltweit erfasstes Gesamtvolumen sich 2019 auf 53,6 Megatonnen (Mt) belief (Forti et al. 2020). Jedoch steht einer trennscharfen Eingrenzung von E‑waste ein räumlich geprägtes Begriffsverständnis entgegen, z. B. durch variierende Gesetzgebungen. Es resultiert eine ungleiche E‑waste-Geographie (Lepawsky 2018).
Zur Annäherung an diese Geographie betrachten wir E‑waste-Recycling nun in global vernetzter, kreislaufwirtschaftlicher Perspektive. Konzeptionell können dazu vor- bzw. nachgelagerte (lineare) globale Wertschöpfungsketten unterschieden werden (Hansen et al. 2021). Vorgelagert werden die Produktion und Konsumption von Elektro- und Elektronikprodukten betrachtet. Weltweit große Konzentrationen dieser Branchen befinden sich im ostasiatischen Raum (Yeung 2022). Nachgelagert befinden sich globale Wertschöpfungsketten, die recycelte E‑waste-Materialien erneut in den Materialkreislauf integrieren. Profitable Beispiele sind Kunststoffrecycling und Metall- und Edelmetallrecycling, v. a. Eisen, Aluminium, Kupfer und Gold (Forti et al. 2020). Diese Verwertung von Edelmetallen geschieht zumeist in Raffinerien im globalen Norden (Knapp 2016).
Insgesamt verlangt die Schnittstellenfunktion zwischen vor- und nachgelagerten globalen Wertschöpfungsketten eine geographisch nuancierte Perspektive auf lokal-globale Zusammenhänge im E‑waste-Recycling. Dazu können E‑waste-Ströme mit Mitteln der Wertschöpfungskettenanalyse untersucht werden (Hansen et al. 2021). Einerseits wird so berücksichtigt, dass E‑waste-Recycling ein Scharnier aus „beginnings“ und „endings“ zwischen als „wertlos“ erachteten und neu in Wert gesetzten Ressourcen bilden kann (Lepawsky und Mather 2011). Andererseits ist die Kettenmetapher auch aus materieller Perspektive hilfreich. Denn obwohl E‑waste-Recycling netzwerkartig verzweigt ist, werden mit jeder Prozessstufe zuvor verbundene Komponenten unwiederbringlich in Einzelfraktionen des E‑waste-Rezyklats getrennt; eine Nutzung im ursprünglichen Verwendungszweck wird somit unmöglich (Lepawsky, 2018).
Abb. 1 nimmt diese konzeptionellen Überlegungen auf und zeigt (stark vereinfacht) die globalen Verflechtungen der E‑waste-Recyclingkette in (1) vorgelagerte bzw. (3) nachgelagerte Wertschöpfung sowie (2) national und regional verortete Kreislaufwirtschaft. Letztere kann, vereinfacht dargestellt, anhand der Prozessschritte Instandsetzung (Refurbishment), Refabrikation (Remanufacture) und Recycling untergliedert werden (Souza 2019; Dias et al. 2018). In der empirischen Analyse vertiefen wir die Schritte (2). Abb. 1 zeigt auch den nichtzirkulären Wertschöpfungspfad (4), bspw. Deponien, und berücksichtigt so die erst ansatzweise Umsetzung der Circular Economy (Corvellec et al. 2020).
Die periphere Position des E‑waste-Recyclings zwischen vor- bzw. nachgelagerten Wertschöpfungsketten bedingt eine persistente Ressourcenknappheit. E‑waste als sekundäre Ressource unterliegt stetigen Schwankungen, ist somit knapper materieller Input für Recyclingketten (Gregson und Crang 2015; Corwin 2018). Die periphere Beziehung zu nachgelagerten Unternehmen bedingt zudem knappe finanzielle Ressourcen und Kostendruck innerhalb der Recyclingkette (Knapp 2016). Folglich sind lokale Wertschöpfungsstrategien durch materielle und finanzielle Knappheit geprägt. Zur Konzeption ressourcenbegrenzter Strategien hat bisherige Forschung Bricolage und frugale Wertschöpfungsansätze diskutiert: Bricolage versucht, begrenzt vorhandene materielle Ressourcen kreativ zu rekombinieren (Baker und Nelson 2005). Frugale Wertschöpfung überwindet finanzielle Ressourcenknappheit durch Vereinfachung und Kostenreduktion (Le Bas 2020). Beide Ansätze werden zunehmend mit Circular Economy verknüpft und dienen als heuristischer Rahmen der Analyse.

