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2022 | OriginalPaper | Chapter

4. Organisatorische Veränderung als Entscheidungsprozess

Author : Marcel Schütz

Published in: Die Realität der Reform

Publisher: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Der nachfolgende empirische Teil rekonstruiert das Veränderungsprojekt eines über den Zeitraum von eineinhalb Jahren hospitierten größeren Finanzinstituts. Den theoretischen Rahmen und die empirische Wegleitung der Analyse bildet die vorangehend diskutierte Prämissen- und Entscheidungsstruktur, mit der wir uns die benötigte ,Beinfreiheit‘ für die Forschungsarbeit geschaffen haben.

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Footnotes
1
Bei Rückbesinnung – engl. recollection als das ,Sich-wieder-sammeln‘ und ,Zurück-versenken‘ – können wir natürlich hellhörig werden, ging es doch bereits vorliegend um die Besinnung der Organisation. Rückbesinnung meint bei Elena Esposito ein Verstehen der Reform (aus frz. réforme, svw. „Umgestaltung, Neuordnung; Verbesserung des Bestehenden“ – Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion, 1997a, S. 580, Sp. a) jenseits der reinen Optimierung von Organisationen. In ihrer historischen Untersuchung zeigt Esposito auf, wie reformatio originär als renovatio begriffen wird; „als Reaktualisierung eines bewährten Vorbilds aus der Vergangenheit“ (Esposito, 2005, S. 51). Auf die gehaltvolle Diskussion des Begriffs in seinen mittelalterlichen und modernen Wendungen und Neuinterpretationen können wir hier nicht weiter eingehen. Für das Begreifen organisatorischer Realität der Reform ist die semantische Facette der Rückbesinnung gleichwohl instruktiv, da sich mit ihr fragen lässt, ob Organisationen mit der überwiegenden Annahme einer Verbesserung/Besserstellung durch Reform nicht auch stets Absichten eines Rückgriffs in ihre Geschichte und ihre Identität mitkommunizieren.
 
2
Die Setzung einer Zäsur zwischen Vergangenheit und Zukunft der Organisation erklärt sich natürlich nicht bereits durch eine Setzung qua Beschluss – bzw. erklärt sich lediglich in der Weise, dass die Organisation hierdurch eine Art futuristische Fiktionalisierung ihrer selbst betreibt. Organisationen rekonstruieren – oder eben versinnhaften – durch Reform ihre Umwelt und ihren Standpunkt im Hinblick auf diese. Aber sie konstruieren bzw. konstituieren damit auch eine Differenz des Gewesenen zum Kommenden. Im Moment, in dem Reform beschlossen und vollzogen wird, muss man entscheiden, ob man noch in der Vergangenheit steht oder schon in der Zukunft. Eine gegenwärtige Zukunft in Organisationen meint Projektion einer Differenz, die sich durch ihre Bestimmung vorwegnehmen lässt. Zur Bestimmung der Zukunft müssen in der Gegenwart Vergangenheit und Zukunft integriert werden. – „The future cannot begin“, formuliert Niklas Luhmann in seinem Zeitmodell sozialer Systeme. Statt von kommender Gegenwart auszugehen, kann Zukunft verstanden werden „as a generalized horizon of surplus possibilities that have to be reduced as we approach them“ (Luhmann, 1976, S. 141). Erwartbar spielt auch die Erinnerung der Organisation einen Streich. Was eine Organisation von ihrem Gestern noch zu erfahren meint, ist eigentlich nur Ausdruck einer erahnten Differenz, die durch die Gegenwart konstituiert werden kann. So lesen wir bei Álvaro de Campos [Fernando Pessoa] in seinem „Ambiente“ (1927): „Keine Epoche übermittelt einer anderen ihr Empfinden; sie übermittelt nur das Verständnis, das sie von diesem Empfinden gehabt hat. […] Jede Epoche überliefert den darauffolgenden nur das, was sie nicht gewesen ist.“ Ich danke Konrad Hauber (Universität Freiburg) für die Übersetzung aus dem Portugiesischen.
 
3
In den Interviews sowie ergänzenden Nebengesprächen während der Forschung nehmen Bezüge auf eine zu diesem Zeitpunkt noch bestehende Mutter(-Organisation) einigen Raum ein. Die Geschäftsmodelle und die sonstige Ausgestaltung beider Organisationen unterscheiden sich aber deutlich. Ihre Verbindung ist nicht organisch entstanden, sondern qua Eingliederung durch Kauf. Trotzdem kommen verschiedene formale und kulturelle Referenzen auf diese übergeordnete Eigentümergesellschaft zur Sprache, die, so ist zu vernehmen, bedingt durch ihre Größe und ihr weiteres Geschäftsgebiet tendenziell als überlegene bzw. weiter und andersartig fortgeschrittene und professionalisierte Organisation wahrgenommen wird. Von ihr hat die kleinere Organisation offenbar strategische Kompetenz und Innovationskraft zu erwarten. Auch sieht man Prägungen für die heute vorhandenen Organisationsabläufe. Dazu kommt, dass zwischen Mutter und Tochter auf Ebene ihrer Leitungskreise eine gewisse Personalmobilität zu beobachten ist. Kommunikativ scheint es fast so, als ,wabere‘ die Hintergrundstruktur der Muttergesellschaft immer auch durch jene der Tochter. Dies lässt vermuten, dass etwaige Aufwertungen (Kosten senken, Profitabilität steigern) durch Reformmaßnahmen nicht zuletzt zugunsten übergeordneter Erwartungen bzw. im Sinne wirtschaftlicher Prosperität ausfallen sollen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang, dass in der Sitzecke für Gäste und KundInnen im Foyer der Hauptverwaltung immer eine große Erinnerungsschrift der Muttergesellschaft auslag, die die historische und organisationskulturelle Entwicklung der Mutter zum Gegenstand hatte. Dieselbe Schrift konnte man ebenfalls in der Sitzecke auf der Etage des Vorstands einsehen. Und eigentlich nur wichtig ist hier die Information, dass sich an beiden Plätzen einzig und allein diese eine Schrift befand.
 
4
Der Name wurde geändert.
 
5
Das Datum wurde geändert.
 
6
Unter einer Change-Story – wie der Begriff in der Beratersprache gebraucht wird – sei hier ein Vorgehen verstanden, bei dem gezielt narrative, symbolische und metaphorische Komponenten während der Kommunikation eines Reformprojekts zum Einsatz kommen; sei es innerhalb der Organisation oder zur Darstellung der Organisation gegenüber der Umwelt. Hierdurch werden Rückenwind und Zugkraft im Hinblick auf die Akzeptanz der Reformen erwartet – und das mit verschiedenen Lesarten und Interpretationen der Veränderungsbedarfe zwecks Realitätskonstruktion und Sinnstitung (vgl. Überblick zur Entwicklung in der Organisationsliteratur bei Rhodes & Brown, 2005; Reissner et al., 2011 zu fabulösen Narrationen in der Veränderungs- bzw. Business-Ratgeberliteratur zum Thema Change Management).
 
7
Nach Brunsson (2005; 1989a) hat man es bei Reformen mit selbsterzeugender und selbstverstärkender Qualität zu tun: Eine Reform setzt die andere in Gang (Re–Re…-Reformen). Allerdings muss im Beispielfall hier zwischen Überschreibungs- und Erweiterungsreform unterschieden werden. Der Übergang vom Vorprojekt Orga 2015 zum Projekt NeuBank 2020 ist, soweit zu sehen und in Erfahrung zu bringen, nicht korrektiver Natur, sondern additiver. Im einen Fall ging es primär um die Betriebsorganisation der Bank, im anderen um ihre Vertriebsorganisation. Freilich können auch daraus sukzessive Korrekturen erwachsen, die initial womöglich gar nicht intendiert waren.
 
