In Kap.
2 wurden die Grundsätze der Agenda 2030 und die Rolle der Städte bei deren Umsetzung aufgezeigt. In diesem Kapitel wird nun speziell auf die nachhaltige Stadtentwicklung und den Stand der Umsetzung der SDGs auf städtischer Ebene eingegangen.
Stadtentwicklung umfasst die Steuerung der Gesamtentwicklung von Städten und Gemeinden und erfordert eine integrierte und zukunftsgerichtete Herangehensweise, die durch die Stadtplanung verfolgt und umgesetzt wird. Die Leitlinien der Stadtentwicklung und Stadtplanung verändern sich über die Zeit, da sie sich an aktuellen Herausforderungen orientieren. Das Prinzip einer nachhaltigen Stadtentwicklung ist seit Anfang der 1990er Jahre eine wesentliche Leitlinie globaler Politik: Mit der Verabschiedung der Rio-Deklaration und der Agenda 21 im Jahr 1992 wurde als Reaktion auf den Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome (Meadows 1972) das normative, internationale Leitprinzip einer nachhaltigen Entwicklung in den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen verankert. Zeitgleich und untersetzt durch das kommunale Handlungsprogramm der Lokalen Agenda 21, das auf dem UN-Umweltgipfel von Rio de Janeiro verabschiedet wurde, erfolgte auch eine Neuausrichtung am Leitbild der „Nachhaltigen Stadtentwicklung“. Die Charta von Aalborg aus dem Jahr 1994 schreibt daran anknüpfend weitere Leitlinien fest. Im Kontext der Lokalen Agenda 21 wurden vor allem Umweltthemen, also die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit, adressiert. In vielen deutschen Städten und Kommunen wurden in Folge dessen in den 1990er Jahren Projekte in den Themenfeldern Klimaschutz, Naturschutz, Energie- und Wassersparen umgesetzt (Born und Kreuzer 2002). Ziel war es zudem, bei der Umsetzung der lokalen Handlungspläne die Zivilgesellschaft möglichst intensiv zu beteiligen.
Wie aus einer zusammenfassenden Analyse hervorgeht, wurden bei der Umsetzung der Lokalen Agenda 21 in verschiedenen deutschen/europäischen Städten sowohl Erfolge als auch Umsetzungsschwierigkeiten verzeichnet (Schnepf und Groeben 2019). Eine entscheidende Rolle spielen dabei die kommunale Ausgangslage in Bezug auf die finanziellen Rahmenbedingungen, die Kommunengröße, die vorhandene Infrastruktur und der Grad der Verstädterung bzw. das Zusammenspiel urbaner und ländlicher Räume. Für die Umsetzung der Lokalen Agenda 21 wurden eine starke politische Vernetzung mit anderen Städten (insbesondere international), das Engagement von Verwaltungen und der Zivilgesellschaft, progressive Parteien und Medien zur Prozessverbreitung sowie langfristige Planungen mit kontinuierlichen Monitoringprozessen als besonders förderlich gesehen. Hinderliche Faktoren waren insbesondere nicht überwindbare kommunale Budgetrestriktionen. Als weiteres Manko wurde der starke Fokus auf Umweltthemen und die geringe Bedeutung der anderen Nachhaltigkeitsdimensionen Soziales und Ökonomie sowie die weitgehend fehlende Beschäftigung mit Indikatoren identifiziert (Rösler 2003). Folglich waren die spezifischen kommunalen Start- und Prozessbedingungen maßgeblich für den Erfolg bzw. Misserfolg der Umsetzung Lokaler Agenda 21 Prozesse (Schnepf und Groeben 2019).
Im Jahr 2007 verabschiedeten die europäischen Minister*innen für Stadtentwicklung und Raumordnung die Leipzig Charta als Leitdokument zur nachhaltigen europäischen Stadt. Damit wurde das Ziel einer integrierten, gesamtstädtischen Stadtentwicklung verfolgt, um „die soziale Balance innerhalb und zwischen den Städten aufrechtzuerhalten, ihre kulturelle Vielfalt zu ermöglichen und eine hohe gestalterische, bauliche und Umweltqualität zu schaffen“ (BMVBS 2007: Vorwort). Somit formulierte die Leipzig Charta die Idee der Europäischen Stadt neu: alle Ansprüche an die Stadtentwicklung sollen gerecht untereinander abgewogen und den Zielen der Nachhaltigkeit folgend, bürgerorientiert und fachübergreifend konzipiert sein. Mit dem in der Leipzig Charta postulierten Ansatz einer integrierten und nachhaltigen Stadtentwicklung soll die sektorale Herangehensweise von Fach-Verwaltungsressorts aufgelöst und die Stadt als Gesamtsystem in den Blick genommen werden.
