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2018 | Book

Modelle als Denkräume, Beispiele und Ebenbilder

Philosophische Dimensionen

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About this book

Das Buch macht bedeutende Modellschemata deutlich, die in der Kunstgeschichte/Philosophiegeschichte eine Rolle gespielt haben und für Architekten und Künstler auch heute noch und heute wieder eine Rolle spielen: Werkzeuge der kreativen Arbeit.

Alle Wahrnehmenden, Vorstellenden, Produzierenden, Erinnernden, philosophisch-wissenschaftlich-künstlerisch Arbeitenden gehen von modellartigen Annahmen und Entwicklungen aus. So erst werden die Zusammenhänge deutlich, die wir Dinge im Raum, Vorgänge in der Zeit, Werke, Erlebnisse nennen.

Table of Contents

Frontmatter

Denkräume als Modelle

Frontmatter
Kapitel 1. Platons Höhlengleichnis
Anthropologische Grundlagen

Zu den Anfängen des »Denkens über das Denken« in Europa gehört sogleich der Entwurf eines berühmten Modells, Platons Höhlengleichnis. Es ist ein Modell aus Worten, eher ein poetischer Text als eine philosophische Abhandlung und stellt eine Theaterszene dar, deren Bedeutung sich auf das Denken über die Welt bezieht, ein schaurig schönes, szenisches Bild. Anschaulich und konkret wird eine Gruppe von Menschen beschrieben, ihre Wahrnehmungen und Vermutungen, ihre Empfindungen und ihr Denken.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 2. Der Monochord des Pythagoras
Sphärenharmonie

Pythagoras von Samos (570–500 v. Chr.) hat ein Musikinstrument gebaut, das er als eine Art philosophisches Modell seiner Kosmologie benutzte, einer Harmonielehre, die sowohl auf die Astronomie und die Götterwelt als auch auf die Musik anwendbar war, also wissenschaftliche, magische und künstlerische Bedeutung hatte.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 3. Die Zeuxis-Legende
Zum Verwechseln ähnlich

Mimesis, Ähnlichkeit, galt Plinius d. Ä. (23–79 n. Chr.), dem bedeutendsten Kunsthistoriker der Antike, als der höchste Wert, der dem Werk eines Malers zugesprochen werden konnte. Seine Würdigung des griechischen Malers Apollodores illustrierte er durch eine sehr einprägsame Legende, auf die man sich besonders in der Renaissance wieder besonnen hat und die man mit Begeisterung weiterreichte, sozusagen als akademisches Modell, die Zeuxis-Legende.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 4. Das Labor des Alchimisten
Die Welt im Experiment

Das Bild eines mittelalterlichen Alchimisten wirkt geradezu wie das Modell eines Menschen in seinem Denklabor. Der gelehrte Laborant umgab sich mit Fragen an die objektiven Dinge ringsum und an seine eigene projektive Vorstellungskraft. In Reagenzgläsern und Brennöfen, Wasserbecken, Räucherkammern etc. wurden Materialien in ungewöhnlichen Mischungen erhitzt, gerührt, gewässert etc.; zugleich war die Phantasie des Experimentators auf die Probe gestellt.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 5. Leonardo da Vinci
Seine Welt als Experimental-Labor

Leonardo gibt zu erkennen, dass alle seine Äußerungen, schriftliche, malerische, technische, wissenschaftliche und politische, ausdrücklich zu einer experimentellen Denksituation gehören, die er als sein eigentliches, sein größtes Werk betrachtet, bedeutender als jedes seiner bekannten Werke. Von welcher Art ist dieses Experimentaldenken? Wie hat er es definiert und wie formuliert er seine Aufgaben, Empfehlungen und Bezüge? Leonardos Methode wird für uns deutlich, wenn wir davon ausgehen, dass alle seiner Darstellungen, Bilder und Zeichnungen, Texte und Geräte, ausdrücklich als Versuch gemeint waren.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 6. Das Benimmbuch des Erasmus von Rotterdam

Das Selbstbewusstsein des einzelnen Menschen musste sich seit den Anfängen der Zivilisation mit dem sozialen Bewusstsein arrangieren, das Ich-Denken mit dem Wir-Denken. Zu diesem Training gehörten in Antike und Mittelalter feste Spielregeln und Musterbücher, die den Bereich der Erziehung bestimmten, den man im Französischen courtoisie, im Englischen courtsey, im Italienischen cortezia und in Deutschland z. B. hövescheit, hübescheit oder auch zuht nannte.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 7. Goethes und Wittgensteins Suche nach Mustern für Sprache und Wahrnehmung

Ludwig Wittgenstein (1889–1951), berühmt wegen seiner unerbittlichen Leidenschaft für philosophische Logik und Sprache, war in seiner Jugend einige Jahre begeisterter Physiker und Techniker – ein merkwürdiger Kontrast der Interessen! Einerseits standen Ideen im Mittelpunkt, andererseits physische Dinge. Der Konflikt, den er ausdrücklich suchte, aber in den verschiedenen Phasen seiner Entwicklung von verschiedenen Seiten her anging, tritt in einer Anekdote deutlich hervor, die Goethes Denken betrifft und die Wittgenstein besonders schätzte.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 8. Karl Poppers cooler Traum
Trial and Error

Als eine konstruktive Suche nach Wahrheit kann man auch Karl Poppers »coolen Traum« lesen. Was ist Wahrheit, und wie ist der Fortschritt der Wahrheitssuche systematisch zu organisieren? Popper (1902–1994) rechnet damit, immer weiter verbesserte Methoden, Hypothesen, Theorien und Vermutungen könnten Wissenschaftler in die Lage versetzen, sich über Jahrhunderte hinweg allmählich der Wahrheit anzunähern, der er allerdings immer noch – wie Xenophanes – einen Schleier von Geheimnis zubilligt …

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 9. Ernst Bloch
Eine Philosophie der offenen Möglichkeiten

Die Welt der Modelle ist in der Kulturgeschichte ständig erweitert worden, von Philosophen, Naturwissenschaftlern, Technikern, Architekten etc., im Hinblick auf etwas, das noch nicht ist, das aber im Bereich der Wünsche und der Sehnsucht bereits einen hohen Rang einnimmt. Mit Modellen werden die Baupläne für eine erwünschte Zukunft mitgeteilt, sie enthalten nicht alle ihre Züge; wäre das möglich, so wären sie die Realisierung dieser Zukunft selbst.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 10. Gilles Deleuze. Hermann Schmitz
Das Vorläufige der philosophischen Begriffe

Mit Gilles Deleuze (1925–1995) verabschiedet sich die europäische Philosophie vom Jahrhunderte lang allmächtigen Erbe des Platonismus. Platon hat die Macht der Ideen als eine unveränderliche Welt gegenüber der schwankenden Erlebnisund Wahrnehmungswelt gelehrt. Er verstand ihre Unveränderlichkeit als das Göttliche, die schwankende Erlebniswelt als das Menschliche.