8
Dieses Projekt befasste sich mit Vorarbeiten, die später in das Folgeprojekt NeuBank mündeten bzw. Voraussetzungen ergaben. Der Name des Projekts wurde geändert.
 
9
Wörtliche Zitate werden im Weiteren fortlaufend eingearbeitet, um mit charakteristischen, aussagekräftigen O-Tönen die Darstellung zu unterstützen. Auf eine Zuweisung von personalisierten Kürzeln bzw. einer laufenden Signatur wurde verzichtet, da durch die wiederkehrende Zitation der Befragten letztlich persönliche Rückschlüsse wahrscheinlich werden und eine Anonymisierung nicht zu gewährleisten wäre. Für die gesamte weitere Darstellung gilt, dass Zitate, die gruppenweise bzw. gehäuft aufgeführt sind (zumeist zwei bis vier Wortbeispiele), in der Regel von verschiedenen Personen stammen. Alle Zitate werden durch eine Leerzeile abgegrenzt und sind vom Autortext durch Einrückung und kleinere Schriftgröße sichtbar zu unterscheiden.
 
10
Organisationswissenschaftlich sind Fintechs – also finanz-technologische Start-ups und Jungunternehmen mit einem Schwerpunkt auf volldigitalen, filiallosen Angeboten, die ehemals ansonsten im typischen Geschäftsfeld von Banken lägen – bisher begrenzt systematisch eingeordnet. Umso mehr prägt offenbar die mediale Resonanz und gesellschaftliche Beobachtung das Bild dieses Typs (vgl. Zavolokina et al., 2016). Es handelt sich hierbei, knapp gesagt, um eine indirekte strukturelle Auskopplung aus klassischen Finanzinstituten und Großbanken, wobei kein identitärer bzw. organischer Zusammenhang bestehen muss. Fintechs entstehen weitgehend losgelöst vom konservativen Finanzbetrieb, da sie sich mit lukrativen Klein- und Insellösungen begnügen können, für die lediglich rechtliche und IT-technische Voraussetzungen bzw. Ressourcen gegeben sein müssen. Teilweise können sie sich aber wohl auch gerade den Veränderungsdruck der großen Bankorganisationen (denen es bisweilen an Zeit und Ressourcen für eigene Innovierung in Form von Hauslösungen fehlt) zunutze machen und aus schwacher Regulierung ebenso wie aus der Ansprache jüngerer digitaler Kundengruppen eigene Vorteile ziehen. Relevant ist dieser Kontext für Banken deshalb, da deren Organisationsreformen hierdurch unter noch anspruchsvolleren Erwartungen stehen. Neben Steigerungsbedarf in puncto Profitabilität und bezüglich des hinzukommenden Regulierungsdrucks treten nun auch ganz neue Formen kleinräumiger, wendiger Institute als strukturelle Innovation in Erscheinung. Anders als die demgegenüber fast schwerfällig daherkommenden Bankhäuser müssen diese Start-up-Strukturen keine bürokratischen Reformen lancieren, um ihr Geschäft zu innovieren, sondern sie können direkt durch eine entsprechend zugeschnittene Angebotspolitik den an schnellen und einfachen Lösungen interessierten Markt bedienen.
 
11
Wir unterscheiden hier eine makrostrukturelle Ebene (staatlich eingefasste Finanzsysteme und globale Strukturen der Finanzwirtschaft) von einer kleinräumiger organisatorischen im engeren Sinne. Nur letztere ist Gegenstand der Arbeit. Die finanzstrukturelle Diskussion ist eine Sache der Volkswirtschaftslehre und der politischen und juristischen Wissenschaften. Zur finanzwirtschaftlich informierten Reformdiskussion im großen globalen Umfang siehe z. B. Kaserer (2017); Hamdaoui und Maktouf (2020).
 
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Speziell für den Bereich der öffentlichen und regionalen Banken in der D-A-CH-Region (Staats-, Landes- und Kantonalbanken) besteht eine längere Diskussion über politische Infiltration, zu große Staatsnähe, institutionelle Trägheit, Eigenkapitaldeckung und Bankenfusion, die im Zuge der Weltfinanzkrise 2008 an Fahrt aufgenommen hat und zu einigen Umgestaltungen der öffentlich-rechtlichen und regionalen Finanzgruppen führte. Das beforschte Institut befindet sich jedoch in privatwirtschaftlicher Eigentümerschaft. Über ihm vergleichbare Häuser im öffentlichen Sektor berichten Trampusch et al. (2014, S. 131): „Seit der Finanzkrise 2007 ist im Landesbankensektor jedoch nichts mehr wie zuvor. Die Hinwendung zum Kapitalmarkt endete in einem finanziellen und politischen Desaster. ,Fiasko‘, ,Schrecken ohne Ende‘ und ,Größenwahn‘ zieren noch heute die Schlagzeilen und historisch gewachsene Strukturen wurden aufgelöst. Dabei haben die einzelnen Institute unterschiedliche, z. T. immer noch andauernde Restrukturierungsprozesse durchlaufen.“ Zur Nachkriegshistorie und wiederholter Neuordnung der Landes- und Regionalinstitute vgl. Brämer et al. (2010). Die in dem beforschten Institut geführten Interviews reflektierten diese Umgestaltungen im Geschäftsmodell nahestehender Wettbewerber gelegentlich am Rande. Die gegenwärtige Reform wird von Seiten der Institutsleitung – neben neueren Veranlassungen – auch als eine Nachwirkung der Finanzkrise eingeschätzt.
 
13
Nicht überraschend wird der Prozess in den Interviews auch als „Verjüngung“ beschrieben. Tatsächlich ist die klassische Marktpräsenz des Instituts derart beschaffen, dass vor allem einheimisch verwurzelte, alternde KundInnensegemente erreicht werden können. Die Wahrnehmung der relevanten Umwelt läuft also nicht zuletzt über demografisch erwartete Restriktionen. Auch im Blick auf die Attraktivität gegenüber anderen Mitbewerbern auf dem Markt einschließlich potenzieller Kooperations- und Fusionskandidaten gilt diese Tradition als limitiert. Es setzt sich daher die Vorstellung durch, dass mit der bisherigen Marke der Zenit überschritten worden ist. Reform ist in diesem Sinne die Erwartung, durch Strukturintervention die Organisation (und die auf diese gerichteten Erwartungen) wieder ,in Form‘ zu bringen oder weiter zu halten. Das Risiko der Erhaltung organisatorischer Routine und Tradition wird vor allem im organisationsökologischen Ansatz reflektiert: organizational inertia und organizational imprinting beschreiben die empirischen Phänomene, wonach Organisationen sich durch Erfolge ihrer Entwicklung selbst fixieren und in diesem Lichte Möglichkeiten wichtiger Änderung versäumen oder nicht wirksam ausbeuten können (vgl. Hannan & Freeman, 1984; Preisendörfer, 2011, S. 134–145).
 