Im November 2020 erfolgte die Verabschiedung der Neuen Leipzig Charta. Neu gegenüber der ursprünglichen Leipzig Charta ist die starke Ausrichtung der zukünftigen Stadtentwicklung am Gemeinwohl. Dadurch und durch die gemeinsame Arbeit aller Stadtakteure soll die Transformation zu mehr Nachhaltigkeit von Städten und Gemeinden gelingen. Hier besteht ein starker Bezug zur Agenda 2030 „Transforming our world“, in dem die transformative Kraft der Städte betont wird.
Im Fokus der Neuen Leipzig Charta stehen drei Handlungsdimensionen im Quartier, in der Gesamtstadt und in der Stadtregion: die gerechte Stadt, die grüne Stadt und die produktive Stadt. Diese sollen durch fünf Schlüsselprinzipien erreicht werden:
3.
Beteiligung und Koproduktion
Neu in der Neuen Leipzig Charta ist auch die Digitalisierung als Querschnittsthema. Es werden explizit Smart City-Ansätze und digitale Daten zur Unterstützung einer integrativen und inklusiven nachhaltigen Stadtentwicklung genannt, die wiederum stark am Gemeinwohl ausgerichtet sein müssen. Wie das Handlungsprogramm der Lokalen Agenda 21 stellt auch die Neue Leipzig Charta ein Rahmenprogramm für die lokale Umsetzung in den EU-Mitgliedstaaten und in den Kommunen dar (Deutsche Präsidentschaft im Rat der EU 2020a). Da die Verfolgung der Leipzig Charta in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich verlief und oft an der realen Umsetzung scheiterte, wurde zur Neuen Leipzig Charta ein Leitfaden zur Implementierung erarbeitet (Deutsche Präsidentschaft im Rat der EU 2020b).
Weitere Dokumente auf internationaler Ebene wie z. B. die New Urban Agenda (United Nations 2016) oder der Bericht der UN zum Stand der Städte (UN Habitat 2020) betonen die Bedeutung nachhaltiger Stadtentwicklung und ergänzen die Agenda 2030. Insbesondere mit der 2016 in Quito im Rahmen der Habitat III Konferenz der Vereinten Nationen verabschiedeten New Urban Agenda sollte den Städten ein Werkzeugkasten zur Umsetzung der SDGs an die Hand gegeben werden.
Die New Urban Agenda bezieht sich auf die Agenda 2030, aber auch auf das Übereinkommen von Paris zum Klimawandel und verfolgt das Leitbild der lebenswerten, wirtschaftlich starken, umweltgerechten, widerstandsfähigen und sozial inklusiven Stadt. Im Vergleich zu den SDGs enthält die New Urban Agenda spezifischere stadtplanerische Vorstellungen zu nachhaltiger Stadtentwicklung, allerdings werden Indikatoren in der New Urban Agenda nicht erwähnt. Auch finden sich keine Hinweise wie das Monitoring der New Urban Agenda stattfinden sollte. Inhaltlich betont die New Urban Agenda die große Bedeutung institutioneller Governance-Formen, einer inklusiven Urbanisierung und von Resilienz (Widerstandsfähigkeit). An der New Urban Agenda wird insbesondere die fehlende Umsetzungsperspektive sowie die Unverbindlichkeit der erwähnten stadtplanerischen Leitbilder kritisiert (Garschagen et al. 2018). Die Möglichkeit, den Städten ein Instrumentarium zur Umsetzung der SDGs an die Hand zu geben, wurde insofern nur bedingt genutzt, auch wenn die New Urban Agenda inhaltlich durchaus interessante Leitbilder für die nachhaltige Stadtentwicklung enthält (BBSR 2017).