Untersuchungsregion und Methoden

Der Beitrag analysiert zirkuläre Wertschöpfung der E‑waste-Recyclingbranche in São Paulo, Brasilien. Dieser Analysefokus begründet sich wie folgt: (1) In Brasilien werden sowohl verschiedene Elektronikgeräte hergestellt als auch Rohstoffe für deren Produktion gefördert (Souza 2019). (2) Hat sich dort durch eine aufstrebende Mittelschicht ein wachsender Absatzmarkt für Elektronikprodukte gebildet (Dias et al. 2018). (3) Wachsen folglich E‑waste-Volumina (2,14 Mt in 2019) und damit (4) die brasilianischen E‑waste-Recyclingbranche (Forti et al. 2020).
Abb. 2 zeigt Akteure der brasilianischen E‑waste-Recyclingbranche auf Bundesstaatenebene (Kreise) und zur Einordnung die Bevölkerung der Bundesstaaten (Flächenfarben), die einen Hinweis auf den Konsum von Elektronikgeräten der Regionen gibt. Die Branche weist die größte Ballung im Bundesstaat São Paulo auf (Dias et al. 2018). Dieses Lokalisationsmuster korrespondiert mit der Größe São Paulos, dem mit 46,6 Mio. Einwohnern (2021) bevölkerungsreichsten Bundesstaat (IBGE 2022). Die Analyse fokussiert daher São Paulo und besonders die gleichnamige Metropolregion.
Die qualitative Analyse nach Silverman (2017) folgt lokalen E‑waste-Pfaden. Dazu nimmt sie formelle und informelle Perspektiven durch Interviews auf: u. a. von Sammler:innen, kleinen und mittleren Recyclingunternehmen bis hin zu multinationalen Unternehmen (siehe Tab. 1). Die empirischen Daten bestehen aus vor Ort geführten Interviews mit betrieblichen und gesellschaftspolitischen Akteuren (31 Interviewte), Teilnahmen an drei Fachveranstaltungen, 13 Betriebsbesichtigungen sowie ergänzende Sekundärdaten, z. B. Unternehmensberichte oder -webseiten (Datenerhebung: 2016–2020). Tab. 1 fasst die empirischen Daten zusammen.
Tab. 1
Empirische Daten zur brasilianischen E‑waste-Recyclingbranche
Akteursgruppe
Organisationen
Interviewte
1 Rücknahmesysteme
1a Öffentliche Akteure
1
2
1b Private Initiativen
2
2
2 Sammlung
2a Kleine und mittlere Unternehmen
1
1
2b Kooperativen
3
5
3 Recycling
3a Mittlere Unternehmen
4
5
3b Große Unternehmen
5
10
4 Raffinerien
1
1
5 Sonstige Akteure
4
5
Summen
21
31