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Diese Internalisierung äußerer Erwartungen, die wiederum ihren Anker darin haben kann, dass diese Erwartungen im Innern des Systems ehedem originär entwickelt, oder aus der Umwelt aufgegriffen und sodann einkopiert wurden, ist für die vorliegende Reformanalyse von besonderem Interesse. Reformen unterstellen mit ihrem operativem Instrumentarium zunächst die Plausibilität einer mehr oder weniger einseitigen und reaktiven Wahrnehmung der Umwelt. Vor dem Hintergrund der hier zu notierenden Erwartungskonstellation, also eines über längere Zeit gefestigten, multipel reflexiven Wechselspiels von Erwartungsbildung, Erwartungserfüllung und Erwartungsrückfluss, kann dagegen vorgeschlagen werden, Reformen in ihrem Beitrag zur Radikalisierung von Erwartungen zu reflektieren. Mit Reformen müht man sich um Klarheit, überspielt aber eigentlich, aus welcher wenig durchsichtigen Gemengelage historischer und futuristischer Referenzen der Umwelt sich dieser Prozess speist.
 
15
Diese Beschreibungen resümieren die begleitende Beobachtung der Berichterstattung in der zunächst regionalen, später auch überregionalen Presse. Insbesondere der Umbau im Filialsystem wird in der Öffentlichkeit mit kritischer Aufmerksamkeit bedacht – wie sich über längere Zeit in Leserbriefen, Kommentaren und Zeitungsberichten, teils auch Interaktionen in den Sozialen Medien widerspiegelt. Die Kürzungs- und Streichungsmaßnahmen erregen bei KundInnen erwartbar gelegentlich auch Unmut.
 
16
Diese Bestimmung nehme ich freilich in geraffter und poientierter Weise vor. Ich versuche, einen Mittelweg zu gehen, einerseits zwischen dem Anspruch der wissenschaftlichen Distanz und andererseits der dokumentierten Emphase einer im Lauf der Forschung merklich dynamischen Reform- bzw. Unternehmenskommunikation. Natürlich muss ich dazu – wie im gesamten Bericht – auf die Selektion eigener Wahrnehmungen zurückgreifen. Ich gehe davon aus, dass die Feststellung einer offenkundigen Stiländerung im organisatorischen Auftritt grundsätzlich erwähnenswert und informativ ist, was natürlich für verschiedene Interpretationen bestimmter Details Raum lässt.
 
17
Internes Werbevideo, 14.11.2017.
 
18
Der Vergangenheitshinweis „Gestern war Heimat eine Bank“ ist nicht beliebig gewählt, er stellt die teilweise Selbstkorrektur dar, dadurch er auf eine noch wenige Jahre zuvor eingeführte Kampagne zu Beginn des ersten Reformprojekts (NeuBank, s. o.) anspielt. Auch in einer Pressemeldung unter dem 01.07.2016 wurde der (erste) neue Slogan noch wie folgt vorgestellt: „Heimat ist Herkunft. Heimat ist Zukunft. Heimat ist eine Bank.“ (kursiv MS) Die Zentralität der sicheren Bank als Fixpunkt wird mit der zweiten (extern mitmotivierten) Reform gegen eine dezentral-digitale Agenda getauscht: „Heute sind wir zuhause, wo Sie es sind.“ (kursiv MS)
 
19
Werbevideo, 26.09.2019. Erwähnenswert ist hier die im Video ausdrückliche Bezugnahme auf eine neue optische Darstellung für überregionale Kundengruppen. Auch werden im Video Landschaften und Großstädte präsentiert, die deutlich von jenen der ursprünglichen Geschäftsregion abweichen. Zu Beginn und zum Ende des Videos jedoch wird mit ländlich-agrarischen Einblendungen die Heimat des Instituts angedeutet, die hier gewissermaßen als bleibender Ursprung mit der Change-Story des Reformprozesses harmonieren kann. In der Pressemeldung vom 01.07.2016 wurde noch herausgestellt, dass „die meisten Betrachter [das Institut] als typisch norddeutsch empfinden“. In zahlreichen weiteren Videos, die in dieser zeitlichen Entwicklung entstehen, werden zusätzlich die angepassten und erweiterten digitalen Finanzprodukte und technischen Lösungen im Einzelnen beworben und erklärt, wodurch erstmals das Erscheinungsbild des Instituts in sozialen Medien, insbesondere Facebook und YouTube, für breitere, überregionale Öffentlichkeit in den Vordergrund rückt. Deutlich wird auch die differenzierte Ansprache nach Altersgruppen bzw. KundInnenmilieus, die mal mehr, mal weniger geschäftskommunikative Distanz aufweist.
 
20
Die Interviewpassagen werden (sozialwissenschaftlich standardmäßig) weitgehend O-Ton-unverändert wiedergegeben. Es wird mündliche Sprache so abgebildet, wie die Interviewten sich geäußert haben. Es gibt daher keine Überarbeitung, Glättung bzw. Angleichung. Sprechübliche Betonungs- und Pausenmerkmale wurden hingegen nicht erfasst. Auslassungen in Form von drei Punkten, im Satz durch Leerzeichen abgetrennt – … –, markieren einen Satzabbruch bzw. den Wechsel einer Aussage des Interviewten. In der mündlichen Sprache geschieht dies oft beim Neuansätzen einer Mitteilung (z. B. „Sehen Sie, es ist nicht so, dass … also gut, beginnen wir noch einmal anders.“). Mit einfachen Klammern versehene drei Punkte – (…) – markieren hingegen eine später forscherisch vorgenommene Kürzung von Passagen für den vorliegenden Text. Diese Kürzungen erfolgten zu dem Zweck einer prägnanten, poientierten Darstellung der jeweiligen Aussage ohne für den Zusammenhang nicht unbedingt relevanter Zusätze. Selbstredend wurden diese Kürzungen nur insoweit vorgenommen, wie dadurch keine Sinnentstellung oder inhaltliche Verzerrung erfolgte. Später hinzugefügte erklärende Einschübe werden in eckige Klammern gesetzt.
 
21
Das Wort „drastisch“ mag, wie ich meine, hier etwas drastisch gewählt sein. Es geht nicht darum, Zitat und These krampfhaft zusammenzubringen oder gar eine unbedingte Verengung auf die jeweilige Interpretation zu vertreten. Power Quotes haben ihre Stärke eher darin, dass sie Potenziale des Möglichen in der Organisation aufzeigen. Zu mengenmäßiger Verteilung und Gewichtung der Zitate bzw. Auslegungen hinsichtlich des gesamten Textkorpus kann darüber nichts Konkretes gesagt werden.
 
22
Die Auswahl und Zuordnung von Zitaten im Rahmen einer solchen Organisationsforschung, die viele narrative Komponenten aufweist, ist aufgrund der Offenheit der Ausführungen zumeist recht freihändig möglich; sie kann jedenfalls nicht exakt und trennscharf ausfallen, sondern bestenfalls beobachtungsplausibel. So kommt es mit sich, dass verschiedene Gesprächsteile verschiedenen Kategorien zugeordnet werden könnten. Die hier dargestellte Analyselogik folgt der Motivation, aus dem Gesprächspool charakteristische Züge herauszuarbeiten.
 
23
Wir beachten hier bestenfalls direkt die etymologische Herleitung aus griech. optikós – „zum Sehen gehörig, das Sehen betreffend“ (Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion 1997a, S. 500, Sp. b). Die Forschung muss sehen, will sie beschreiben. Wer aber durch Forschung mehr und mehr sehen kann, der wird umso besser verstehen, dass selbst dem gründlichsten Sehen noch Grenzen auferlegt sind – und vielleicht erst recht dann, wenn die Gründlichkeit des Sehens auf den Höhepunkt getrieben wird. Den dahingehenden Limitationen verleiht gerade der Begriff Optik besonderen Ausdruck – wie man hier hoffentlich sehen wird.
 