3.1 Die Lokalisierung der SDGs
Die Agenda 2030 baut auf den bisherigen Erfahrungen nachhaltiger Stadtentwicklung auf und stellt zahlreiche Bezüge zu weiteren stadtpolitischen Dokumenten her. Die Besonderheit der SDGs liegt darin, dass Städte und Gemeinden in die Diskussion um globale Nachhaltigkeit eingebettet sind und nicht unabhängig davon betrachtet werden. Als Lokalisierung der SDGs wird daher „der Prozess der Definition, Umsetzung und Überwachung von Strategien auf lokaler Ebene zur Erreichung globaler, nationaler und subnationaler Ziele und Vorgaben für eine nachhaltige Entwicklung“ verstanden (UCLG 2019, S. 15). Im Folgenden wird dieser Prozess näher beleuchtet und anhand von Beispielen erläutert.
Die Lokalisierung ist nicht nur als top-down Prozess zu verstehen, in dessen Rahmen globale Vorgaben auf die städtische Ebene heruntergebrochen werden. Städte sollen in bottom-up Prozessen die Möglichkeit haben, ihre jeweiligen Erfahrungen und Fortschritte in die globale Diskussion um die SDGs einzubringen (Dellas et al. 2018). Hierfür wird Städten in der Umsetzungsarchitektur der Agenda 2030 z. B. im Rahmen des HLPF Platz gegeben (vgl. Abschn.
2.3). Im Vergleich zu traditionellen Formen der Außenpolitik und internationalen Beziehungen ist der Einbezug der Städte bemerkenswert. Städte werden als internationale bzw. transnationale Akteure sichtbar und können an Einfluss gewinnen (Koch 2020). Ein solcher Prozess wird durch die Agenda 2030 explizit gefördert.
Siragusa et al. (2020) betonen die Vorteile, die sich für Städte aus einer Orientierung an der Agenda 2030 und insbesondere bei der Erstellung freiwilliger lokaler SDG-Berichte ergeben (vgl. Hintergrundinformation zu Voluntary Local Reviews VLRs in Abschn.
3.3): Zum einen fördert der integrative Ansatz der SDGs den Austausch zwischen den einzelnen Ressorts einer Stadtverwaltung. Zum anderen verstärkt die Orientierung an den SDGs den Austausch mit weiteren verwaltungsexternen Akteuren z. B. im Bereich der Mobilität, der Bildung oder der Gesundheit. Somit kann es gelingen, durch die SDGs verschiedene, bislang nicht kooperierende Akteure an einen Tisch zu bringen und die oftmals vorherrschende, als „Silo-Denken“ bezeichnete, sektorenbezogene Sichtweise zu verringern. Zu beachten ist allerdings, dass dies auch zu Zielkonflikten und Auseinandersetzungen um Zuständigkeiten, politische Maßnahmen, Budgets und Ressourcen führen kann.
Ein weiterer Vorteil ist die internationale Sichtbarkeit und die Möglichkeit des Erfahrungsaustausches zwischen Kommunen, die sich im Bereich der SDGs engagieren. Verschiedene Projekte wie z. B. die der Landesarbeitsgemeinschaft Agenda 21 NRW e. V. (LAG 21 NRW) zeigen, dass der Erfahrungsaustausch sowohl bei der Definition der Ziele als auch bei der Implementierung sinnvoll ist. In gemeinsamen Workshops, die von der LAG 21 NRW organisiert wurden, haben sich 15 Modellkommunen über geeignete Verwaltungsstrukturen zur Umsetzung der SDGs, über Methoden der Zielpriorisierungen und der Umsetzungs- und Beteiligungsprozesse ausgetauscht. Dies hat die Kommunen bei der Definition ihrer eigenen SDG-Nachhaltigkeitsstrategien unterstützt.
Aufgrund ihres Charakters als internationales Politikdokument ist die Agenda 2030 keine Blaupause für ein kommunales Handlungsprogramm für Nachhaltigkeit. Zu divers sind die 17 SDGs, als dass eine direkte Umsetzung in einer Stadt erfolgen kann. Daher ist es notwendig, jeweils stadtspezifisch zu prüfen, wie die SDGs auf die lokale Ebene übertragen werden können.
