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29-11-2021 | Materialentwicklung | Schwerpunkt | Article

Keime der Unvollkommenheit

Author: Dieter Beste

3:30 min reading time

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Die Bildung von Kristallen ist offenbar sehr viel komplexer als gedacht. Forscher haben jetzt in der berühmten Naica-Mine in Mexiko nach Beweisen für nicht-klassische Keimbildungswege gesucht – und gefunden.

Kristalle sind allgegenwärtig. "Praktisch alle natürlich gebildeten Festkörper (Minerale) sind Kristalle", halten Walter Borchardt-Ott und Heidrun Sowa in ihrer Einleitung zu "Kristallographie" fest und zählen auf: "Fast alle festen anorganischen Chemikalien sind kristallin, auch viele feste organische Verbindungen haben einen kristallinen Aufbau, z. B. Naphthalin, Benzol, Zellulose, Eiweiße, Vitamine, Kautschuk und Polyamide. Die Metalle und die Legierungen, die Keramiken und die Baustoffe bestehen aus Kristallen."

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Kristallbaufehler

Ein Kristall von der Größenordnung 1 cm3 enthält ungefähr 1023 Atome. Nach der Gittertheorie müssten alle Kristallbausteine dem Prinzip eines Translationsgitters folgen. Alle Bausteine müssten der Symmetrie einer der 230 Raumgruppen gehorchen. Die …

Die geordnete Struktur der Kristalle legt nahe, dass sich auch ihr Wachstum auf eine sehr regelmäßige und geordnete Weise vollzieht. Doch diese "klassische" Sichtweise steht auf dem Prüfstand; inzwischen gilt es als wahrscheinlich, dass das Wachstum einiger kristalliner Materialien auch auf anderen Wegen erfolgen kann. Um hier Licht ins Dunkel zu bringen, haben sich jetzt Wissenschaftler der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung, Berlin, zusammen mit Forschern vom Institut des Sciences de la Terre, Grenoble, der Eidgenössisch-Technischen Hochschule, Zürich, des Deutschen GeoForschungsZentrums, Potsdam, sowie des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung, Potsdam, nach Mexiko aufgemacht, um Anhydrit-Kristalle der weltbekannten Naica-Mine und deren Wachstumsgeschichte unter die Lupe zu nehmen. In natürlichen Kavernen dieses Erzbergwerks fand man Kristalle, die über viele Jahrtausende gewachsen sind. Über ihre Untersuchungsergebnisse berichtet das Forscherteam jetzt in der Zeitschrift PNAS.  

Kristalle bauen sich aus einem dreidimensionalen periodisch symmetrischen Raumgitter auf. Das Wachstum könne man sich so vorstellen, "dass die Bausteine oder Teile davon sich aus einer Gasphase oder Lösung/Schmelze an einen Keim oder an die Oberfläche eines Kristalls geeignet anlagern", erklären Matthias Göbbels, Jens Götze und Werner Lieber im Buchkapitel "Kristallographie": "Treten dabei Fehler auf, bilden sich Baufehler, die sog. Versetzungen. Diese Versetzungen zeigen sich an Unregelmäßigkeiten im Gitterbau, in der Anordnung der Netzebenen." Und: "Bei allen strukturellen Defekten bilden sich Gitterverzerrungen. Diese beeinflussen die physikalischen Eigenschaften." Im Umkehrschluss bedeutet das: Je besser man die Ergebnisse des Kristallisationsprozesses von Materialien steuern und vorhersagen kann, desto größer sind die Chancen, Kristalle mit spezifischen Merkmalen herzustellen zu können – und Materialeigenschaften zu optimieren.

Nicht-klassische Keimbildung

Bei ihren Untersuchungen an den mexikanischen Anhydrit-Kristallen hat das Wissenschaftlerteam Defekte von Kristallproben im Nano- bis Millimeterbereich näher betrachtet und die innere Struktur des Minerals genau kartiert. Diese Analysen zeigten, dass sich eine Fehlausrichtung im Nanobereich über Längenskalen ausbreitet, was schließlich zur Bildung von Hohlräumen im Inneren des Kristalls führt, die sogar einen Millimeter und mehr messen können. Diese Defekte im makroskopischen Kristall stammen wahrscheinlich von "Keimen der Unvollkommenheit", die durch einen partikelvermittelten Keimbildungsweg entstanden sind, resümiert das Team. Der Aufbau eines Kristalls könne daher als das Stapeln von Blöcken in einem Tetris-Spiel betrachtet werden, wobei man langsam das Kernkonzept des Spiels vergisst und es nicht schafft, die Reihen vollständig zu füllen: "Der nicht-klassische Keimbildungsmechanismus führt also einen "Keim der Unvollkommenheit" ein, der zu einem makroskopischen Einkristall führt, dessen Fragmente auf verschiedenen Längenskalen nicht in selbstähnlicher Weise zusammenpassen. Folglich bilden sich anisotrope Hohlräume unterschiedlicher Größe mit sehr gut definierten Wänden/Rändern. Gleichzeitig behält das Material jedoch zum Teil seinen Einkristallcharakter", fassen die Wissenschaftler zusammen.

Vom Kopf auf die Füße gestellt

Den Hintergrund zu dieser aktuellen Kristallographie-Forschung umreißt James F. Lutsko im Buchkapitel "Novel Paradigms in Nonclassical Nucleation Theory": Keimbildung sei "ein schwieriges Problem mit gekoppelten Längen- und Zeitskalen", und es sei deshalb bemerkenswert, dass es die klassische Keimbildungstheorie als ein gut etabliertes theoretisches Paradigma überhaupt gibt. Sie beruhe allerdings auf dem Becker-Döring-Modell, "einer geschickten Kombination aus physikalischer Intuition und einer gewissen Geschicklichkeit bei der Umgehung technischer Schwierigkeiten." Im Weiteren gibt Lutsko einen detailreichen Überblick über die klassische Keimbildungstheorie, berichtet von zahlreichen Versuchen, sie zu verbessern und stellt Ansätze vor, die über die klassische Keimbildungstheorie hinausführen.
 

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