24
Barbara Czarniawska-Joerges (1992) macht mit ihrem Buch „Exploring Complex Organizations“ darauf aufmerksam, dass organisationstheoretische Perspektiven, Denkmodelle und Metaphern durch eine Verallgemeinerung organisatorischer Einzelfacetten und dadurch analytische Verkürzungen hervortreten können, wodurch einer Zusammenhangsbetrachtung gewisse Grenzen auferlegt sind. Entsprechend ist es meine Herangehensweise, die angetroffenen organisatorischen Strukturen nicht isoliert in ihrer formalen Aufmachung zu studieren, sondern die aktive Auseinandersetzung der Organisationsmitglieder und demgemäß die Art und Weise der Sinnerschließung ins Zentrum zu rücken.
 
25
Diese organisatorische Lage könnte auch mit dem einschlägigen Begriff des Schwebezustands beschrieben werden. Typisch für diesen Schwebezustand ,zwischen den Zeiten und Organisationen‘ ist eine produktive Unschärfe im Projektablauf – „Projektgruppen werden gebildet, Fusionen werden diskutiert, neue Ablauforganisationen können beschlossen werden“, wie Jung (2008, S. 231) auf Basis seiner Studie im Verwaltungssektor notiert.
 
26
Für das Projektmanagement kann wohl ergänzt werden: Sofern Hexen einen nicht in den Ofen geschoben haben, besteht natürlich auch die Möglichkeit, dass man nicht nur den projektierten Märchenwald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht, sondern auch nicht mehr weiß, wie man dem dornigen Gestrüpp entfliehen könnte. Vielleicht helfen Projektmethoden – oder sie sind der Ofen.
 
27
Hier liegen vielleicht die strukturellen Vorteile einer reinen Experten- bzw. Spezialistenabteilung beim Verändern von Strukturen. Die ProjektmanagerInnen und FachreferentInnen der Abteilung haben Organisation, Projekte und Prozesse nicht als ein Thema unter anderen, sondern sie bilden in diesem Bereich – und das im Übrigen programmatisch nah an der Vorstandsetage – ihre ganze Expertise und Professionalität aus. So ist es nicht verwunderlich, wenn an solchen Stellen auch neue Machtzuwächse entstehen, die über den restlichen Betrieb einen eigenen Einfluss aufbauen und ausspielen können. Ähnliche schleichende ,Vermachtungen‘ werden bspw. in der Wissenschaft am Beispiel der Expansion von Stabsabteilungen in der Universitätsverwaltung diskutiert – zur Sicherung institutioneller Legitimität und mit eigenen Entkopplungen und teils wohl auch unklaren Wirkungsbeiträgen (vgl. Hasse & Krücken, 2005, S. 23 f.). In der während Reformzeiten von Skepsis geprägten Binnenoptik vieler Organisationen sind solche Abteilungen freilich wie dazu geschaffen, ständig neue Dinge ,auszuhecken‘. Die Linienverantwortlichen wissen, dass man sich mit den Stäben möglichst gut stellen sollte (und dass sie nützlich sein können), aber auch, dass – wie gesagt: die Vorstandsetage ist nicht weit! – im Umgang einige Vorsicht geboten ist.
 
28
Man könnte hier von einer wirklichkeitskonstitutiven Richtigkeitsstruktur sprechen, denn das Potenzial der Wirklichkeitserfahrung in der Organisation korrespondiert untrennbar mit dem Herausschälen zweckvoller (programmierter) Entscheidungsbedingungen. Es ist – darauf wurde einleitend theoretisch hingewiesen – jedoch im praktischen Vollzug der Organisation häufig nicht mehr möglich, sicher anzugeben, ab welchem Zeitpunkt und wodurch zunächst lose fluktuierende Richtigkeitsannahmen zu relativ konstanten Richtigkeitserwartungen zusammengestellt werden.
 
29
Wir können in diesem Kapitel Entscheidungsgremien nicht in ihrem ganzen empirischen Gehalt reflektieren und müssen daher eine größere Flughöhe einnehmen, was den Ausschluss diverser Aspekte zur Folge hat: z. B. die Wahl der Abstimmungsregeln, des Entscheidungsmodells, des Stimmverfahrens sowie der wirtschaftlich-prognostischen Kalkulation im Blick auf Kosten und Nutzen für Organisationen (vgl. Laux et al., 2018; Laux, 1979). Wir beschränken uns daher auf eine Perspektive der Funktionalität von Gremien für die Entscheidungsstruktur der Reform.
 
30
Die geradezu sprechende Körper-Metapher zählt wiederum zur klassischen Ausgangssemantik von Organisationen, die sich noch in Begriffen wie Korporation/Corporation erhalten hat, wie Alfred Kieser (1998, S. 59; vgl. Kieser, 2010) in einer Abhandlung historisch erinnert und dazu noch auf den wirklichkeitskonstitutiven Leistungsbeitrag solcher „Organisationskörper“ aufmerksam macht: „Bereits bei den Römern ist vom ,corpus rei publicae‘ die Rede, womit deutlich gemacht werden soll, daß sich Individuen wie Organe zu einem einzigen Körper vereinen sollen. Daraus entwickelten sich als Leitvorstellungen die Metaphern vom Staat als Organismus oder Organ, woraus schließlich die Körperschaft und die Organisation wurde, die Organe hat. Die Metapher schafft Sprache und ermöglicht dadurch Neukonstruktionen der Wirklichkeit.“ (Kieser, 1998, S. 59) Das Corporate Design aus der angelsächsischen Organisationswelt ist damit nichts anderes als die Körperform, in der man sich als Organisation sehen und – vor allem – von der Umwelt als attraktiv und wertgeschätzt beachtet wissen möchte.
 
31
Befehle als beschleunigte Entscheidungsmittel zählen naheliegend zur Formalstruktur und sind in Reinform militärisch und polizeilich angesiedelt (vgl. Kühl, 2020a, S. 23, 86, 88). Das heißt aber nicht, dass ihre Grundfunktion nicht auch (modifiziert) in ziviladministrativen und geschäftlichen Bereichen anzutreffen wäre. Disziplinarische Weisungen leisten ähnliche Abkürzungen und Bindungen; sie sind in der Regel nur mit höheren Elastizitäten im protokollarischen Ablauf und in der sonst strikten bzw. engen konditionalen Programmierung der Entscheidung versehen. Ganz nebenbei fehlt der Weisung oft der spezifische direktive Charakter eines Befehls, dem man typischerweise beifügt, dass man ,folgenden Befehl‘ erteile oder vorsorglich darauf hinweist, um was es sich handelt: ,Das ist ein Befehl!‘. Gremien hingegen haben üblicherweise keinen explizit imperativen Charakter, weisen eine eher großzügigere konditionale Programmierung auf (in der Regel: keine Regel ohne Ausnahme) und sind als längste Entscheidungswege überhaupt gerade nicht auf ,kurzen Prozess‘ aus.
 