Dieser Schritt, der als Übersetzung der globalen Ziele auf die lokale Ebene bezeichnet werden kann, ist entscheidend dafür, dass die SDGs in den Städten nicht nur eine gut klingende, aber unverbindliche Schönwetterstrategie bleiben. Zum Beispiel kann das SDG 14 „Leben unter dem Wasser“ für Küstenstädte mit einer bedeutsamen Fischindustrie oder umfangreichen Küstenökosystemen eine ganz andere Bedeutung haben als für Städte, die nur über wenig Wasserfläche verfügen. Auch ist zwischen Städten im Globalen Norden und im Globalen Süden zu unterscheiden. Das SDG 1 „Keine Armut“ bedeutet in Städten, in denen ein großer Teil der Bevölkerung in absoluter Armut lebt, etwas anderes als in Städten, in denen vor allem relative Armut existiert. Während ein Mensch, der in absoluter Armut lebt, sich die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse wie z. B. Nahrung nicht leisten kann, ist bei relativer Armut das Einkommensniveau einer Person im Vergleich zum jeweiligen Umfeld unterdurchschnittlich, ohne dass hierbei notwendigerweise eine Einschränkung der Grundbedürfnisse auftritt. Insofern herrscht Einigkeit darüber, dass die in der Agenda 2030 beschriebenen Ziele, Unterziele und Indikatoren an den jeweiligen Kontext angepasst werden müssen (Koch und Ahmad 2018).
In jüngster Zeit entwickelten verschiedene Organisationen Leitfäden bzw. Handreichungen zur Umsetzung der SDGs in Städten. Beispielhaft können die Initiativen des Joint Research Centers der Europäischen Kommission, des Councils of European Municipalities and Regions (CEMR), des Netzwerks Local Governments for Sustainability (ICLEI), der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) oder auch Modellprojekte, die in Deutschland auf länder- und nationaler Ebene realisiert wurden, genannt werden.
3.2 Implementierung der SDGs in Städten
Auch wenn erste Erfahrungen aus SDG-Pilotprojekten vorliegen, fehlt systematisches Wissen darüber, wie konkret die Städte in welcher Form die SDGs umsetzen (Lange et al. 2020). Von den Städten, die sich mit den SDGs beschäftigen, befinden sich viele in der Vorbereitungsphase (UCLG 2019, S. 87), es gibt aber auch bereits Umsetzungserfolge (vgl. Abschn.
3.4 und
3.5). Von einem flächendeckenden Engagement kann (noch) nicht gesprochen werden. In Afrika, Asien und Lateinamerika ist die Zahl der Städte, die bei der Erstellung der VNRs beteiligt wurden, zwar steigend, aber immer noch auf niedrigem bis mittlerem Niveau (UCLG 2019, S. 85). In Deutschland hat der Deutsche Städtetag eine sogenannte Musterresolution verfasst, mit der sich interessierte Städte zu den SDGs bekennen und deren Umsetzung vorantreiben. Bis März 2021 haben, nach Angabe der Servicestelle Kommunen in der Einen Welt (SKEW), 172 deutsche Kommunen die Musterresolution unterschrieben (SKEW 2021). In Bezug zu der Gesamtzahl von 11.014 Kommunen in Deutschland sind die SDGs also nur bedingt in der Praxis der Stadt- und Kommunalentwicklung angekommen.
Generell besteht die Umsetzung der SDGs auf lokaler Ebene aus folgenden, miteinander verbundenen Schritten (Siragusa et al. 2020):
1.
Auftakt im Rahmen eines inklusiven und partizipativen Prozesses,
2.
Erstellung der lokalen SDG-Agenda,
3.
Planung der SDG-Implementierung und
4.
Monitoring und Evaluierung der SDG Ziele.
Diese idealtypische Abfolge von Schritten wird in der Praxis oftmals nicht linear durchgeführt. Einige Schritte laufen parallel zueinander ab und Rückschritte bzw. Stillstand kann die SDG-Umsetzung ebenfalls charakterisieren. Insofern hat die Umsetzung der SDGs in den Städten oftmals experimentellen Charakter und folgt nicht zwingend einer klaren Abfolge von Schritten (Patel et al. 2017).
Auch für die Steuerung des Prozesses existiert kein allgemeingültiges Vorgehen. Während der ab den 1990er Jahren durchgeführten Lokalen Agenda 21-Prozessen gab es oftmals eigens eingerichtete Agenda-Büros, die als Ansprechpartner für Verwaltung und Bürger*innen fungierten. Dies war insbesondere vor dem Hintergrund der Beteiligung der Zivilgesellschaft von großer Bedeutung. Vergleichbare „SDGs-Büros“ wurden nicht bzw. nur vereinzelt eingerichtet, dennoch werden Prozesse der Bürger*innenbeteiligung und partizipative Ansätze für die SDG-Umsetzung als wichtig erachtet und entsprechende Maßnahmen in den Städten umgesetzt (siehe Abschn.