Wolfgang Meisenheimer

Modelle als beispielhafte Dinge

Frontmatter
Kapitel 11. Der Globus, die Armillarsphäre, Weltmodelle

Für Sokrates (469–399 v. Chr.) ist, wie Plato uns mitteilt, die Erde das ruhende Zentrum, um das sich innerhalb von 24 Stunden das All bewegt. Bei Kopernikus (1473–1543) ist die Sonne das Zentrum der Welt; die Erde dreht sich bei ihm um die Sonne und um sich selbst; für Tycho Brahe (1546–1601) dagegen sahen die Himmelsbewegungen anders aus: Die Sonne kreist im Jahresverlauf um die Erde mit ihrem Mond. Johannes Kepler (1571–1630) erkannte schließlich und teilte mit , auch wenn er sein Leben damit in Gefahr brachte, dass sich sowohl die Erde als auch die Planeten in elliptischen Bahnen um die Sonne bewegen.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 12. Portulane-Karten
Spiegel der Meere und der Länder

Um 1300 n. Chr. änderte sich in Europa die räumliche Vorstellung von der Welt, gleichzeitig änderten sichdie Techniken ihrer Darstellung auf Papier oder Haut, mimetisch oder symbolisch. Die erlebbare, wahrnehmbare Welt, d. h. Gebirge, Meer und Küsten, Städte und Häfen wurden jetzt, anders als im frühen Mittelalter, als ein Theater von körperlichen Gegenständen aufgefasst, die an bestimmten Orten und in bestimmten Abständen den Reisenden begegneten, vor allem den Seefahrern.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 13. Die Notation von Sphärenmusik

Entdeckerlust und Tatendrang von Königen und Abenteurern war am Ende des theosophisch geprägten Mittelalters gleichermaßen auf Erd- und Himmelslandschaften gerichtet. Beide Sphären wurden durch die Verwandlung der Weltsicht um 1300 n. Chr. körperlich und geistig neu erlebt. Ein Arsenal von Darstellungstechniken wurde dazu erfunden und eingesetzt, Texte, zweidimensionale Karten, Atlanten, Globen und vielerlei Gerät, das Auskunft geben sollte über die Überfülle der neuen Phänomene.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 14. Kalenderbauten in Jaipur.
Bauwerke als astronomische Instrumente.

1437 wurde in Samarkand das Observatorium des Großfürsten Olug Beg eingeweiht, ein Bauwerk, das einem astronomischen Zweck diente, eine monumentale Doppelmauerscheibe aus Ziegel, Zwischenabstand 2,40 m, an ihrem oberen Rand kreisförmig geschnitten, Radius 40,10 m. Das Ganze sorgfältig mit Marmor abgedeckt und exakt in Nordsüdrichtung aufgerichtet. Man konnte mit diesem Objekt den Sonneneinfallswinkel messen und dessen tägliche Veränderung in eine Skala eintragen, die in das Marmorband eingeritzt war: Ein astronomisches Instrument von der Größe eines Bauwerks, das die wichtigsten Bewegungen der kosmischen Welt in eine körperlich erlebbare Information übertrug.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 15. Meru, der indische Weltenberg

Nach dem Verständnis alter indischer Mythen ist Meru, der Weltenberg, sowohl ein Modell des Kosmos als auch ein Modell des leiblichen Bewusstseins, das man, tausendfach realisiert, in Städten und in der offenen Landschaft findet. Der Betrachter soll in diesem Objekt das Weltganze erkennen, das als ein Berg gestaltet ist. Seine Basis ist quadratisch; sie stellt die Erdscheibe dar, nach alter vedischer Vorstellung eine Insel, die auf dem unendlichen Ozean schwimmt, im »Milchmeer«, von einer Schildkröte getragen.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 16. Idealstädte
Kreis und Quadrat als mythische Figur

Sowohl die »Urform« der Erde als auch die »Urform« der Stadt werden in den ältesten europäischen Darstellungen rund vorgestellt: Der Erdkreis und die heilige Stadt Jerusalem sind Kreise, häufig durch Achsenkreuze gegliedert, also mit einer Mitte und einem regelmäßigen Rand. Der Kreis ist für Pythagoras und Plato die vollkommenste aller möglichen Gestalten. Die Schulen der Pathagoräer lehrten schon 550 v. Chr. in Griechenland und Süditalien, das Göttliche erscheine den Menschen in den Formen der elementaren Geometrie, wie die Natur sie offenbare, insbesondere der Sternenhimmel.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 17. Das Pantheon in Rom
Ein Weltmodell, magisch-mythisch und machtpolitisch

Das Pantheon, 118–28 v. Chr. von Kaiser Hadrian in Rom gebaut und allen damals bekannten Göttern gewidmet, ist ein Weltmodell von philosophischem Rang, das in monumentalen Dimensionen Aussagen macht über den menschlichen Verstand und die menschliche Wahrnehmung, wie man sie nie vorher objektivieren konnte. Denn das Gebäude, insbesondere sein Innenraum, ist die ausdrückliche Darstellung einer Idee, die die Rolle des denkenden, wahrnehmenden Menschen im Universum betrifft.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 18. Il Redentore, Venedig
Der ideale Anblick. Architektur für Betrachter

Diese Kirche wird auch heute noch, wie zur Zeit ihrer Entstehung, 1577, als ein besonderes Lehrstück der Baukunst verstanden. Der Architekt, Andrea Palladio, (1508–1580), in Vicenza aufgewachsen, in Rom geschult, war an zwei pädagogischen Aspekten gleichermaßen interessiert. Erstens sollte das Vokabular der griechisch-römischen Tempelarchitektur dem kultivierten Publikum im Panorama der Giudecca von Venedig angeboten werden; an das Vorbild der Antike sollte diese Fassade auch im Alltag erinnern.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 19. Étienne-Louis Boullée
Der Kenotaph für Newton, ein Umkehrmodell

Für das Projekt Kenotaph für Newton hat Étienne-Louis Boullée (1728–1799), der große Revolutionsarchitekt, zauberhafte Modell-Zeichnungen angefertigt, es sind vielleicht die ausdrucksvollsten Zeichnungen der Architekturgeschichte. Sie werden in der Nationalbibliothek Paris verwahrt.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 20. Souzhou
Philosophische Gärten bei Shanghai

Souzhou liegt im subtropischen Klima des Yang-Tse-Deltas. Hier, in einer Landschaft, die seit 6000 Jahren zivilisiert wird, hat man in den Dynastien Song, Yuan, Ming und Qing, also schon vor Jahrhunderten für hohe Beamte, reiche und gelehrte Pensionäre Landschaftsgärten besonderer Art konzipiert und gebaut. Jeder davon ist von anderer, eigener Art; es gibt allein 70 in dieser Stadt.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 21. Kare Sansui
Japanische Trockengärten

Schon in vorhistorischen Zeiten des Shintoismus, der Naturreligion im alten Japan, hat man mitten in der organischen, wechselvollen Natur schöne große Steine, Findlinge, aufgerichtet und Bedeutungen mit ihnen verknüpft, mythische Vorstellungen vom Fremden, Erhabenen, Göttlichen. Schon diese einzelnen Objekte waren »Steine des Anstoßes«; sie stammten zwar von Fundstellen der Natur, wirkten in den Gärten, Parks und Höfen aber durch ihr Außerhalb-Sein und Anders-Sein, eigentlich als »Denkmodelle«.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 22. Der gotische Chor
Ein Blick in den Himmel

Im Mittelalter erlebten die Gläubigen den Chor ihrer Kathedrale und besonders das Dämmerlicht des Innenraumes als ein religiöses, wunderbares Ereignis. Der Blick in eine Fülle farbiger Fenster, im Gegenlicht aufleuchtend, führte aus dem bedrückenden Alltag heraus und eröffnete eine erste Ahnung des Himmels, eine Ankündigung der anderen, versprochenen Welt. Nie gesehene Licht- und Farbenszenen entführten den Blick in biblische Räume, von angebeteten Personen belebt und angefüllt mit Bilderkürzeln für die jenseitige Natur, Sonne und Sterne sowie die heilige Stadt Jerusalem, Säulen, Tempel und Bögen, die Paläste bedeuteten.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 23. Der Turm von Babel
Das Modell Aller Wolkenkratzer