Lokale Wertschöpfungsstrategien in der brasilianischen E-waste-Recyclingkette

Verschiedene Akteursgruppen sind in die E‑waste-Prozessschritte – zuvor analytisch als Instandsetzung, Refabrikation, Recycling und Raffination unterteilt (siehe Abb. 3) – in Brasilien eingebunden. Diese Akteursgruppen überschneiden sich teilweise, da etwa dieselben Akteure verschiedene Schritte abdecken. Ferner sind sowohl informelle als auch formelle Akteursgruppen Teil der Wertschöpfungskette (Souza 2019).
Auch wenn keine trennscharfe Abgrenzung von E‑waste möglich ist (Lepawsky 2018), kann zu Analysezwecken das Ausrangieren eines Elektro- oder Elektronikproduktes als Beginn der Recyclingkette erachtet werden (Forti et al. 2020). Dem ersten Prozessschritt ist zunächst die E‑waste-Sammlung vorgeschaltet. Diese kann durch formalisierte Rücknahmesysteme, öffentliche Abfallsysteme und Entsorgungsunternehmen oder durch informelle Abfallsammler:innen erfolgen (Souza 2019). Es existieren außerdem diverse illegale Entsorgungsrouten, die tendenziell im Widerspruch zum Konzept der Kreislaufwirtschaft stehen (Souza 2019). Auf die Vielzahl informeller Sammlungspraktiken kann dieser Beitrag nicht vertieft eingehen, da meist subsistenzorientierte Sammlung und keine dezidierte E‑waste-Wertschöpfung praktiziert wird.
An der Grenze zwischen informeller und formeller Sammlung verspricht der Fokus auf in Brasilien verbreitete Abfallsammlerkooperativen dagegen interessante Erkenntnisse. In diesem Segment bündeln semiprofessionell organisierte Sammlerkollektive ihre Ressourcen, z. B. in der gemeinsamen Nutzung von Fahrzeugen oder Räumlichkeiten. In wenigen Fällen sind E‑waste-Recyclingkooperativen hochprofessionalisiert und mit kleinen Entsorgungsunternehmen vergleichbar. Die Tätigkeitsfelder dieser Akteure gehen dann über die Materialsammlung hinaus und leiten zum ersten Prozessschritt des E‑waste-Recyclings über: der Instandsetzung.
Recyclingkooperativen und kleinere Entsorgungsunternehmen übernehmen kreislaufwirtschaftliche Tätigkeiten der Instandsetzung (Refurbishment). In diesem Kettensegment steht hohes Materialaufkommen relativ geringen Material- bzw. Transaktionswerten gegenüber (vgl. Abb. 3). Daher wenden Akteure in der Regel relativ einfache Arbeitsschritte an, bspw. das Zertrennen von E‑waste. Aufgrund begrenzter Ressourcen agieren die Akteure im limitierten Aktionsradius, tendenziell im urbanen Raum. Zwar wird ein Großteil des E‑waste nach Zerteilung an die nächsten Stufen der Kette übergeben, doch die Akteure dieses Segments übernehmen die wichtige Funktion der Bricolage-Wertschöpfung. Dies bedeutet, dass sie mit knappen Ressourcen bspw. kreative kleinere Reparaturlösungen vornehmen (Baker und Nelson 2005). So können neu in Wert gesetzte oder rekombinierte Produkte im Sinne der Circular Economy entstehen.
In der nächsten Stufe der Wertschöpfungskette führen mittlere brasilianische Entsorgungsunternehmen die Prozessschritte der Refabrikation und des Recyclings aus (siehe Abb. 4 und 5). Zuvor zerkleinertes Material nimmt nun an Volumen ab, beinhaltet aber zunehmend höhere Anteile werthaltiger Ressourcen (z. B. Kupfer). Dank zunehmender Expertise der Akteure (und einem höherem Professionalisierungsgrad) können einerseits Elektrogeräte, die zuvor als „wertlos“ deklariert wurden, aufgearbeitet oder als Ersatzteile widerverwendet werden. Diese Refabrikation ist Teil einer frugalen (ressourcensparenden) Wertschöpfungsstrategie. Dies bedeutet auf Kernkomponenten und -funktionen reduzierte und vereinfachte neue Produktvariationen, die tendenziell auch günstiger als Alternativen angeboten werden können (Le Bas 2020).
Dieses Segment der Wertschöpfungskette erfordert tendenziell mechanisierte Arbeitsschritte, höheren Wissenseinsatz und höhere Kapitalintensität. Akteure dieser Stufe müssen daher regional bis überregional agieren, um die nötigen Materialvolumina für die Recyclingprozesse zu gewährleisten. Ein Großteil der Wertschöpfung dieser Akteursgruppe entfällt daher gleichzeitig auf das eigentliche Recycling, d. h. die Inwertsetzung auf Materialebene. Beispielsweise erfolgt Recycling durch das Zerkleinern von E‑waste in einzelne Fraktionen. Einerseits können diese Materialfraktionen an die brasilianische Industrie als Grundstoffe verkauft werden. Tendenziell können so im Sinne der Circular Economy neue Produkte entstehen. Andererseits ist im Fall gewünschter Extraktion besonders werthaltiger Bestandteile des E‑waste-Rezyklats (z. B. Edelmetalle) jedoch ein weiterer Prozessschritt notwendig: die Raffination.
Mittlere brasilianische E‑waste-Entsorgungsunternehmen geben dann die geschredderten und vorsortierten Materialien zur Raffination an global agierende Unternehmen mit Niederlassung in Brasilien weiter. Diese exportieren die verbleibenden Teile des E‑waste anschließend an Raffineriestandorte des globalen Nordens. Dort werden mittels pyrometallurgischer Verfahren Edelmetalle aus dem E‑waste-Rezyklat extrahiert (Knapp 2016). Derart neu gewonnene Elemente dienen tendenziell als Grundstoffe weiterer globaler Wertschöpfungsketten, bspw. zur erneuten Verarbeitung als Elektrogeräte (Lepawsky 2018). Somit können neue Rohstoffe im Sinne der Circular Economy entstehen. In diesem Prozessschritt ist der im E‑waste vorhandene Wert tendenziell zwar am höchsten, es bedarf jedoch kapital- und technologieintensiver Produktionsanlagen.