3.4 und
3.5).
In vielen Untersuchungen und Leitfäden zur Umsetzung der SDGs wird die wichtige Rolle des Bürgermeisters/der Bürgermeisterin erwähnt (z. B. Siragusa et al. 2020). In einigen SDG-Prozessen befindet sich die koordinierende Stelle als Stabsstelle dem Bürgermeister/der Bürgermeisterin zugeordnet. Dies ermöglicht, die SDGs nicht als sektorale Aufgabe, sondern als Querschnittsaufgabe zu sehen. Man ist auf die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Sektoren angewiesen, die Stabsstelle übernimmt dabei in der jeweiligen administrativen Struktur eine zentrale Rolle. Entsprechende politische Beschlüsse können der SDG-Implementierung dann das notwendige politische Gewicht geben. Allerdings existieren auch andere Steuerungsformen. In einigen Städten wurden interdisziplinär zusammengesetzte Arbeitsgruppen aus der Verwaltung etabliert, die z. B. durch das Umwelt- und Energieamt geleitet wurden (Krellenberg et al. 2019). In anderen Städten werden SDG-Aktivitäten von den für die internationale Zusammenarbeit oder für Beteiligung und Strategie verantwortlichen Verwaltungseinheiten koordiniert.
Es gibt somit zwar kein einheitliches Vorgehen in Bezug auf die SDGs in den Städten, einige Grundsätze lassen sich jedoch erkennen. Wichtig ist, dass die Umsetzung der SDGs als ein Prozess verstanden wird, der auf mehreren Verwaltungsebenen stattfindet. Kommunalpolitik und -verwaltung spielen eine wichtige Rolle, aber auch die regionale, nationale und internationale Ebene sind von Bedeutung. Viele der SDGs können auf kommunaler Ebene nicht umgesetzt werden, da den Städten schlicht die Handlungskompetenz fehlt. Zum Beispiel schlägt die UN für SDG 11 den Indikator 11.b.1 „Staaten mit implementierten Strategien zum Katastrophenschutz“ vor. Hier haben Städte offensichtlich keine direkte Möglichkeit, aktiv zu werden. Darüber hinaus spielt der nationale Kontext eine Rolle für städtische Nachhaltigkeitspolitiken und städtische Handlungskapazitäten. Daher sprechen die Vereinten Nationen den sogenannten National Urban Policies (Nationale Stadtpolitiken) eine große Bedeutung zu. Diese sind Grundlinien der Stadtpolitik auf nationaler Ebene, die den Städten die Umsetzung einer nachhaltigen Stadtentwicklung erleichtern und somit letztlich auch zur Umsetzung der SDGs beitragen (Rudd et al. 2018). In Deutschland und auf der europäischen Ebene existieren mit der Initiative der Nationalen Stadtentwicklungspolitik (Nationale Stadtentwicklungspolitik 2021) und der Urban Agenda for the EU (European Commission 2021) entsprechende Dokumente.
Darüber hinaus sind weitere zivilgesellschaftliche Organisationen, die Wissenschaft, Fördermittelgeber oder private Initiativen und Unternehmen als notwendiger Teil der SDG-Umsetzung in den Städten zu verstehen. Betrachtet man die Ausrichtung der SDGs und die verschiedenen angesprochenen Themenfelder, lässt sich erkennen, dass die Zusammenarbeit notwendig ist, um die Ziele umzusetzen. Zum Beispiel kann SDG 4 „Hochwertige Bildung“ nur in Zusammenarbeit mit Schulen und Bildungseinrichtungen erfolgen, und zur Umsetzung von SDG 9 „Innovation und Infrastruktur“ sind die Unternehmen mit ins Boot zu holen. Auch bei SDG 11 und dem Unterziel 11.1 „Zugang zu angemessenen, sicheren und bezahlbaren Wohnraum“ sind beispielsweise Wohnungswirtschaft und Bauindustrie einzubeziehen.