Babylon war »eine der ältesten, größten und prächtigsten Städte der Alten Welt, … erstreckte sich auf beiden Seiten des Euphrat in Form einen Vierecks, von dessen Seite jede (nach Herodot) eine Länge von 120 Stadien (22 km) hatte. Das ungeheure Ganze, so wie es König Nebukadnezar (604–561 v. Chr.) wieder aufgebaut hatte … ward von einer 200 Ellen hohen und 50 Ellen dicken Mauer mit 250 Türmen und 100 ehernen Toren umschlossen … Nördlich des Königspalastes befand sich der berühmte babylonische Turm … nach Herodot 192 m hoch und zu den sieben Weltwundern gerechnet.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 24. Meine Wohnung als Mandala

Der Kompass, kreisrund, mit einer Nadel ausgerüstet, die zum magnetischen Nordpol zeigt, ist ein Instrument, das ich dazu benutzen kann, die Lage meiner Terrasse zur Abendsonnenseite zu bestimmen. Es ordnet mein Verhältnis zur Erde. Seine Parameter sind objektiv; sie liegen in der äußeren Natur und sind für alle Menschen verbindlich. Ich benutze aber auch Werkzeuge, die mir helfen, meine Innenwelt auf die Außenwelt abzustimmen; ihre Wirkung ist individuell; sie gelten zunächst nur für mich. Dazu gehört z. B. meine Kleidung oder auch der Brief, den ich schreibe. Sie sind Signale meines Selbst mit einem kommunikativen Auftrag; sie sollen helfen, mein Verhältnis zur Umwelt zu klären; meine Wünsche, Erinnerungen und Erwartungen sind im Spiel, mit denen ich mich einmische in nachbarliche und berufliche Szenen.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 25. Mein Spiegelbild

Die Eröffnung des Tiefenraums im Spiegel ist eins der zauberhaftesten Ereignisse, die Menschen je entdeckt haben, vor Jahrtausenden wohl schon im stehenden Wasser oder im Auge der Liebsten und später bei der Erfindung des spiegelnden Glases, das sich vertikal einbauen und wie eine künstliche Landschaft betrachten lässt. Die räumliche Weite, die dabei entdeckt wird, ist auch ohne den Reiz der verdoppelten Objekte ein ungeheurer Genuss, sie weitet das Gefühl, betört die Augen, die gewohnt sind, räumliche Tiefen abzuschätzen und fordert zu ungewöhnlichen Körperbewegungen heraus. Man beginnt intuitiv, die Umkehrung von rechts und links, vor und zurück zu kontrollieren und auszugleichen, die wie eine Ironie der Wahrnehmung empfunden wird und in ihrer Prägung vom Betrachter selbst beeinflusst werden kann.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 26. Mein Taschenkalender

Ein kleines Büchlein kommt zu Hilfe, den Ablauf meines Lebens zu organisieren. Gewiss nur das Schema der Alltage, die Folge der Wochentage, Sonntage, Werktage und Ferientage, also meine Pläne und Verpflichtungen. Von Tag zu Tag verwandelt sich allerdings dieser Projektcharakter in eine Dokumentation. In Stichworten sind die Vorgänge erwähnt, die mit dem Ablauf von Projekten zu Fakten werden, von Möglichkeiten zu Wirklichkeiten. Das Zeitraster des Buches wird mit dem Fortschritt der Tagesereignisse mit Inhalten gefüllt. Mit dem Jetzt einer Handlung kippt Zukunft in Vergangenheit um.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 27. Die Maske. Die Rolle. Das Kostüm

Die Menschen waren im Verlauf ihrer Kulturgeschichte, soweit unser Wissen zurückreicht, immer an ihrer Selbst-Darstellung interessiert. »Wer bin ich?« war seit den frühesten Zeiten, eine empfindsame, bange Frage. Fast jeder Versuch zur Darstellung des Selbst zeigt aber, dass man nicht den Körper als Objekt festhalten wollte, sondern immer eine idealisierte Vorstellung des Leibes, die über das Individuelle und Zufällige hinausging, ein Idealbild, die Überhöhung des Zufalls durch eine Idee.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 28. Puppen. Mumien. Fetische

Die Sehnsucht des Menschen nach seinem Selbst ist unwiderstehlich. Das Ich soll durch alle Wirrungen hindurch, selbst nach dem Tode, wiedererkennbar sein. Die Ich-Sehnsucht ist eine existentielle Macht, die nicht nur die Form des individuellen, eigenen Körpers meint, sie bezieht vielmehr die Suche nach der Du-Gemeinschaft mit ein.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 29. Mode, Models und modische Modelle

Mode, seit dem 17. Jahrhundert im Deutschen ein umgangssprachlicher Begriff, lehnt sich an das französische à la mode an und dieses an das lateinische modus, dessen Bedeutungen auf Art und Weise, Maß und Vorschrift verweisen und sicher dem Stamm mos, moris, Sitte, Moral, benachbart sind.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 30. Stars
Wer ist ein Darsteller?

Die ästhetischen und moralischen Verhaltensmuster der Europäer sind keineswegs mehr stabile Wunschbilder, die ein Individuum lebenslänglich begleiten, wie das bis zum Ende der Feudalstaaten noch gewesen sein mag. Sie werden patchworkartig gewählt und mit den Lebensphasen vielfach geändert. Nicht nur Ehen werden für Lebensabschnitte geschlossen; auch die Bindungen an religiöse und politische Institutionen und Verbände werden punktuell eingerichtet und verknüpft.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 31. Auch die »natürliche Schönheit« ist ein Konstrukt

Was wird bei Dingen und Menschen als »natürliche Schönheit« verstanden? Was ist dabei »Natur«? Ist etwas Natürliches technisch herstellbar? Wie wird es hergestellt? Mit welcher Absicht und für wen?

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 32. Das ewig jugendliche Menschenbild als Werbeversprechen

Kaum eine Werbung wird öffentlich heißer und unverschämter vorgetragen als das Versprechen ewiger Jugend. Plakate, Inserate, Filmsequenzen bei TV und Videos, mit auf dringlicher Jugendlichkeit donnern sie in das Lebensgefühl aller Zuschauer, der alten, der sehr jungen und der alternden hinein; sie alle könnten und müssten den Schmelz der frühen Jahre, 18 bis 28, entweder genießen und behalten oder wieder erobern; das sei notwendig und möglich, durch welche vertrackte Technik auch immer. Bei der Demonstration der Idealbilder werden die dazu passenden Instandhaltungsmittel sogleich mitgeliefert, Infos über Fitnessgeräte, Gesichtscremes, chirurgische Korrekturmöglichkeiten, Implantate etc.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 33. Pygmalion
Zum Verlieben schön

Ovid hat ihn drastisch und anschaulich in seinen Metamorphosen beschrieben, den heißen Versuch des Bildhauers Pygmalion, eine Jungfrau aus Elfenbein, die er sich schuf, zu seiner wirklichen Geliebten zu machen. Die Götter, an die er sich wendet, haben schließlich Mitleid, als sie seine Küsse sehen, den Druck seiner Hände auf die Glieder seiner Skulptur, seine Sehnsucht nach ihren Brüsten. Staunend erfährt er, dass seine Kunstfigur ihm antwortet, wie sie errötet und sich hingibt.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 34. Der Maler und sein Modell

