Ob Kirche, Politik oder Philosophie: Keine Institution kann mit der bindenden Wirkung starker Marken mithalten. Trotzdem führt emotionalisiertes Marketing nicht immer zum Ziel, erklärt Springer-Autor Oliver Errichiello im Interview.
Springer Professional: Die Marke ist nicht nur von wirtschaftlicher Relevanz, sondern laut Ihrem Buch "Philosophie und kleine Geschichte der Marke - Marken als individuelle und kollektive Sinnstifter" auch ein universelles Bündnissystem. Wie äußert sich das und wie kam es dazu?
Dr. Oliver Errichiello: Vor einem soziologischen Hintergrund ist es doch erstaunlich, dass Menschen über alle Zeitalter und Kulturen hinweg Gemeinschaften oder – um es modern zu formulieren – Communities gebildet haben. Der Mensch ist ein Bündniswesen. Wandlungsfähig ist allerdings, was für den Menschen "bindungsrelevant" ist. Waren über es Jahrhunderte die Zugehörigkeit zu einem Landstrich, zu einem Volk, einer Religion so hat aufgrund veränderter psychologischer Dispositionen (das Leben im Jetzt hat den Glauben an eine religiöse Ewigkeit verdrängt – daher gilt es das Leben in Fülle zu leben), die Marke diese "Identifikationsfunktion" zunehmend übernommen – Kitkat statt Kirche. Im Zeitalter des übergreifenden Wandels gibt die Marke Orientierung. Sie wirkt dabei nach "Innen" ("So sehe ich mich") und "Außen" ("So möchte ich gesehen werden") in unmittelbarer Weise. Wir fahren mit einem Auto einer bestimmten Marke vor und werden automatisch als pragmatisch oder wohlhabend kategorisiert, je nachdem, ob es sich um einen Dacia oder Porsche handelt. In einer überschaubaren Lebensspanne von 70 oder 80 Jahren haben wir durch die Marke die Möglichkeiten, unser Selbst- und Fremdbild unmittelbar zu wechseln und anzupassen. Damit ist die Marke damit das wirkungsvollste Mittel sich selbst treu zu bleiben. Dabei kann sie diese Funktion nur erfüllen, wenn mit der Marke klare und eindeutige Charakteristiken verbunden werden, sie also selbstähnlich und zusageverlässlich agiert und ihrem "Genetischen Code" folgt. Denn Marken machen erst Sinn, wenn das gegenüber meine "Botschaft" versteht.
Ob Models, Fußballspieler oder Social-Media-Influencer: Viele Personen des öffentlichen Lebens treten als Markenbotschafter auf und verpflichten sich damit, Konkurrenzmarken gänzlich zu meiden. Wie mächtig sind Marken?
Marken sind die Ideologien des 21. Jahrhunderts. Kein politisches Programm, keine Religion und keine Philosophie hat die öffentliche Breitenwirkung, die Apple, Mercedes, Nespresso oder Red Bull erreichen. Die Marke ist eine universelle Sprache, die kulturelle Unterschiede überwindet – eben dieser Status macht sie immer erfolgreicher. Man mag es kritisch beurteilen, aber in ihrer Orientierungsfunktion konstituiert sie inzwischen große Teile der Persönlichkeit. Individualität bedeutet in unserer Epoche aus der Vielzahl der Möglichkeiten und Produkte, die auszuwählen, die wir als passend zu unserem Selbstbild empfinden. Denn aus der Vielzahl der Konsumentscheidungen, die wir tagtäglich treffen, komponieren wir unsere Individualität. Kurz: Je mehr Marken, desto individueller das Ich. In diesem Sinne wirken Markenbotschafter immer als Repräsentanten exemplarischer Lebensstile. Kritisch ist, dass auch hier oftmals keine Langfristigkeit herrscht: Sind Influencer glaubwürdig, die im Wochenrhythmus ihre 'Präferenzen' ändern? Der Siegeszug des Influencers seit circa vier Jahren lässt sich nur mit dem Wunsch erklären, dem Massenprodukt ein individuelles Gesicht zu geben, es zu ent-anonymisieren. Es gilt immer noch: Vertrauen entsteht durch Vertrautes. Und Aufmerksamkeit hat noch nichts mit Markenstärke zu tun, denn Marken haben die Aufgabe, den Überzeugungsaufwand zu reduzieren.
Smartphones etwa haben einen neuen Zugang zu Marken geebnet, gleichzeitig sind viele menschliche Bedürfnisse seit tausend Jahren unverändert. Wie klappt die Vereinigung heute und in Zukunft?
Stichworte wie "Ende des Push-Marketings", "Kommunikationsgewitter" und "always on" geben das Tempo in der digitalen Markenführung vor. Unzweifelhaft ist: Marken können heute ihre "Kernwerte" immer schwerer verankern. Umso wichtiger wird es, in Zeiten, in denen die Aufmerksamkeits- (und Erinnerungsspanne!) abnimmt, vorhandene Vorurteilsstrukturen zeitgemäß zu bestätigen. Momentan wird oft postuliert, man könne die Aufmerksamkeit der User nur durch Emotionalisierung der Kommunikation gewinnen. Das Problem ist, dass diese Aufmerksamkeit mit Inhalten erzeugt wird, die außerhalb des Leistungsterritoriums der Marke liegen. Im Effekt wird zwar die Kommunikation, aber nicht die Marke erinnert. Emotionen sind immer universell, Marken dagegen sind immer spezifisch. Emotionale Strategien werden somit schnell zur Werbeinsel. Der umgekehrte Weg ist in Zeiten des "Smartphone-Kommunikation" wirkungsvoller: Sich über die eigenen Stärken im Markt bewusst sein und diese kanalspezifisch aufbereiten. Stärken stärken, statt vermeintlichen Erfolgsrezepten folgen. Auch in der Epoche der Digitalisierung ist das wirkungsvollste Mittel der Wertschöpfung Vertrauen.