32
Der (Peer-)Review-Gedanke findet auch in ganz anderen Zusammenhängen intensive Organisierung – z. B. in der Wissenschaft beim akademischen Begutachtungsverfahren von Forschungen und Studiendokumenten oder in der Medizin mit der berufsständischen Begutachtung. Grundsätzlich verbindet alle Reviewverfahren das Bemühen um Risiko- und Unsicherheitsbewältigung. Kollektive Mehraugen-Sichtungen sollen die Qualität der Arbeitsprodukte sichern, aber auch Schaden von der Organisation – verursacht durch Einzelne bzw. Teams, Arbeitseinheiten – abwenden. Auch termin- und verfahrensförmig findet dies Niederschlag; z. B. in Fachausschüssen, Standardisierungsgremien oder wissenschaftlichen Zirkeln. Forschungsseminare bzw. -kolloquien bspw., in deren Rahmen (Nachwuchs-)Wissenschaftler ihre Arbeitsvorhaben präsentieren und zur Diskussion stellen, bilden ein klassisches Reviewformat.
 
33
Wie schon vorangehend sind wörtliche Zitate der Befragten im Weiteren in kleinerer Schrift eingerückt hervorgehoben und werden aus Gründen der Anonymisierung mit keiner weiteren Datensignatur versehen. Auch werden Zitate wiederum durch eine Leerzeile abgegrenzt. Die jeweils thematisch gruppenweise aufgeführten Zitate stammen in der Regel von verschiedenen Personen.
 
34
Ein hoher Schätzwert der Fehlerprävention durch die Blicke ,vieler Augen‘ mag intuitiv einleuchten. Nähere Belege führen die Autoren gleichwohl nicht an, weshalb es bei einer erfahrungsgeleiteten Annahme bleibt. Nach der vorangehenden Diskussion von Sinn und Wirklichkeit in Organisationen ist das allerdings in diesem Kontext auch nur sekundär von Belang. Denn maßgeblich ist nicht, ob die Wissenschaft praktische Annahmen über Werte bzw. Zahlen validieren kann, sondern ob diese Annahmen eine entscheidungsleitende Rolle spielen und insofern zur Strukturierung der Organisation beitragen. Wissenschaftliche Wirklichkeit ist nicht zugleich organisatorische. Organisatorische Wirklichkeit ist, was die Organisation als solche anzunehmen bereit ist (vgl. Abschn. 3.​6).
 
35
Wie groß ein solcher Entscheidungskreis tatsächlich ausfallen sollte, mag nur mit einiger Mutmaßung bestimmt werden. Laux et al. (2018, S. 611 f.) kommen nach ihrem Blick durch die Forschung zu einer durchwachsenen Einschätzung, die gerade die Personalprämisse in der Gremienarbeit berührt: „Geht man davon aus, dass die (Opportunitäts-)Kosten eines Gremiums mit steigender Mitgliederzahl steigen, so ist Aufnahme weiterer Mitglieder nur dann sinnvoll, wenn sich die ,Qualität‘ der Entscheidungen entsprechend verbessert. Diese Bedingung wird aber im Allgemeinen schon bei kleineren Gremien gar nicht erfüllt sein. Vielmehr kann die Qualität z. B. deshalb sinken, weil die zusätzlichen Mitglieder wenig motiviert und/oder qualifiziert sind, sich gute Präferenzordnungen zu bilden und Abstimmungsergebnisse entsprechend verschlechtern.“ Wir können auch in diese Diskussion nicht tiefer einsteigen und müssen uns mit der Notiz begnügen, dass die quantitative Ausweitung von Gremien erwartbar keine automatische qualitative Steigerung zur Folge haben muss, eine etwaige Bemessung sich ohnehin primär nach Eindrücken der Organisation richtet und weniger nach einer von außen herangetragenen wissenschaftlichen Wertung.
 
36
Unter den Begriffen Heterarchie und laterale Führung (vgl. organisationstheoretisch Kühl, 2017b) werden Führungsstile und -konzepte subsumiert, die, vereinfacht gesagt, nicht den disziplinarischen Instanzenzug als maßgeblichen Bezugspunkt der Erwartungs- und Entscheidungsbildung akzentuieren, sondern gleichrangig-kooperative, aus den Aufgaben direkt begründete Team- und Kommunikationsstrukturen hervorbringen. Diese können aber – wie hier im Organisationsbeispiel der Fall – form- bzw. anlassbezogen in die allgemeinen Betriebsabläufe eingeflochten sein (z. B. bei Netzwerken, Projekten, innovatorischen Kooperationen etc.). Alternativ bilden sie vereinzelt auch die gesamte Organisationsform ab. Dies betrifft reine oder überwiegende Expertenorganisationen bzw. deren Professionen, die von vornherein mit ihrem formalen Rollenstatus relativ vergleichbar qualifiziert und positioniert sind.
 
37
Die Begriffe Re- und Umstrukturierung werden in organisatorischen Reformprozessen häufig verwendet. Dabei sind sie relativ allgemeinhaltig intendiert. In unserem Beispiel aber hilft die Theorie der Praxis. Denn Präzision erfahren die Begriffe im Umweg über das Thema gerade dieser Untersuchung: Gemeint sein muss natürlich die der Entscheidungsstruktur. Insofern erfassen Re- und Umstrukturierung sehr präzise den systemtheoretischen Gehalt dieser Untersuchung: In die bereits bestehende Struktur der Organisation wird zurückgegriffen, sie wird aus eigenen Mitteln und Möglichkeiten und unter Bezug auf die Umwelt anschlussfähig angepasst und weitergebildet.
 
38
Das Abstimmungsverfahren ist vergleichsweise simpel und risikoaversiv eingerichtet, was maßgeblich der neuen Einführung, der unterschwellig immer mitlaufenden Politisierung eines Veränderungsprozesses und schließlich auch dem unternehmenstypischen Charakter ausdrucksvoller ,Traditionsharmonie‘ geschuldet sein könnte.
 
39
Methodische Erläuterung zum weiteren Vorgehen: Diese nachfolgenden Abschnitte bilden die Synthese der direkten teilnehmenden Beobachtung, ergänzend durchgeführter Gespräche (die bereits im Vorkapitel einbezogen worden sind) und der Sichtung und Auswertung der verfügbaren bzw. zur Verfügung gestellten betrieblichen Dokumente. Im Einzelnen näher nachweisbedürftige Ausführungen werden entsprechend referenziert. Es soll an dieser Stelle die Konzedenz gemacht werden, dass, wie auch schon im Fall der Organisationsoptiken in Abschn. 4.1.3, keine durchgehend trennscharfe Unterscheidung der gebildeten Kategorien gewährleistet werden kann. Dies betrifft insbesondere auch das Interviewmaterial, das mit jeweils verschiedenen Gründen unterschiedlich zugewiesen werden könnte. In einer sich auf Beobachtungen stützenden Forschung sind solche Überlappungen aber kaum zu meiden bzw. nur durch etwaige komplizierte oder künstliche Rechtfertigungen, die hier gar nicht erst angestrengt werden sollen. Es geht darum, maßgebliche Beobachtungen eines solchen besonderen Entscheidungsverfahrens herauszuarbeiten.
 