Denkt man an dieses berühmte Thema, so sieht man einen Maler bei der Arbeit, im Kittel, vielleicht mit Barett, und vor ihm eine nackte Frau, sich zur Schau stellend, auf Kissen gelagert. Ein typisches Szenario der Kunstgeschichte. Es zeigt in pointierter Weise eine ganze Reihe von Klischee-Vorstellungen über Kunst und Öffentlichkeit, über das Verhältnis von Mann und Frau, über die Arbeit des Künstlers, die Darstellung nackter Körper, Moral, Tabuverhalten etc.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 35. Dass die Malerei Wirklichkeit imitieren soll…

Die Nachahmung der Wirklichkeit durch Bilder galt in Europa schon immer, d. h. seit Aristoteles als die primäre Aufgabe der Malerei. Aristoteles ging davon aus, die Neigung, die Natur nachzuahmen, sei für den Menschen unwiderstehlich. Die Suche nach Bildern, das Verstehen von Bildern sei ihm nicht nur eine Lust, sondern auch eine Art der Erkenntnis, die es möglich mache, im Sinne der Natur zu leben und ihre Produktion fortzuführen und nachzuahmen. Bei der Beschreibung der imitativen Methoden unterschied er sogleich drei verschiedene.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 36. Die Wachsäpfel im Kloster Admont

Seit der Barockzeit existiert im Kloster Admont, einer berühmten Benediktinerabtei in der Steiermark, ein MUSÄUM mit Naturobjekten und Raritäten, d. h. Dingen zum Staunen. 1809 wurde in das Naturalienkabinett die Wachsobstsammlung des Paters Constantin Keller (1778–1864) eingefügt, eine ebenso bedeutsame wie kuriose Sammlung von Äpfeln, Birnen und vielerlei Früchten, die von ihm im Maßstab 1 : 1 in Wachs nachgebildet wurden und bis heute gut erhalten sind, ein köstliches Vermächtnis, lehrreich und schön. Äpfel, Pflaumen, Trauben und andere Früchte liegen da in frischen Farben, geheimnisvoll glänzend, weich und verführerisch »echt«.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 37. Spiele und Spielmodelle für Kinder und Künstler

Zum Spielzeugkasten der Kinder gehören seit Jahrhunderten Häuser, Türme, Brücken, Zäune, Dächer und Treppen, also Elemente der Architektur in Kleinformat, aber auch Innenräume für das ideale Wohnen mit Toilette und Esstisch, Herd und Bett, also den Bausteinen für das Familienleben, das mit solchen Dingen sinnvoll simuliert wird. Die verwendeten Mittel sind unendlich variabel; sie reichen von primitivsten Steinen und Klötzchen bis zum äußersten Raffinement illusionistischer Nachahmung. Die Spielzeug-welt ist in der Zeit vorwärts und rückwärts orientiert; sie präsentiert Erlebtes und Erträumtes, Bekanntes und Utopisches, d. h. ebenso viele Erinnerungen wie Wünsche.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 38. Alma, Kokoschkas Puppenfrau

Im Juli 1918, als Alma Mahler ihn verlassen hatte, gab Oskar Kokoschka (1886–1980) der Puppenmacherin Hermine Moos den Auftrag, ihm sobald wie möglich eine Puppe seiner Geliebten in Originalgröße zu machen und nach Wien zu schicken. In mehreren Briefen hat er Anweisungen gegeben, wie Gestalt und Material dieser Kunstfrau beschaffen sein müssten, »damit ich beim Ansehen und Angreifen das Weib meiner Vorstellung lebendig zu machen glaube«*. Die Konturen sollten Almas Körperbau exakt entsprechen; die Haut müsste sich wie Pfirsich anfühlen. Kokoschka hatte sich in die Idee von Wirklichkeitsersatz hineingesteigert, er nannte das gewünschte Stellvertreter-Objekt seinen »Puppenfetisch«.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 39. Automaten, Roboter, Cyborgs
Maschinen in Menschengestalt

In der griechischen Mythologie, wie Hesiod sie mitteilt, bekam Hephaistos, der Gott der Schmiede, von Zeus den Auftrag, Pandora, die erste Frau, aus Lehm herzustellen, ein fatales Geschenk an die Menschen, wie sich später herausstellte. Prometheus, der Vor-Denker, hatte seinen Bruder Epimetheus, den Nach-Denker, ausdrücklich davor gewarnt, Geschenke der Götter anzunehmen. Epimetheus aber verfiel so sehr dem Reiz dieses zauberhaften Konstruktes der Götter, dass er Pandora, die Schöne, heiratete. Sie öffnete ihm ihre »Dose« (ihre Vulva?), die viele göttliche Gaben enthielt: Schönheit, musikalisches Talent, Neugier, Übermut und eine bezaubernde Sprache, aber neben den Tugenden auch schreck-liche Plagen und Qualen.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 40. Das Atomium in Brüssel
Mikrowelt im städtebaulichen Maßstab

Das Modell der Mikrostruktur eines Eisenkristalls in 165 milliardenfacher Vergrößerung über den Dächern von Brüssel galt bei der Weltausstellung 1958 als euphorische Glorifizierung friedlicher Atomenergieproduktion, ein Geschenk an die Menschheit. 60 Jahre danach wirkt es im Gestus völlig übertrieben und in seiner positiven Attitude naiv; der Sinn ist durch den Verlauf der Geschichte korrumpiert. Das Modell, als Symbol verstanden, kann den einmal gesetzten moralischen Anspruch, bei der Weltausstellung vorgetragen, nicht mehr erfüllen.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 41. Die digitalen Wettermodelle

Wettermodelle sind deshalb so charakteristisch für digitalisierte Darstellungen, weil sowohl Raumals auch Zeitinformationen isoliert, abgebildet und angeboten werden und zwar in jedem beliebigen Abstraktionsgrad, so z. B. die Wetterberichte des Fernsehens. Sie versuchen zunächst, die Jetzt-Situation an den Orten ihrer Zuschauer mit einer geographischen Karte wiederzugeben, also das landschaftliche Nebeneinander in einer aus der Schule bekannten Darstellungsart. Diesem Bild werden nacheinander Symbolnetze mit Zahlen und Graphemen zugefügt, die über Temperaturen, Wind und Wolkenbilder Auskunft geben, bildlich (Satellitenaufnahmen) oder symbolisch (Wolkensymbole) und dies statisch oder auch mit Überblendung und in Bewegung.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 42. Digitale Simulation durch mathematische Zukunftsmaschinen

Seit 5o Jahren setzen alle Natur- und Ingenieurwissenschaften digitale Rechenmaschinen ein, die man zunächst brauchte, um »Wahrheiten«, objektive Fakten zu dokumentieren, die aber inzwischen mehr und mehr benutzt werden, »Möglichkeiten« zu simulieren. Die Rechner werden als experimentierende Geräte benutzt, die nicht nur die vorhandene Welt numerisch beschreiben, sondern auch mathematische Modelle darstellen, die als Instrumente neuer Erkenntnis akzeptiert werden. Formen und Vorgänge werden simuliert und verfügbar gemacht – mit und ohne originalgetreue Nachbildung der dokumentierten Objekte.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 43. Das Yoni-Lingam
Ein hinduistisches Schöpfungsmodell