3.3 Monitoring und SDG-Indikatorensysteme
In den Diskussionen um die Agenda 2030 und die SDGs ist die Frage nach dem Monitoring und entsprechenden Indikatoren von entscheidender Bedeutung. Wie in Kap.
2 beschrieben, enthält die Agenda 2030 zwar ein Indikatorenset für die SDGs, allerdings ist es notwendig, die auf globaler Ebene entwickelten Indikatoren an den entsprechenden Kontext anzupassen.
Grundsätzlich übertragen Indikatoren ein qualitatives Ziel (wie z. B. keine Armut) in einen empirisch messbaren Indikator (Anteil der Menschen, die von weniger als 1,90 US$ am Tag leben müssen). Dadurch ist es möglich, eine Zielerreichung messbar zu machen, auch wenn hierfür komplexe Zusammenhänge vereinfacht werden müssen (Pfeffer und Georgiadou 2019). SDG-Indikatoren können die Erreichung des Ziels „Nachhaltige Entwicklung“ messen und auch Transparenz und Vergleichbarkeit in Bezug auf die Umsetzung herstellen. Sie können genutzt werden, um Maßnahmen zur Erreichung der Ziele zu ergreifen.
Für die Umsetzung der SDGs auf kommunaler Ebene sind im Zusammenhang mit Indikatoren und Monitoringsystemen folgende Punkte zu beachten, die im Weiteren näher erläutert werden: die Entwicklung stadtspezifischer Indikatoren, die Vergleichbarkeit von Indikatoren sowie die Datenverfügbarkeit und Messung von Indikatoren
-
Entwicklung stadtspezifischer Indikatoren: Die Indikatoren der Agenda 2030 bieten eine Orientierung; die genaue Definition der stadtspezifischen Ziele und der damit verbundenen Indikatoren orientiert sich jedoch an den speziellen Herausforderungen und Nachhaltigkeitszielen jeder einzelnen Kommune. Das heißt, dass es keine Standardindikatoren gibt, die in jeder Stadt zur Anwendung kommen. In jedem Fall ist es wichtig, dass sich Städte zunächst mit den existierenden UN-Indikatoren auseinandersetzen und dann ein für die jeweilige städtische Situation angepasstes Indikatorenset definieren. Hierbei ist zudem zu berücksichtigen, dass auch ein Rückbezug auf die nationalen und ggfs. Bundesländer-spezifischen Nachhaltigkeitsindikatoren erfolgen sollte. Wie in verschiedenen Leitfäden zur Lokalisierung der SDGs erwähnt, ist der Einbezug der Bevölkerung sehr wichtig (Siragusa et al. 2020). Durch Beteiligungsprozesse, z. B. bei der Ausgestaltung der Nachhaltigkeitsziele, können verschiedene Perspektiven eingebunden und die Nachhaltigkeitsziele auf eine breitere Basis gestellt werden. Dies trägt generell zu einer höheren Akzeptanz bei der Umsetzung bei (Nanz und Fritsche 2012). Auch können konkrete Umsetzungsschritte in Abstimmung mit der Bevölkerung definiert und angegangen werden.
-
Vergleichbarkeit von Indikatoren: Gleichzeitig existieren Ansätze, die einen komparativen Anspruch haben und Vergleiche zwischen verschiedenen Städten zur SDG-Umsetzung ziehen. In Deutschland sind hier die Aktivitäten der Bertelsmann-Stiftung in Kooperation mit dem Deutschen Städtetag, dem Deutschen Institut für Urbanistik und weiteren Institutionen zu nennen. Auf der Seite
www.sdg-portal.de besteht die Möglichkeit, für alle Kommunen und Landkreise in Deutschland Daten abzurufen und eine Bewertung zu erhalten, wie sich die jeweilige Stadt in Bezug auf die einzelnen SDGs entwickelt. Die Indikatoren wurden dabei zunächst aus der Agenda 2030 übernommen und dann einem Problem- und Aufgabencheck unterworfen („Stellt der jeweilige Aspekt für deutsche Kommunen ein wesentliches Problem dar?“ und „Kann mithilfe kommunaler Aufgaben ein Beitrag zur Zielerreichung geleistet werden?“). Daraufhin wurden entsprechende Indikatoren festgelegt. Ähnliche Initiativen finden sich auch auf europäischer Ebene bzw. im globalen Maßstab (z. B.: SDSN 2019 oder Eurocities 2019). Diese vergleichenden Indikatorensysteme haben zum Ziel, generelle Entwicklungen zu identifizieren und den Grad der Erfüllung der SDGs in den Städten vergleichend darzustellen. In der Regel bilden diese Indikatorensysteme nur ab, welche Werte bestimmte Nachhaltigkeitsindikatoren wie z. B. die Zahl der Arbeitslosen in einer Stadt, den Anteil des Stroms aus Windkraft je Einwohner*in oder den Anteil von Naturschutzflächen an der gesamten Stadtfläche ausmachen. Welche Maßnahmen zur Verbesserung der entsprechenden Werte ergriffen werden sollten und wer dafür verantwortlich ist, lässt sich aus den SDG-Portalen nicht herauslesen. Zudem bilden diese Indikatoren nicht die stadtspezifischen Herausforderungen und Ziele ab und beschränken sich auf Indikatoren, für die Daten aus offiziellen Statistiken vorliegen.