40
Man könnte auch sagen, dass diesem Kleinarbeiten einige Wirkungen im eher ,therapeutischen‘ Bereich zugrunde liegen. Und es ist dann die Aufgabe der Führung solcher Gremien, diese ,Therapien‘, will man den Erfolg nicht riskieren, als solche nicht zum Thema zu machen. Unausgesprochen wird begriffen oder erahnt, weshalb man auch zusammenkommt und stundenlang so viel zu besprechen hat: dass man sich gegenseitig dazu bringen muss, übereinzustimmen. Den Ansatz, wonach Maßnahmen der tiefergehenden Besprechung von Problemen in Organisationen dazu dienen können, Konfliktpotenziale zu isolieren und sie nicht auf die gesamte Entscheidungsbildung durchschlagen zu lassen, hat Stefan Kühl (2007b) zur Beratung durch Coaching und Supervision erarbeitet. Die Argumentation ist insofern für diese Untersuchung relevant, als es um eine Isolation von Konflikt(-Potenzial) „in speziellen Interaktionszusammenhängen“ (Kühl, 2007b, S. 227; kursiv MS) geht. Es kommt hier auf Einhegungen und Einschlüsse an, wie sie gerade für Gremienformate recht charakteristisch gelten.
 
41
Das Fehlen echter Fraktionierung könnte als ungeschriebenes Merkmal eher wirtschaftlicher Korporationen angesehen werden – und zwar in Abgrenzung zu politisch-parlamentarischen, die als Ausschüsse und gesetzesvorbereitende Gremien gerade so vorstrukturiert sind, dass möglichst verschiedene Lager durchaus polarisierende Meinungsbilder entwickeln und abschließend zu einem vermittelten Ergebnis gelangen. Eine Mischkonstruktion findet sich bspw. in kirchlichen Synodalvertretungen, Fachkonferenzen, Proporz-Gruppengremien, Beiräten, Ethikkommissionen, Schulvorständen, Hochschul- und Rundfunkräten. In diesen Boards werden Vertretungsanteile jeweiliger Gruppen vorangehend festgelegt, wodurch bei Aushandlungen gerade im informalen Bereich und schließlich in der Entscheidungsbildung auch Gruppen mit geringerer Anzahl an vertretenen Stimmen sich als das Zünglein an der Waage herausstellen können. Anders gesagt sind politische Gremien und Interessenvertretungen von vornherein teilweise konfliktprogrammiert, während wirtschaftliche Gremien innerhalb von Betrieben, die nicht (!) als echte Mitbestimmungs-, Aktionärs-, oder Führungsorgane eingerichtet wurden, auf ein eher informales und halbformales Ausspielen der Problem- und Konfliktbearbeitung angewiesen sind.
 
42
Neuabdruck; der Text, in englischer Sprache, ist unter dem Titel „Worker Participation in Decision-making“ bereits 1966 entstanden.
 
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Veränderungen der Mitgliedschaft durch Dopplung/Personalunion oder Assoziationen mit anderen Mitgliedschaftsverhältnissen können das Konzept der Mitgliedschaft generell irritieren bzw. einige Legitimations- und Autorisierungsprobleme nach sich ziehen. Ich habe dieses Argument schon an anderer Stelle geführt – in meinem gemeinsam mit Finn-Rasmus Bull (Schütz & Bull 2017) geschriebenen Buch über die Reformanstrengungen der Europäischen Union im Zuge des Brexits, in dem wir die Konstruktion der EU als einer Metaorganisation betrachten und die Ausbildung von „Schattenmitgliedschaften“ der Länder und ihrer autorisierten VertreterInnen diskutieren.
 
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Hierzu drängen sich Anschlussmetaphern auf. Etwa die des Gremiums als einer aufwendigen Maschinerie in einer Großbaustelle, mit der, Stück für Stück und Schicht für Schicht, massive Erdarbeiten und Transportabläufe bewältigt werden müssen. Eine derart zeitsensible Beobachtung kann entsprechend leicht mit eher vertrauten, eher gegenständlichen logistisch-materialen Assoziationen verbunden sein, wie die Formulierung ,Schieben von einem Monat in den nächsten‘ einprägsam andeutet.
 
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Deutlich hervorgehoben wird dies auch in weiteren Gesprächen über das Gremium. So wird betont, dass es wichtig sei, sich diese Zeit zu nehmen, um Fragen von grundsätzlicher Bedeutung gänzlich aus dem Alltagsbetrieb entkoppelt diskutieren zu können (es findet zwar alles ,irgendwie ganz normal‘ inmitten des laufenden Betriebs statt, aber eben doch ,ganz anders‘ als bekannt – eine Zäsur im Gewöhnlichen). Mit dieser ausgedehnten Randzeit können natürlich auch gewisse Erinnerungen entwickelt werden. Das Ereignis bleibt für Mitglieder außergewöhnlich, gerade da es diese Form ansonsten nicht und erst recht nicht in dieser Wiederholung gibt. Es ist also wichtig zu begreifen, dass durch diese Rahmung bzw. Dehnung das, was man entscheidet, eine besondere Prägnanz erfährt, gewissermaßen mit Nebenbedeutungen aufgeladen wird. Die Organisation akzentuiert so ihre ganz besonders erinnerbaren und erinnerlichen Entscheidungen – und dies eingekleidet durch ein insgesamt zeitbetontes Reformprojekt, das gerade Kontinuität und Wandel der Organisation zum Gegenstand hat. Sinn für zeitliche Sensibilität wird damit also gleich mehrfach geschärft. Zu Vergangenheitsbewältigung, Geschichtsbetrachtung und Gedächtnis/Gedenken speziell in Organisationen siehe Leonhard et al. (2016).
 
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Es ist denkbar, dass mit der Länge der Sitzungszeit die Neigung zum Widerstand und Problematisieren allmählich generell abnimmt und damit Zustimmung regelrecht ,herbeigesessen‘ werden kann. Was angenommen werden darf, ist, dass mit der Länge und in Richtung der Abendstunden eine gewisse Auszehrung eintritt. Allerdings kann dies auch bedeuten, dass die Entscheidungsqualität nicht unbedingt steigt, da physische Beanspruchungen die Konzentration trüben und eine verkürzte Aufmerksamkeitsspanne zur Folge haben können.
 
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Es soll wiederholt werden: Ein Firmengebäude ist noch kein Organisationssystem. Allerdings kann es vorkommen, dass die Untersysteme (Fachabteilungen) eines Organisationssystems hier und da mit der räumlichen Binnendifferenzierung weitgehend übereinstimmen. Wenn man jenen Trakt des Hauses erreicht hat, dessen Tür sich mit der eigenen Chipkarte nicht mehr öffnen lässt, spätestens dann weiß man: Manche Systeme müssen leider draußen bleiben!
 
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Vielleicht ist die Anmerkung erlaubt – und ihr Anliegen sehr vertraut –, dass vielerorts das Raummanagement inzwischen unter einem harten Regiment steht. Wer Räume beansprucht, muss Fristen einhalten, Formulare ausfüllen, Ausgabe von Schlüsseln beachten usw. Gerade die Möglichkeit kurzfristigen Umdisponierens erscheint mit Größe der Organisation mitnichten einfach. Die Sicherung der ,besten‘ Räume gerät mitunter zum Kampf um die Fleischtöpfe. Ganz privilegierte Etagen ziehen nahe befindliche Konferenzräume dabei unter ein eigenes Protektorat. Man beansprucht dann quasi territorial, dass dieser Raum ,unser Raum‘ ist.
 
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Das Motto wurde abgewandelt.
 