Yoni-Lingam heißt im indischen Kulturkreis die Darstellung der Vulva in der Vereinigung mit dem Phallus, des Weiblichen mit dem Männlichen. Dieses Motiv, meist in dunklem Stein ausgeführt, gibt in der indischen Welt Millionen von Menschen das Gefühl für die ewige Erhaltung des Lebens und für die Entstehung von göttlicher Kraft. Im Bewusstsein der Menschen dieses Kulturkreises kann kein Lebewesen sich ohne diese Kraft entwickeln und existieren, auch die Götter nicht.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 44. Die Doppelhelix
Eine magische Gestalt in der Mikround Makrophysik

Doppelhelices, doppelt gewendelte Spiralen (von gr. hélix, Windung, Spirale), kommen in den Mikro- wie in den Makro-Strukturen der Natur vor. Mikrostrukturen sind z. B. die Doppelspiralen der Chromosomen, die das Erbgut aller Lebewesen bestimmen. Die berühmteste ist die Doppelhelix im Desoxyribonukleinsäure-Molekül.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 45. Étienne-Jules Marey und Eadweard Muybridge
Bewegungsfotografie

Bei den Erlebnissen des Leibes erscheinen sowohl die Wahrnehmungsphänomene ringsum als auch die Glieder des eigenen Körpers, die sinnlichen Organe, in ständiger Bewegung. Der Kopf wendet sich, Augen und Hände sind nie starr, unser Standort und unsere Richtung ändern sich von Augenblick zu Augenblick; die erblickten Szenen, die wahrgenommenen Dinge, erscheinen in ständig neuen Bewegungssituationen, nie starr, nie fixiert, – auch wenn wir die Identität der Gegenstandswelt annehmen, uns fest auf sie verlassen. Wir nehmen an, die Dinge sind immer die gleichen, auch wenn wir sie schwanken sehen, zeitweise nicht wahrnehmen etc.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 46. Hollywood
Vom Drehbuch zum Set

Filme sind Träume, sind spielerisch dargestellte Lebensmodelle. Wie aber entstehen sie, diese vielfach verschachtelten Angebote von Traumbildern, diese Filme, aufgenommen in einem Bühnenset, der nach Gipsmodellen, Bauplänen und Detailzeichnungen entwickelt wurde, Modelle nach Modellen nach Modellen, probeweise nacheinander hergestellt, um schließlich eine zauberhafte Raumillusion darzustellen? In der Tat entsteht der fertige Film, die große Illusion, als Ergebnis, als letztes Glied einer Kette von Simulationen verschiedener Charakteristik, zu deren Produktion das Herstellerteam eine Reihe von Fachleuten einsetzen muss, in Hollywood oft hundert Menschen, Drehbuchautoren, Sketch-Artists, Concept-Artists, Illustrators, Innenund Außen-Aquisiteure, Film-Architekten, Bauzeichner, Storybord-Zeichner, Location Scouts, Kameraleute und ein Digital Department, in dem die gesamte Arbeit am Set mit Computerbildern vorweggenommen und begleitet wird, also ein Team von Spezialisten für die verschiedenen Arten von Simulation, die die Vorarbeit zur Filmaufnahme gemeinsam liefern.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 47. Gunther von Hagens
Plastinate. Kunststoff-Mumien

Der Erfinder einer speziellen Kunststoff-Technik zur Mumifizierung von Leichen, Gunther von Hagens, beschreibt seine Plastinate als organische Präparate, deren Zellgewebe mit Kunststoff, meist Silikon-Kautschuk, getränkt und dann mit Gasen gehärtet wurden, so dass das Gewebewasser, beim menschlichen Körper etwa 70 % seines Volumens, völlig verschwindet, die Wachstumsform aber dabei erhalten bleibt. Was da im chemischen Labor entsteht, ist eine fotorealistisch wirkende Körperhülle, die museumsreif ist und bei ihrem Betrachter durch minimale Abweichungen vom Bild des lebenden Körpers Staunen und Entsetzen hervorruft.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 48. Kaufen, kaufen, kaufen!
Zivilisation und Konsum

Das Hochgefühl zivilisierter Menschen scheint seit der zweiten industriellen Revolution mit einer phantastischen Steigerung im Austausch von Gütern und Nachrichten einherzugehen. Die Möglichkeiten der digitalisierten Mitteilung haben atemberaubende Dimensionen angenommen; das Tempo und die Fülle der Inhalte sind inzwischen unfassbar und werden dennoch täglich weiter gesteigert. Ihre Prägung und Beherrschung durch Fachleute, soziale Institutionen und Politik wurde offenbar weltweit aufgegeben; ihr Versagen der Kontrolle ruft inzwischen Katastrophenstimmung hervor.

Wolfgang Meisenheimer

Architekturmodelle

Frontmatter
Kapitel 49. Die Urhütte
Ein Bild für den Anfang der Architektur

Vitruvs Schrift De architectura libri decem ist von seinem Verfasser zwischen 33 und 14 v. Chr. geschrieben worden und dem Kaiser Augustus gewidmet. Er fragt sich in seinem Gedankenspiel (II. Buch, 1. Kapitel), wie Architektur entstanden sei, und beschreibt dazu sehr anschaulich eine Szene, durch welche Umstände die aufrecht gehenden Menschen veranlasst wurden, sich in den Wäldern und Höhlen der Natur nach und nach zivilisiert einzurichten. Mehrere Eroberungen bestimmten dabei – behauptet er – gleichzeitig die Anfänge der Kultivierung. Zentral hierbei: die Entdeckung des Feuers; sie war der Anlass für Verständigung bei der Zusammenkunft mit anderen Menschen, insbesondere für die Entwicklung von Sprache.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 50. Rathas
Indische Tempelmodelle

An der Koromandelküste des Indischen Ozeans finden wir einen der Knotenpunkte der Geschichte des Denkens. Dort hat sich um 650 n. Chr. ein Paradigmenwechsel im Umgang mit Denkformen vollzogen, in Architekturmodellen ausgetragen, aber beim Übergang vom vorwiegend magischmythischen zum vorwiegend rationalen Denken auf andere Felder der Erkenntnis übertragbar.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 51. Mahabalipuram
Ein typologisches Labor in Granit

Die Typen-Modelle in Mahabalipuram zeigen Varianten zu vier gestalterischen Charakteren.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 52. Tonmodelle
Lebensbilder aus dem alten Ägypten

Der Totenkult der Ägypter war an bestimmte Techniken, Materialien und Vorgänge gebunden, die eingesetzt wurden, um die rituellen Erwartungen der Staatsreligion zu erfüllen. Um den Toten ein Weiterleben zu ermöglichen, mussten ausgewählte Bildhauer für die Ewigkeitswerkstätten arbeiten. Der Auftrag betraf die Konservierung des früheren Lebensraumes der Toten, sowohl die Darstellung und Erhaltung ihrer Körper, ihrer Silhouetten, Gesichter und Hände als auch die Darstellung und Erhaltung des gebauten Umraumes einschließlich der Werkzeuge, wozu Tische, Stühle, Fahrzeuge und Lebensmittel, ja ganze Räume und Raumausstattungen gehörten, je nach dem sozialen Anspruch der verstorbenen Person.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 53. Kuppelmodelle für den Florentiner Dom

Der Goldschmied Filippo Brunelleschi (1377–1446), via Large, Florenz, behauptete 1413, er könne über dem Tambour des Doms ohne Unterbau, freischwebend, eine Kuppel bauen, eine Planung, wie es sie zuvor nie in der Architekturgeschichte gegeben hatte. Die Gültigkeit seiner Ideen wollte er mit Modellen zunächst in Ziegeln, dann aus Holz gebaut beweisen, und er bekam den Auftrag. Gemeinsam mit Lorenzo Ghiberti (1381–1455) und einem kleinen Kreis von Freunden gewann er 1418 den Wettbewerb für die Kuppel und lieferte 1420 das endgültige Modell dazu. Gefordert waren zunächst Modelle für die Kuppelgerüste und die technischen Vorrichtungen der Baustelle.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 54. Die Klötzchen-Modelle in den Ateliers der Architekten

Klötzchen-Modelle, meist einfache Massenmodelle, sind ebenso naive wie intelligente Werkzeuge auf dem Arbeitstisch der Architekten. Sie dienen der praktischen Entwurfsarbeit und existieren manchmal nur für die Dauer eines Einfalles, vielleicht für die Dauer von fünf Minuten oder fünf Tagen, dann haben sie ihre Aufgabe erfüllt. Sie sind meist nicht für die Augen eines fremden Betrachters, sondern für den intimen Gebrauch des Erfinders selbst bestimmt.

