Mit ihrer aktuellen Entscheidung, ein mittelfristiges Inflationsziel von zwei Prozent anzupeilen, um die Preisstabilität in Europa zu gewährleisten, und der künftigen Einbeziehung von Wohneigentum beim Verbraucherpreisindex erntet die EZB ein geteiltes Echo aus der Finanzwelt.
Oft sind die Entscheidungen der EZB umstritten. Das gilt vor allem für ihre Geldpolitik.
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Die Europäische Zentralbank (EZB) wertet in ihrer neuen geldpolitischen Strategie Abweichung vom Inflationsziel von zwei Prozent nach unten wie nach oben als "unerwünscht". Für diese Fällen hält sich das Institut verschiedene Handlungsspielräume offen.
In ihrer Erklärung vom 8. Juli heißt es:
Wenn die nominalen Zinssätze in einer Volkswirtschaft in der Nähe ihrer effektiven Untergrenze liegen, sind besonders kraftvolle oder lang anhaltende geldpolitische Maßnahmen nötig, um zu verhindern, dass sich negative Abweichungen vom Inflationsziel verfestigen."
Im Zuge dessen weist die EZB darauf hin, dass neben den Leitzinsen auch Maßnahmen wie die Forward Guidance, Ankäufe von Vermögenswerten und längerfristige Refinanzierungsgeschäfte "fester Bestandteil des Instrumentariums der EZB und werden gegebenenfalls eingesetzt". "Unsere neue Strategie ist ein solides Fundament. Sie wird uns künftig bei der Durchführung der Geldpolitik leiten," kommentierte EZB-Präsidentin Christine Lagarde die Entscheidung des Instituts.
EZB will Wohneigentum beim HVPI berücksichtigen
Zudem will die Zentralbank im Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) künftig auch die Kosten für selbst genutztes Wohneigentum berücksichtigen. Dieses Ziel umzusetzen werde "aber noch mehrere Jahre dauern". Solange sollen bei den geldpolitischen Beurteilungen Inflationsmessgrößen zugrunde gelegt werden, die anfängliche Schätzungen der Kosten für selbst genutztes Wohneigentum berücksichtigen. Zudem konzentriert sich die EZB auf die Folgen des Klimawandels für die Preisstabilität und hat sich nach eigenen Angaben "zu einem ambitionierten klimabezogenen Maßnahmenplan" verpflichtet.
Die neue Strategie soll bei der ersten regulären geldpolitische Sitzung des EZB-Rats am 22. Juli 2021 berücksichtigt werden. Die nächste Bewertung der geldpolitischen Strategie soll voraussichtlich im Jahr 2025 erfolgen.
EZB-Entscheidung enthält eine Asymmetrie
"Die Beschlüsse von Frau Lagarde & Co. gestern waren im Kern neutral bis positiv für die Finanzmärkte. Hieran lag es nicht, dass über den Handelstag hinweg der DAX abwärts tendierte", heißt es dazu ein einem Kommentar der Experten der Landebank Baden-Württemberg (LBBW). Sie bewerten die neue Formulierung des Inflationsziels von genau zwei Prozent als "eine sehr viel verständlichere Vorgabe als bislang".
Allerdings stecke darin auch eine Asymmetrie, heißt es. "Für den Fall eines starken Rückgangs der Inflation verpflichtet sich die EZB dazu, Maßnahmen zu ergreifen, um ein dauerhaftes 'Eingraben' niedriger Inflation zu vermeiden und sich hinreichend zinspolitischen Spielraum oberhalb der Nullzins-Grenze zu bewahren", so die LBBW-Experten.
Interessant sei hingegen der Versuch, künftig auch die Veränderung der Immobilienpreise in der Messung der Inflation zu berücksichtigen. "Aus technischen Gründen ist dies nicht einfach", heißt es bei der LBBW. Man dürfe gespannt sein, welche konkreten Auswirkungen dies für die Leitzinsen haben wird, ebenso wie die beschlossene Erweiterung des Zielkatalogs der EZB um den Klimawandel.
EZB-Strategie rechtfertigt "extrem lockere Geldpolitik"
"Es ist zu begrüßen, dass sich der EZB-Rat bei seinem neuen Inflationsziel nicht auf einen ausdrücklichen Bezug auf die Durchschnittsinflationsrate eingelassen hat. Dies wäre als klare Ansage verstanden worden, nun erst einmal jahrelang eine Inflation auch weit über zwei Prozent zuzulassen", kommentiert Friedrich Heinemann, Leiter des Forschungsbereichs Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft am ZEW Mannheim, die Entscheidung der EZB.
"Gleichwohl bereitet das neue Ziel höheren Inflationsraten den Weg." Da eine Inflation unter zwei Prozent als genauso schlecht wie eine Inflation über zwei Prozent bewertet wird, werde es der EZB-Rat noch leichter haben, in den kommenden Jahren eine Fortdauer der extrem lockeren Geldpolitik und der Anleihekäufe zu rechtfertigen. "Auch der ausdrückliche Verweis, dass gegebenenfalls für eine Übergangsphase eine moderate Zielüberschreitung hingenommen werden muss, schwächt die Verbindlichkeit des Ziels als Obergrenze weiter ab", so Heinemann.