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Grundsätzlicher betrachtet ist ohnehin zweifelhaft, dass es Organisationen noch gelänge, ihre konzeptionellen Bezüge immer selbst zu begreifen bzw. zuzuordnen. Der normativ-programmatische Einfluss aus Wirtschaft und Beratung ist heute so vielstimmig und fortlaufend zu beobachten, dass ein genaues Auseinanderhalten der Methoden und Konzepte im Fortgang des Organisierens kaum möglich ist. In der Regel neigen programmatische Stellen einer Organisation daher zum Eklektizismus, sprich sie vermengen Impulse und Stoffe aus Führungskonzepten und Steuerungsphilosophien zu einer betriebsförmigen Eindrucksmasse, aus der dann entsprechende Modellierungen des praktischen Managements vor Ort erwachsen. Zu multiparadigmatischer Prägung speziell im stets modegetriebenen Personalwesen und im Rahmen personalintensiver Aufgaben siehe Breisig (2005), S. 93–96.
 
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Natürlich kennen auch Organisationen das ungefilterte Durchbrechen der Psyche in Extremfällen. Ausfälligkeiten, Beschädigung, Übergriffigkeit etc. können als Devianzen verbucht werden, was den Vorteil mit sich bringt, die damit mögliche Vorgeschichte (Provokationen, Zuspitzungen, Schikane, Mobbing etc.) davon zu entkoppeln. Personen können nur in gewissen Grenzen ihren formalen Rollenerwartungen entsprechen. Menschliche Dispositionen können von der Organisation aber schwerlich antizipiert werden, da ,ganze Personen‘ – nochmal sei es gesagt – für Organisationen eine Black Box darstellen. Ich bevorzuge die Formulierung des ,Aufstrahlens der Umwelt‘ in der Organisation für all jene Erscheinungsformen des Psychischen in sozialen Systemen, die kurzfristig und ungehemmt sich ereignen, meistenteils aber schnell wieder verfliegen werden. Im Übrigen können Organisationen reichlich Kreativität wiederum selbst hervorbringen, psychische Manifestierungen durch mehr oder minder auf Organisation zurechenbare Taktiken zu entwaffnen. Typisch zeigt sich dies im Überspielen misslicher Momente oder Fehlgriffe in Interaktionen und Äußerungen. Die Mitglieder einer Organisation können sich unausgesprochen darauf verstehen, gegenseitige Provokationen auch zu ignorieren und sich allenfalls durch Klatsch, Tratsch und Mikroaggressionen, kaum wahrnehmbar, Luft zu verschaffen. Diesbezüglich nicht zufällig hat das Arbeitsrecht den Begriff des Betriebsfriedens entwickelt – als Grundsatz, umweltlich erwartbare Exzesse aus der Organisation fernzuhalten und bei Bruch dieser Bestimmung die Mitgliedschaft infrage stellen zu können.
 
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„Indifferenzzonen“ bezeichnen die „nicht vorher spezifizierten Bereiche, in denen von Mitgliedern Folgebereitschaft erwartet wird“; sie beinhalten jene Ordnungen, „in denen sich die Mitglieder gegenüber der Organisation ‚indifferent‘ zu verhalten haben“ (Kühl, 2011, S. 35, mit Bezug auf Barnard, 1938, S. 168 ff.), es also zu einer „Pauschalunterwerfung für noch unbestimmte Erwartungen“ (Luhmann, 1971, S. 219) kommt.
 
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Diese Stelle bietet sich dazu an, noch einmal sehr grundlegend das Thema der Realitätsbildung in Organisationen in Erinnerung zu rufen und zu schärfen. Auch die Realitätsbildung der Reform ist keine primäre Frage der sog. Authentizität. Es fällt nicht bereits ins Gewicht, was gesagt und gemeint wird, sondern welche Folgen daraus für die Anschlussfähigkeit des Entscheidens im System antizipiert werden bzw. hervorgehen können. Ich möchte dies an einem ganz anderen Beispiel verdeutlichen, in dem Authentizität zunächst gefordert und dann dekonstruiert wird. In der politischen Talkshow „Phoenix Runde“ vom 01.12.2020 (vgl. Phoenix, 2020) ging es um die Klärung der Motivlage des AfD-Vorsitzenden Jörg Meuthen anlässlich einer zuvor gehaltenen Parteitagsrede. Die anwesende Journalistin Ann-Katrin Müller wertete die Bemühungen des Vorsitzenden, sich rhetorisch von einem rechten Lager abzugrenzen, als unauthentisch. Der ebenfalls anwesende Historiker Andreas Rödder erklärte hingegen, Aufrichtigkeit sei bei der Rede gar nicht entscheidend. Denn Politik sei das, was auf der Bühne aufgeführt wird: „Und egal, ob das jetzt ganz ernst und aufrichtig gemeint war, das was er gesagt hat, ist jetzt so in der Welt der Politik und auf der politischen Bühne. Wir reden drüber, alle reden drüber. Das ist eben auch Politik.“
 
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Heintz befasst sich insbesondere mit politischen Konferenzen und Themengipfeln. Hier gilt die These der performativen Anschauung in selbstredend herausragender Weise, nämlich vermittelt über Massenmedien, die Übertragungen, Berichte und Kommentare zum Geschehen organisieren (wobei dadurch nicht das Geschehen einfach übermittelt wird, sondern als eine mediale Realität, eine Verfertigung ausgewählter Szenen, Bilder und Statements rekonstruiert und dargeboten, wie Luhmanns Medientheorie zu zeigen sucht; Luhmann, 1995). Ich modifiziere Heintz’ Thesen hier für ein Geschehen in einer Wirtschaftsorganisation ohne nennenswerte Außendarstellung für Massenpublikum. Die hier erfolgte Veranschaulichung der Beschlüsse bezieht sich auf den Weg der Projektkommunikation. Außerdem sind alle Mitglieder des Gremiums ManagerInnen der nachgeordneten Abteilungen. Und das Geschehen im Reviewgremium ist, angesichts der überschaubaren Größe der Organisation, über welche Kanäle es auch immer vermittelt wird, vor der Organisation nicht zu verbergen.
 
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Es sollte noch erwähnt werden, dass Heintz ihre Theorie grundsätzlich (auch) organisationssoziologisch rahmt; dadurch nämlich, dass freilich auch für Spitzengremien der internationalen Bühne eine Reihe elementarer Organisationsmerkmale auszumachen sind und speziell die Argumentation zur Verfahrensförmigkeit politischer Entscheidungsgremien (Heintz hat sie von Luhmann, 2013b – „Legitimation durch Verfahren“ – übernommen und modifiziert) im Ursprung am Beispiel administrativer, juristischer und politischer Organisationen durchgespielt wurde. Was ich hier vorschlage, ist, den politisch ausgearbeiteten Ansatz wiederum auf einen breiteren organisatorisch angelegten Kontext zurückzubinden.
 
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Der bei Heintz an politischen Zusammenhängen illustrierte Begriff der Verstrickung erscheint mir für unseren Kontext der Organisationsreform ausgesprochen plastisch und instruktiv. Schließlich geht es darum, diese Verstrickung gerade nicht als von langer Hand intendierte oder kontrollierte Praxis zu begreifen, stattdessen automatisiert sie sich unter den Umständen eines wenig geübten Verfahrens gewissermaßen selbst. Im Produzieren von Organisation (und sei es ihrer Reform) wird hier auch das Verfahren mitproduziert. Das Prinzip ,Mitgefangen, mitgehangen‘ entfaltet seine Wirkung gerade dadurch, dass – obwohl zentral versammelt – den Beteiligten im Gremium keine direkte, an einem bestimmten Standort konzentrierte Macht über das ganze Geschehen gegeben ist, sondern, durch Herantasten, Vereinbaren und Mitziehen sie sich gegenseitig in Erwartungsabhängigkeiten bringen und die Erwartungslasten hinsichtlich ihrer Rolle im Lauf des Verfahrens auch weiter stabilisieren.
 