Wolfgang Meisenheimer
Kapitel 55. Überredungsmodelle für Bauherren, Medien und Finanziers

Kunstlicht, das vielversprechend aus festlichen Innenräumen hervortritt, Oberflächentexturen schöner Dinge, deren Spiegelung in Glas oder Wasser, dazu Figurinen, die Gäste und Passanten darstellen, täuschend echt, alles das trägt zur Atmosphäre der »Überredungsmodelle« bei, die von Architekten für Bauherren, Banken, Medien und spätere Nutzer gebaut werden. Sie wollen für ein Projekt positive Stimmung verbreiten. »So könnte das Bauwerk einmal sein! So sollte es aussehen!« Solche Modelle vermitteln nicht nur informative Inhalte, sondern auch Hoffnungen und Behauptungen, die das Utopische streifen.

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Kapitel 56. Nikolai Alexandrowitsch Ladowski, Moskau
Elementare Modelle für die Gestaltungslehre

Die Welle des elementaristischen, rationalen Denkens der russischen Künstler hat 10 Jahre nach der Oktoberrevolution, um 1927, die wichtigste Architekturschule des Landes, die WChutein in Moskau erfasst. Der psychologische und didaktische Kern der Architekturfakultät war ihre Grundlagenabteilung, die nacheinander unter den Namen WChutemas, Wasi, Asi, Mai und Aru arbeitete; der zentrale Kopf war N. A. Ladowski (1881–1941), wahrscheinlich der einflussreichste Entwurfslehrer der sowjetischen Revolutionsarchitektur.

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Kapitel 57. Wladimir Engrafowitsch Tatlin und Kasimir Severinowitsch Malewitsch
Konstruktivistische und suprematistische Modelle

Während der Zar das russische Volk 1914 unter konservativen Fahnen in den Weltkrieg hineinzog und unmittelbar darauf, 1917, die sowjetische Revolution begann, entwickelte sich in Moskau eine Vielzahl von avantgardistischen Künstlerbewegungen, die ein neues Zeitalter heraufbeschwören wollten, Konstruktivisten, Suprematisten, Cézanne-Club, Unovis, Karo-Bube, Eselschwanz etc. Man nannte sie alle »futuristisch«. Lenin soll provozierend gefragt haben: »Lassen sich denn keine zuverlässigen Anti-Futuristen finden?« Allen Gruppierungen waren zwei Anliegen gemeinsam, der Kampf gegen den akademischen Illusionismus und die Suche nach neuen Raum-Strukturen.

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Kapitel 58. Antoni Gaudí
Architektonische Umkehrfiguren

An der Decke von Antoni Gaudís (1852–1926) Kelleratelier in der Baustelle seiner zukünftigen Kathedrale Sagrada Familia in Barcelona, in dem er, wie man weiß, arbeitete und schlief, hing ein Schnurgerüst, das an den Punkten der Verknüpfung Sandsäckchen trug, deren Gewichten er immer wieder veränderte und neu beschriftete. Mit den Gewichten verschob sich selbstverständlich die Gestalt der Hängefigur als Ganzes, nicht nur der veränderte Teil. Monatelang hat er an den Kettenlinien seiner Zugkonstruktion gearbeitet, hat sie in immer wieder neuen Konstellationen mit Tüchern verbunden, um räumliche und plastische Wirkungen leichter abschätzen zu können und deren Varianten zu fotografieren.

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Kapitel 59. Le Corbusiers Modellbegriff

Le Corbusier (1887–1965) dachte geradezu in Modellen. In seinem Entwerferkopf waren selbst die ausgeführten Bauwerke als Modelle für neue Lebensformen gemeint. Jedes davon sollte nicht nur als Einzelstück brauchbar und sinnvoll sein, sondern über seine individuelle Aussage hinaus bedeutungsvoll für das zukünftige Leben eines modernen Menschen. In diesem Sinne konnte er Autos, z. B. den Citroën 10 HP, Modell Torpedo, als mit dem Parthenon von Athen gleichwertig empfinden; er liebte eben den Modellcharakter dieser Dinge, er legte Wert auf den in ihnen liegenden Hinweis auf die Utopie eines neuen Zeitalters, eines neuen Menschen, durchaus im Sinne von Nietzsches Übermenschen-Konzept.

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Kapitel 60. Sigfried Giedion
Modelle für die Piloten des Raumschiffs Erde

Er sprach – allerdings zögernd und unsicher – vom kontrollierten Gleichgewicht zwischen Mechanismus und Organismus, wenn er den idealen modernen Menschen meinte, existierend zwischen organischer Umwelt und künstlicher Umgebung. Indem er die Umwelt des modernen Menschen beschrieb, für ihn war das »der Mensch nach Le Corbusier«, so stellte er sie als gut funktionierenden Mechanismus dar. Die künstlich hergestellte Umwelt erschien in seiner Idealvorstellung erheblich schärfer gezeichnet als im Alltagsbewusstsein seiner Zeitgenossen, im Zürich der 1940er-Jahre, nämlich als »Gerätepark«, zunehmend physikalistisch und mechanistisch.

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Kapitel 61. Richard Buckminster Fuller
Die Dymaxion-Weltkarte

Die Dymaxion-Karte von Richard Buckminster Fuller (1895–1983), Patent: 1946, ist eine Weltkarte, die auf die Oberfläche eines Isokaeders gedruckt ist. Durch die Aufteilung der Oberfläche des kugelähnlichen Modellkörpers in lauter Dreiecke ist es möglich, die gesamte Oberfläche auf verschiedene Weise auseinanderzufalten, so dass Dreidimensionalität in zwei Dimensionen erscheint, aber durch die Vielzahl der (20) Dreiecke nur geringe Verzerrungen gegenüber dem kugligen Globus entstehen. Sie folgt dem Ideal höchster Präzision technischer Hilfsmittel, die man in den 1950er-Jahren anstrebte.

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Kapitel 62. Bernard Tschumi
La Villette, Paris, eine philosophische Collage

Die Planung und Ausführung des Parc La Villette in Paris ist eine bedeutende Episode der Philosophiegeschichte der Gegenwart. 1983 wurden beim Wettbewerb um die Gestaltung des Geländes der ehemaligen Fleischhallen von Paris die hinreißenden Zeichnungen von Bernhard Tschumi bekannt, ausgezeichnet unter 470 Arbeiten aus 70 Ländern. Sie zeigten eine Technik der Überlagerung von graphischen Kürzeln, die sofort als Modell für die komplexe Darstellung widersprüchlicher Strukturen verstanden wurden.