Fazit

Die Ergebnisse fügen sich in Debatten alternativer kreislaufwirtschaftlicher Wertschöpfungsstrategien im globalen Süden ein (Corwin 2018; Hobson 2016). Die Analyse der E‑waste-Recyclingkette in São Paulo erweitert vorherrschende hochtechnologische Ansätze um zwei Möglichkeitskorridore. Erstens bilden kleine Akteure (z. B. Kooperativen) in vorderen Kettensegmenten einen Bricolage-Wertschöpfungskorridor (Baker und Nelson 2005). Sie tendieren zu Rekombinationslösungen mit knappen Ressourcen, um gebrauchte Materialien neuen Verwendungszwecken zuzufügen (z. B. durch Reparatur). Zweitens bilden brasilianische Recyclingunternehmen im mittleren Kettensegment einen frugalen Wertschöpfungskorridor (Le Bas 2020). Im frugalen Ansatz fokussieren Akteure durch Vereinfachung auf wesentliche Kernfunktionen, um E‑waste erneut in Wert zu setzen (z. B. durch Aufbereitung). In hinteren Kettensegmenten, dem High-Tech-Wertschöpfungskorridor, extrahieren globale Unternehmen wertvolle Bestandteile des E‑waste-Rezyklats tendenziell mittels kapital- und technologieintensiver Prozesse, zumeist verortet im globalen Norden (Knapp 2016).
Insgesamt zeigen sich unterschiedliche Wertschöpfungsmotivationen in der E‑waste-Recyclingkette. Einerseits handeln Akteure in vorderen Kettensegmenten stärker notwendigkeitsgetrieben und verfügen über weniger technologieintensive Möglichkeiten. Sie reagieren so stärker auf ressourcenbeschränkte Umfeldbedingungen und stehen in hoher Abhängigkeit zu nachfolgenden Kettenakteuren. Andererseits verfügen Akteure in hinteren Kettensegmenten über ausgedehntere globale Netzwerke, können so auch kapital- und technologieintensive Prozesse umsetzen.
Es zeigt sich folglich, dass zwar in vorderen Kettensegmenten neu in Wert gesetzte (reparierte oder aufgearbeitete) zirkuläre Kreislaufprodukte entstehen, in hinteren Segmenten aber der Fokus auf ökonomisch rentablerer Materialextraktion überwiegt. Daher sind weitere kritische Analysen zu den tatsächlichen Nutznießern der Wertschöpfung innerhalb globaler Kreislaufwirtschaftsketten notwendig; insbesondere, um inhärente Abhängigkeiten und Machtbeziehungen kritisch zu untersuchen. Während dieser Beitrag also die generelle Passung von kreislaufwirtschaftlichen Ansätzen im globalen Süden kritisch aufarbeitet, zeigen die Ergebnisse auch, wie alternative Perspektiven auf Wertschöpfung dazu beitragen können, einen nachhaltigen Wandel hin zur geschlossen (kürzeren) Circular Economy vor Ort zu erreichen.

Danksagung

Wir danken den Interviewpartner:innen für geteilte Einblicke sowie Paul Szabó-Müller, Marius Angstmann und zwei Gutachter:innen für hilfreiche Kommentare.

Förderung

Wir danken der Gesellschaft für Erdkunde zu Köln und dem Stifterverband für die deutsche Wissenschaft für finanzielle Förderung.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Metadata
Title
Lokale Wertschöpfungsstrategien in global vernetzter Kreislaufwirtschaft – Eine Analyse des brasilianischen Elektroschrott-Recyclings
Authors
Hans-Christian Busch
Judith Wiemann
Publication date
07-12-2022
Publisher
Springer Berlin Heidelberg
Published in
Standort / Issue 1/2023
Print ISSN: 0174-3635
Electronic ISSN: 1432-220X
DOI
https://doi.org/10.1007/s00548-022-00819-w

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