-
Datenverfügbarkeit und Messung von Indikatoren: Entscheidend für den Erfolg von SDG-Monitoringsystemen auf der Basis von Indikatoren ist die Verfügbarkeit entsprechender Daten auf kommunaler Ebene. In Deutschland sind die kommunalen Statistikämter, aber auch die statistischen Landesämter und das statistische Bundesamt entscheidende Quellen. Vergleichende Indikatorensysteme, aber auch Initiativen einzelner Städte, nutzen im Wesentlichen diese öffentlich zugänglichen Daten. Allerdings findet sich auch verschiedentlich der Hinweis darauf, alternative Quellen wie Luftbilddaten oder
big data Quellen, z. B. Sensordaten von Netzwerken, für die Quantifizierung der SDG-Indikatoren zu verwenden (Kharrazi et al. 2016; MacFeely 2019). Weitere Quellen können auch durch
Citizen Science Initiativen von den Bürger*innen bereitgestellte und/oder erhobene Daten sein. Hier ergeben sich verschiedene Herausforderungen, die mit Datenrechten, Datenqualität und Datenschutzregelungen verbunden sind. Es ist davon auszugehen, dass die überwiegende Mehrheit der Städte das Potenzial alternativer Datenquellen für ein SDG-Monitoring noch nicht nutzt. Eine weitere Herausforderung ist die Messung von SDG 17, mit dem globale Entwicklungen und Partnerschaften in den Blick genommen werden. Wie in der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie erwähnt, soll Nachhaltigkeit nicht nur als Ergebnis von Maßnahmen
in Deutschland, sondern auch international
durch und
mit Deutschland gefördert werden (vgl. Abschn.
2.5). Daten, die das internationale Handeln von deutschen Städten abbilden und die entwicklungspolitische Dimension beachten, sind allerdings schwer zu erheben. Überlegungen, wie diese externen Effekte berücksichtigt und welche Indikatoren verwendet werden können, existieren bereits (z. B. Knipperts 2019), die Anwendung in der Praxis scheint bislang noch schwierig.
Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass durch Indikatoren Transparenz in Bezug auf den Fortschritt der Städte bei der Erreichung der gesetzten Nachhaltigkeitsziele geschaffen werden kann. Eine weitere wichtige Aufgabe besteht darin, die Ergebnisse des Monitorings mit Maßnahmen zur Zielerreichung zu verknüpfen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage was passiert, wenn das SDG-Monitoring erhebliche Defizite bei der Erfüllung der SDGs ausweist. Welche politischen Anstrengungen werden unternommen, um die Ziele zu erreichen? Es besteht für Kommunen die gleiche Gefahr, wie auf nationaler bzw. globaler Ebene: dass die SDGs als Strategie verstanden werden, deren Ziele zwar auf dem Papier gut klingen, es aber keine Konsequenzen hat, wenn diese Ziele nicht erreicht werden. In diesem Kontext wird der Begriff des
SDG-washing verwendet. Dieser ist angelehnt an das
green-washing, welches Strategien umschreibt, mit denen sich Akteure ein Image ökologischer Verantwortung zu verschaffen suchen, das nicht auf konkretem Handeln beruht. Eine Möglichkeit, mit diesem potenziellen Konflikt umzugehen sind die Voluntary Local Reviews, die ähnlich den in Kap.