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Kapitel 63. Walter Pichler
Die Zeichenwelt der magischen Bilder

Als sich die jungen Radikalen des Wiener Aktionismus 1960–1970 von der Malerei abwandten, um die körpernahen Räume der Performances weiterzuentwickeln, die die die frühen Schüler von John Cage, etwa Allan Kaprow, um 1958 herum praktizierten, sie nannten ihre Aktionen Happenings und Environments, gab es in Wien zwei voneinander recht verschiedene Arten von Avantgarden. Eine Gruppe der neuen »Darsteller«, Günter Brus, Otto Mühl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzenegger, setzte auf öffentliche Skandale, schockierende Körpererlebnisse und Schauder des beteiligten Publikums, auf die Konfrontation von neuer Kunst und bürgerlicher Erwartung.

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Kapitel 64. O. M. Ungers
Morphologische Variationen

Oswald Mathias Ungers (1926–2007) Werk will nicht so sehr erlebt, als vielmehr verstanden werden. Vorstellungen, Ideen und Theorien sind ihm wohl wichtiger als der gespürte Raum. Es kommt ihm nicht so sehr auf Schauen, Fühlen und Berühren an, vielmehr auf das Verständnis geistiger Ordnungen, insbesondere das Prinzip der Verteilung von Elementen. Sein Ästhetik-Begriff geht nicht auf Sinnlichkeit zurück, sondern auf das rationale, akademische und historische Verstehen von gebauten Formen, seien sie gezeichnet oder realisiert.

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Kapitel 65. Peter Eisenman
Das House X–Projekt als Dekomposition

Peter Eisenmans Konzeption von House X (1978) geht davon aus, nicht nur ein Gebäude, sondern schon die entwerferische Arbeit an einem Gebäude sei eine Wirklichkeit ersten Ranges. Nicht erst der in Materialien auf einem Bauplatz ausgeführte Bau sei Realität, Zeichnung wie Modell dagegen Proto-Realität, Vor-Wirklichkeit, deren Gültigkeit sehr wohl auch außerhalb des körperlich erlebbaren Architekturraumes akzeptiert werden muss. Er breitet mit einer Fülle von Zeichnungen und Modellen eine geistige Landschaft aus, deren Facetten zwar etwas Durchgehendes, Gemeinsames haben, die aber wesentlich einen Prozess der Abwandlung zeigen, der die Annahme des Betrachters voraussetzt, alle Varianten müssten sich auf ein »Thema« beziehen, etwa ein »House X«.

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Kapitel 66. Daniel Libeskind
Intelligente Bruchstücke

Die Architekturformen bei Daniel Libeskind fordern Gefühle heraus; sie beschwören Schicksal und Betroffenheit. Die Risse und Sprünge in seinen Objekten sind weniger geometrische Spiele als Wunden, Verletzungen der Empathie. Sie sind in der Lage, mit ihren Überraschungen Unsicherheit auszubreiten, schließlich sogar vom Widerlichen und Tödlichen zu reden. Sie sind bedeutende Allegorien, die von pathetischen Linienzügen ausgehen, nah an den Gesten der Schrift. So gelingt es ihm, die Sprache der Architektur von der Bindung an bestimmte Orte abzuheben, so sehr er auch in seinen Texten diese Bindungen wie auch die an Boden, Erde und Materialien betont.

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Kapitel 67. Lebbeus Woods
Centricity, Architekturvisionen im Weltraum

Die zeichnerischen Arbeiten des New Yorker Architekten Lebbeus Woods (1940–2012) wirken wie Theaterszenen eines experimentellen Regisseurs, Skizzen aus einem Science-Fiction-Labor, verrückte Andeutungen, vielleicht auch Sehnsuchtbilder aus einem Raum der Trauer. Centricity z. B., ein Zyklus von 34 Zeichnungen, auf einem kleinen Zeichentisch in New York entstanden, gibt schwärmerisch die Idee einer Unmöglichkeitssituation. Der Betrachter stellt sich vor, ein »Archäologe der Zukunft« betrete im Kosmos das Gräberfeld einer versunkenen Hightech-Zivilisation und finde die aufgetürmten Reste von Raumschiff-Panzern, Gitter-, Röhren- und Tragwerkkonstruktionen, deren Schrott aus unbekanntengalaktischen Kämpfen stammen muss.

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Kapitel 68. James Turrell
Wahrnehmungsgeräte

James Turell, Künstler, Naturwissenschaftler und Wahrnehmungspsychologe, 1943 in Los Angeles geboren, fragte ein Leben lang nach den Bedingungen der sinnlichen Wahrnehmung, insbesondere: Von welcher Art ist der Sehraum? Er liebt technische Apparate zur Erforschung der Raumgrenzen; auch Architektur- und Naturräume versteht er als solche. Ganze Landschaften, insbesondere vulkanische Kraterlandschaften, hat er als »Geräte« zur Erforschung der Raumwahrnehmung benutzt.

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Kapitel 69. Aldo Rossi
Ein Welttheater für Venedig

Homer berichtet 500 v. Chr. von der List des Odysseus, der seinen verzweifelten Landsleuten vor den Mauern von Troja empfiehlt, ein hohles hölzernes Pferd auf Rädern zu benutzen, in welchem ein paar bewaffnete Krieger Platz haben. Die belagerten Trojaner würden wohl so viel Neugier und Freude an diesem Modell empfinden, dass sie es in ihre Stadt ziehen. Die Krieger würden nachts ihr Versteck verlassen und die Tore öffnen – zum Verderben der Stadt und ihres Königs Menelaos. So geschah dles in der mythischen Sage.

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Kapitel 70. Hannsjörg Voth
Orion, ein Kosmosbild in der Sahara

»Kalenderbauten« nennt man die monumentalen Plastiken (oder sollen wir sie Bauwerke nennen?), die indische Fürsten für ihre Astronomen haben errichten lassen, um mit ihrer Hilfe zuverlässig den Sternenhimmel zu vermessen, die bedeutendsten, bis heute erhaltenen, in Jaipur. Es handelt sich um gemauerte und verputzte Schalen und Treppen, Platten, Scheiben, Türme und Kugelkalotten, die einmal Messungen und Peilungen, Raum- und Zeitbestimmungen im astronomischen Kosmos dienten, Demonstrationen der Macht wie der Intelligenz dieser Herrscher. Hannsjörg Voth, der Münchener Bildhauer, ist ähnlichen Gedanken nachgegangen, als er 1998–2003 in der marokkanischen Sahara sein Orion-Projekt aus Lehmziegeln schuf. Allerdings gibt er seinem Himmelsbauwerk einen anderen, persönlichen, einen künstlerischen Sinn.

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Kapitel 71. Raimund Abraham
Bühnen der Sehnsucht, moderne Romantik

Alle Arbeiten des Wiener Architekten Raimund Abraham (1933–2010) wirken wie Bühnenentwürfe. Nicht nur die dreidimensionalen Holzmodelle, auch die Zeichnungen, insbesondere seine großen Graphit-Zeichnungen, aber auch die ausgeführten Bauten in Berlin, Wien oder New York sind als Modelle lesbar. Sie sind jeweils wie Lehrstücke in einen Gedankenraum hineingesetzt, ob auf Papiergrund gezeichnet oder aus Beton gegossen. Sie dienen, noch bevor sie einen anderen Zweck erfüllen, einer geistigen, philosophischen Aufgabe, einer sehr persönlichen Idee bezüglich der Konzeption von Raum und Zeit.