Er bezeichnet den Zeitpunkt der EZB-Entscheidung als unglücklich und führt aus: "Just in dem Moment, in dem einige Euro-Staaten in ihrer Finanzierung krisenbedingt vollkommen von den Anleihekäufen der EZB abhängig geworden sind, senkt der EZB-Rat seine langfristigen Ambitionen bei der Inflationsbegrenzung. Das kann als Signal verstanden werden, dass die EZB sogar in ihren Strategieentscheidungen nun schon ängstlich auf die Absicherung hoher Schuldenstände schaut."
Berücksichtigung tatsächlicher Wohnkosten ist positiv
Der ZEW-Experte begrüßt hingegen den anvisierten Einbezug der Wohnungskosten. "Denn im Wohnbereich sind in Europa inflationäre Prozesse in Gang gekommen, die den Verbraucher empfindlich treffen, aber noch nicht ausreichend in der Inflationsmessung berücksichtigt waren." Auch Andreas Bley, Chefvolkswirt des Bundesverbands der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR) bewertet dieses Vorhaben als positiv. "Eine bessere Berücksichtigung der tatsächlichen Wohnkosten dürfte die Akzeptanz des Inflationsmaßes weiter erhöhen. Die Nichtberücksichtigung dieser Kosten hatte den Auftrieb der Verbraucherpreise in den vergangenen Jahren nach unten verzerrt", so Bley.
Seiner Ansicht nach erhöhe der Wechsel vom ursprünglich gesetzten Ziel einer Inflation von unter, aber nahe zwei Prozent zum symmetrischen Ziel von zwei Prozent die Transparenz der Geldpolitik und vereinfacht die Bewertung geldpolitischer Entscheidungen. „Aus der künftig symmetrischen Bewertung von Über- und Unterschreitungen des Inflationsziels dürfte ein leicht höherer erwarteter Preisauftrieb resultieren, ohne dass die Verankerung der Inflationserwartungen auf einem niedrigen Niveau in Frage gestellt wird“, so Bley.
Dass nach Phasen mit Zentralbankzinsen in der Nähe der effektiven Zinsuntergrenze, also negative Zinsen in der aktuellen Größenordnung, künftig eine vorübergehende Überschreitungen des Inflationsziels von zwei Prozent geduldet wird, könne zu höheren Inflationserwartungen beitragen und den Ausstieg aus den Minuszinsen erleichtern. Allerdings ist die EZB dem BVR-Chefvolkswirt zufolge zu wenig präzise bezüglich der Dauer und des Ausmaßes der temporär geduldeten erhöhten Inflation. "Keinesfalls darf eine dauerhafte Inflation oberhalb der Marke von zwei Prozent hingenommen werden", so Bley.
DSGV kritisiert gewachsene Spielräume der Notenbank
"Die EZB hat sich in den vergangenen Jahren viel Vertrauen erworben als Garantin für stabile Preise und einen starken Euro. Mit ihrer neuen Zielformulierung macht sie deutlich, dass sie gleichermaßen inflationäre wie deflationäre Tendenzen bekämpfen will. Die neue, klarere Formulierung scheint gut geeignet, Inflationserwartungen exakter zu verankern", beurteilt Helmut Schleweis, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands (DSGV), die neue EZB-Strategie. Dass die Zentralbank weiter grundsätzlich die Zwei-Prozent-Marke anvisiert, sei positiv. Im Vorfeld hätten auch Empfehlungen für noch deutlich höhere Zielraten im Raum gestanden.
Von der Berücksichtigung selbstgenutzten Wohnraums erwartet Schleweis trotz des positiven Signals allerdings nur einen Unterschied von einer "kleinen Nachkommastelle" im Inflationsausweis. Erleichtert zeigte sich der DSGV-Chef, "dass die EZB weiter klar das Ziel der Preisniveaustabilität priorisiert und es, anders als die Federal Reserve bei ihrer Strategieneufassung. nicht durch andere Aspekte und Nebenziele der Geldpolitik verschleiert".
Kritischer sieht Schleweis dagegen die "möglicherweise sogar gewachsenen Spielräume der Notenbank", ihren expansiven Kurs auch in den kommenden Jahren weiter zu verfolgen. "Die EZB kauft sich de facto mit ihren heutigen Festlegungen Zeit, um in der aktuellen Situation nicht so bald mit einem Umsteuern ihrer Geldpolitik reagieren zu müssen. Zu lax darf die EZB die Zielvorgabe der Preisstabilität aber auch in Zukunft nicht interpretieren", so der DSGV-Präsident. Sonst setze das Institut das Vertrauen aufs Spiel, das es sich in den vergangenen Jahren erworben hat. "Einmal in Gang gesetzt, lässt sich das Karussell immer schnellerer Preis- und Lohnrunden nur mit großem Aufwand wieder abbremsen", so Schleweis.