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Eine eher alltagsnahe Beschreibung könnte hier lauten: ,mürbe machen‘. Doch soll mit der Einschränkung qualifizierter Nachgiebigkeit ja die Bedingtheit professioneller Rahmenaspekte unterstrichen werden. Vielleicht könnte man sagen, dass die Beteiligten einander ,produktiv/professionell mürbe machen‘.
 
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Planungslogisch meint hier: Aus der originären Strukturlogik eines organisatorischen Aufbaus durch Programme und Kommunikationswege hervorgehend. Man muss erstens sowohl wissen, für welche Zwecke Personal gesucht wird (Qualifikation) als auch zweitens eine Idee davon haben, wie die zweckvollen Arbeitsaktivitäten verknüpft sind und beaufsichtigt werden (Koordination). In diesem Sinne ist die Arbeitsstelle dann das Produkt aus dem ersten und dem zweiten Punkt der Planung.
 
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Unter Organisationstypen werden in der Forschung Organisationen mit jeweils charakteristischen Merkmalsbestimmungen gefasst, die sich insbesondere nach Zwecken, Mitgliedschaften und hierarchischen Aspekten unterscheiden und anhand verschiedener weiterer Strukturmerkmale beobachtet werden können; etwa Unternehmen, Banken, Parteien, Militär, Krankenhaus, Schule usw. Siehe für einen großen Überblick Apelt und Tacke (2012). Für eine personalanalytische Erforschung sind Typen interessant, da mit der organisatorischen Strukturunterscheidung vielmals auch größere professionale Unterschiede einhergehen. Die, wenn man so sagen darf, personalen Liegenschaften eines Pornoproduzenten sind wahrscheinlich regelmäßig anderer Natur als jene der geistlichen Berufe oder der medizinischen Dienste.
 
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Mit dieser Herangehensweise kommt womöglich auch meine eigene frühere Tätigkeit als Mitarbeiter in der Personalauswahl und Personalentwicklung zum Ausdruck. Ich gehe davon aus, dass die personale Eignung und Rolle in Organisationen sich als Zusammenspiel sowohl formal nachgewiesener als auch in der Persönlichkeit angelegter und nur indirekt abrufbarer Faktoren darstellt. Analytische Zugriffe sind im Blick auf Fachwissen und Können im engeren Sinne relativ leicht zu bewerkstelligen, während sich Zugriffe auf die tieferliegende Persönlichkeitsdisposition (Einstellungen, Basisannahmen, Wertvorstellungen) nur vermittelt und anhand jeweiliger Repräsentationen im Leistungsverhalten viel schwieriger und ungenauer realisieren lassen (vgl. personalwirtschaftlich und eignungsdiagnostisch Huf, 2020, S. 42–54).
 
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Die weiteren Zitate werden wie im vorangehenden Kapitel erläutert dargestellt.
 
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Diese Aussagen sind ursprünglich im Kontext von Schulreformen bezüglich der pädagogischen Profession getroffen worden. Mir erscheint der Hinweis auf Handlungsfähigkeit und Betriebstemperatur sehr prägnant, weil dies Umwegseffekte und Nebennutzen von Reformen zum Ausdruck bringt. Nicht intendierte Effekte können sich ja vorteilhaft auf die Fähigkeit auswirken, Reformen z. B. mit Projektmethoden durchzuführen und sie in ihrem Aktivierungs- und Reflexionspotenzial zu verstehen und zweckvoll zu gestalten. Die Organisation wird in die Situation gebracht, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Dabei erlangt sie womöglich auch ein „bessere[s] Wissen über sich selbst“ (Jung, 2008, S. 230).
 
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Fast etwas altmodisch könnte man hier auch von Kybernetik als „Steuermannskunst“, aus griech. „kybernētikḗ téchnē“ (Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion, 1997a, S. 399, Sp. b), sprechen. Der Begriff ist ursprünglich für Regelleitung und Steuerung von Systemen in Gebrauch gewesen, inzwischen aber viel eingängiger durch informatikwissenschaftliche Entwicklungen belegt. In der evangelischen Kirche, die für ihre ausgeprägte lokale Gliederung bekannt ist, wird der Begriff der Kybernetik dafür genutzt, die „aufsichtliche Funktion zur Steuerung der Kirche“ (Löwe, 2020, S. 244) zu beschreiben. Vielleicht ist die Orientierungs- und Mannschaftsassoziation, die der Lehre von der Steuerungskunst innewohnt – zwischen Nautik und Seelenheil – auch für den Bereich des Projektmanagements gar nicht so weit hergeholt; heißt es doch bekanntlich, dass man in Projekten und auf hoher See sich in Gottes Hand befindet, oder so ähnlich. Von Hänsel und Gretel, Hexen und Öfen war ja bereits an anderer Stelle zu erfahren.
 
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Einordnungen dieser Art haben zu beachten, die Personen weder in ihren Kompetenzen verkürzt darzustellen noch sie psychologisierend oder trivialisierend zu präsentieren. Dies soll hier explizit vermieden werden. Es geht mir darum, die in den Gesprächen gewonnenen Auskünfte und Eindrücke gegenüberzustellen, um ein Bild von der nuancierten Erwartungsbildung innerhalb eines Leitungsorgans zu gewinnen und damit eine gegenstandsnahe Beschreibung im Hinblick auf das Projekt erreichen zu können. Damit wird schließlich an jener Realität der Reform selbst ein Stück weit ,mitgeschrieben‘, die Gegenstand dieses Buches ist. Wichtig erscheint mir, diesen Prozess zu reflektieren, statt ihn pauschal für ungeeignet zu halten. Ich beschränke mich daher auch auf die knappe Wiedergabe einiger persönlicher Eindrücke, die ich von meinen GesprächsteilnehmerInnen in teilweise mehrstündigen bzw. wiederholten Interviews und Nachbesprechungen gewonnen habe.
 
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Damit wird, in den engen Grenzen einer Einzelforschung, immerhin ein kleiner Beitrag zur Erschließung der Sozialität von Organisationsspitzen geleistet. Kaube (2016, S. 112) notiert dahingehend ein Defizit an Forschung: „Die Ethnographie der Chefetagen, wenn es denn Etagen sind, ist kaum entwickelt. Wir haben keine Soziologie der Vorstandssitzung, keine des Krisentelefonats und keine des Vorzimmers.“
 
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Abweichend von der bisherigen Einarbeitung der Interviewsequenzen sind die nachfolgenden gebündelten Einrückungen jeweils nur einer Person zuzuordnen, nämlich der in dem jeweiligen Abschnitt dargestellten.
 
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Auch die vorliegende Arbeit kann je nach Erfahrung und fachlicher Ausbildung der Mitglieder und abhängig von psychologischen, wirtschaftswissenschaftlichen oder technischen Denkmodellen, eher auf Zuspruch oder eher auf Skepsis stoßen; je nachdem, ob der Deutungshorizont ein – und dieser wird maßgeblich über Personen realisiert – eher maschinell-rationalistisches oder eher konstruktivistisch-systemisches Vorverständnis beinhaltet.
 
Metadata
Title
Organisatorische Veränderung als Entscheidungsprozess
Author
Marcel Schütz
Copyright Year
2022
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-35734-4_4