2 beschriebenen Voluntary National Reviews funktionieren.
3.4 Internationale Beispiele zur Umsetzung der SDGs
Weltweit arbeiten viele Städte an der Umsetzung der SDGs (vgl. Abschn.
3.2). Die Vorgehensweise und die inhaltliche Ausrichtung unterscheiden sich aufgrund der in den vorherigen Kapiteln beschriebenen Herausforderungen dabei von Stadt zu Stadt. Im Folgenden werden mit Los Angeles und Espoo exemplarisch zwei internationale Umsetzungsbeispiele vorgestellt.
3.5 Deutsche Städte und die SDGs
Auch zahlreiche deutsche Städte haben sich in den letzten Jahren mit der Umsetzung der SDGs beschäftigt. Ausgehend von der im Jahr 2018 aktualisierten Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (Bundesregierung 2018), in der Umsetzungsmaßnahmen für die SDGs national festgelegt wurden und der Bezug zur lokalen Ebene hergestellt wurde, entwickelte die Mehrzahl der Bundesländer an den SDGs ausgerichtete Nachhaltigkeitsstrategien bzw. passten bestehende Strategien an die SDGs an (Statistisches Bundesamt 2021b). Die lokale Umsetzung der SDGs bleibt jedoch weitgehend in der Verantwortung der einzelnen Kommunen. Hier ist zunächst zu konstatieren, dass sich deutsche Städte derzeit in sehr unterschiedlichen Stadien befinden: Während einige Städte bereits Grundsatzbeschlüsse zur Umsetzung der SDGs verabschiedet haben, werden sie in anderen Städten bisher noch gar nicht thematisiert (Krellenberg et al. 2019).
Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die Herausforderungen zur Umsetzung der SDGs im Rahmen der nachhaltigen Stadtentwicklung vielfältig sind, wie in einem Co-Design-Prozess (vgl. auch Background Information Co-Design und Co-Produktion) mit Schlüsselakteuren aus städtischen Verwaltungen und der Praxis herausgefunden wurde (Krellenberg et al. 2019). Hier ist zunächst der bereits in der Leipzig Charta verankerte integrative Ansatz nachhaltiger Stadtentwicklung zu nennen, der durch die SDGs mit ihren vielfältigen Bezügen zur städtischen Ebene gleichfalls adressiert wird. Dadurch bestehen zur Umsetzung der SDGs in den Stadtverwaltungen institutionelle Herausforderungen, da sektorale Strukturen häufig ressortübergreifenden, integrativen Denk- und Handlungsweisen entgegenstehen. Hinzu kommt, dass die personellen Ressourcen städtischer Verwaltungen häufig nicht ausreichen, um diese zusätzlichen, integrativen Aufgaben zu übernehmen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Nachhaltigkeit nicht verbindlich eingefordert wird bzw. der Wille vonseiten der Stadtpolitik nicht da ist, die Arbeitsfelder konsequent und dauerhaft an integrativer, nachhaltiger Entwicklung auszurichten. Das bedeutet, dass Nachhaltigkeit als Querschnittsaufgabe in den Städten zusätzliche Ressourcen erfordert, um die notwendigen Integrations- und Koordinationsleistungen zu erfüllen. Nachhaltigkeit muss zu einer Langfristaufgabe werden, ohne dass kurzfristige Interessen der Stadtpolitik den übergeordneten Zielen im Weg stehen und der scheinbare Widerspruch zwischen aktuellen drängenden politischen und gesellschaftlichen Problemen und einer langfristigen Nachhaltigkeitsstrategie gelöst werden. Hier kommen die bereits im Verlauf der Lokalen Agenda 21 gemachten Erfahrungen wieder zum Tragen, wie die Notwendigkeit, sehr unterschiedliche Erwartungshaltungen in Einklang zu bringen, oder die große Bedeutung der Stadtspitze als Impulsgeber für eine nachhaltige Stadtentwicklung. Starre Verwaltungsstrukturen und eine angemessene und erfolgreiche Bürgerbeteiligung waren zudem auch bei den Lokalen Agenda Prozessen herausfordernd (vgl. Kap. 3).
Im Folgenden werden zwei Beispiele für die Umsetzung der SDGs in deutschen Städten vorgestellt, die Stadt Bonn sowie der Berliner Bezirk Treptow-Köpenick.
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