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Kapitel 72. Anne und Patrick Poirier
Städte der Erinnerung

Ostia Antica, ein Tonmodell 12 x 56 m, 1971–72 entstanden, Domus Aurea, ein Modell aus Holz und Kohle 10 x 5 m, und Mnemosyne, ein Holzmodell 7 x 5,5 m – diese großen Bodenreliefs, sind mit ihren Architekturfragmenten, Mauern, Säulen, Toren, Türmen und Treppen archäologischen Objekten nachempfunden. Sie stellen historische Städte dar, sind aber sehr wohl Kunstwerke, frei erfunden und willkürlich komponiert. Mit den winzigen Zitaten monumentaler Formen üben sie starke Wirkung auf ihre Betrachter aus, denen aus dem Dunkel der Geschichte akribisch zusammengetragene Details entgegentreten, eine fragmentarische Modelllandschaft mit Ausschnitten ahnungsvoller Zusammenhänge.

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Kapitel 73. Constantin Brancusi
Atelierfotos als Stadtbilder

Der Bildhauer Constantin Brâncuși (1876–1957), dessen Atelier neben dem Centre Pompidou in Paris rekonstruiert wurde, hat 1926 New York besucht und begeistert ausgerufen: »Das ist ja mein Atelier! Nichts ist fixiert, nichts starr. Alle diese Blöcke, alle diese Formen und Gestalten, die man versetzen und jonglieren kann in einem Experiment, das sich weitet und verändert.« (F. T. Bach, Brâncușis Fotografie in: Besichtigung der Moderne, 1987) Die Sehnsucht des Gestalters ist bis heute nachvollziehbar, hat sich die Collage der gigantischen gebauten Solitäre doch inzwischen um den Erdball herum fortgesetzt und ausgeweitet.

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Kapitel 74. Hans Dieter Schaal
Literarische und graphische Architekturmodelle

Sollten diese fast journalistischen Arbeiten »Modelle« darstellen, sind da nicht allzu viele Bezüge miteinander vermischt, Literatur, Architektur und Zeichnung? In der Tat: Es handelt sich um Zeichnungen, schwarz auf weiß, Tusche auf Papier, von denen es im Werk dieses Architekten, Bühnenbildners und Zeichners wohl mehrere tausend gibt, die sich allesamt auf Architektur beziehen; es sind kleinmaßstäbliche Skizzen zu räumlichen Anordnungen, manche davon durchaus baubar. Ihr Reiz liegt aber gerade in ihrem fragmentarischen Charakter und der Überlagerung der Disziplinen.

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Kapitel 75. Modelle für Netzwerke und Membranen

Die Natur als Modell für Menschengemachtes, das ist ein uraltes, antikes Arbeitsmotiv, in Europa vielleicht das bedeutendste für die Entwicklung von Technik und Kunst. Die Sprache der Götter wurde in der Natur aufgesucht; was könnte näherliegen, als Göttliches als »Ideenmaterial« für kreative Arbeit zu benutzen, Nachahmung auf höchster Ebene! Vor allem waren die erkennbaren Ordnungsschemata gemeint, die mathematischen Gerüste, die schöne Geometrie, die bedeutenden Zahlen. Diese Überzeugung von der Harmonie des Naturkosmos blieb das ganze Mittelalter hindurch und bis in die Neuzeit erhalten.

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Kapitel 76. Thomas Schütte und die »Düsseldorfer Denkmodelle«

Beunruhigt durch Gefühle der Bedrohung im Alltag, Luftverschmutzung, Wassernot, Lärm, Atomgefahr etc., begannen einige empfindliche Schüler des Meisters Gerhard Richter, Kunstakademie Düsseldorf, Häusermodelle auszustellen, die ihre Betrachter durch ihre karge Gestik nachdenklich machen sollten. Vielleicht könnte die Kunst ja doch Einfluss haben auf soziale Qualitäten, wenn es um die Minima der Existenz geht. »Wie viel braucht der Mensch? Was kann Architektur noch leisten, wenn es um Schutz und Rückzug geht, die einfachsten Bedingungen des Überlebens? « So z. B. Thomas Schütte und Ludger Gerdes (1954–2008), die wechselnd mit Holz und Blech, Klebe-, Nagel- und Schweißverbindungen arbeiteten und Stutzen, Rohre und Fertigdetails technischer Klimakanäle benutzten, Details, deren Sprache an die Arbeit der Installateure angelehnt war.

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Kapitel 77. Die Metropolen der Erde
Museen unserer Zivilisation

Tokyo ist von 1994 bis 2015 von 26,5 auf 28,7 Millionen Einwohner gewachsen, Bombay von 14,5 auf 27,4, Lagos von 9,7 auf 24,4, Shanghai von 14,7 auf 23,4 Millionen. Zwar beobachten wir in Amerika wie in Europa eine deutliche Re-Zentralisierung der Siedlungs- und Industriegebiete, d. h. eine Tendenz zum Wohnen und Arbeiten in Randstädten, sogenannten »grünnahen Wohnumfeldern«; gleichzeitig aber zeigt sich, dass die gesamte Weltwirtschaft auf einige wenige Hyperzentren konzentriert ist, New York, London und Tokyo, daneben vielleicht Paris, Frankfurt a. M., Berlin, Zürich, Amsterdam, Sidney, Hong Kong, Mexiko City und São Paolo. Diese Mega-Cities sind die Zentren von Kapital und ökonomischer Kontrolle, die seit eh und je einhergeht mit kultureller Blüte. Schon in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte, etwa in Xian, China, um 3.500 v. Chr. und in Babylon, Persien, um 2.500 v. Chr., kristallisierten sich die zivilisatorischen Fortschritte der Städte.

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Kapitel 78. Die Welt geht uns verloren. Modelle aber vermehren sich inflationär

Die Welt als Erlebniswelt – gehört sie nicht ganz und gar unseren Leibern!? Wir sehen, hören, tasten und riechen, wir nehmen die Szenen um uns und in uns mit unseren Sinnen wahr; alles ist einmaliges Ereignis, alles ist Gegenwart. Und doch liegt in aller Gegenwart auch das andere, nicht Gegenwärtige.

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Kapitel 79. Über Modelle
Zum Schluss eine Vermutung

Modelle, welcher Art auch immer, verfügen über einen besonderen Zauber, der in die Zukunft verweist. Das macht ihre eigentliche Bedeutung aus gegenüber einfachen Objekten der Wahrnehmung, physikalischen Vorgängen etc. Sie sind Konstrukte mit einem utopischen Kern; sie helfen besonders unserem Erfindergeist weiter, indem sie über die Gegenwart hinausdrängen. Sie sind für unsere kreative Phantasie reizvoll. Sie haben das Zeug von Kunstwerken und führen ihren Betrachter, sollen wir ihn Nutzer nennen?, in eine Ideenlandschaft hinein, ein Versprechen, freilich ohne Garantie auf Erfüllung. Der Umgang mit ihnen ist ahnungsvoll, aber unsicher und abenteuerlich. Modelle als Wunschbilder zu benutzen, ist wie auf Reisen gehen, auf Bildungsreisen, Eroberungsreisen.

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Backmatter
Metadata
Title
Modelle als Denkräume, Beispiele und Ebenbilder
Author
Prof. Dr. Wolfgang Meisenheimer
Copyright Year
2018
Electronic ISBN
978-3-658-20115-9
Print ISBN
978-3-658-20114-2
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20115-9

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