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25-07-2022 | Personalmanagement | Schwerpunkt | Article

Der Wessi ist immer der Chef

Author: Michaela Paefgen-Laß

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Mehr als dreißig Jahre nach der Wende sind Ostdeutsche in Spitzenpositionen noch immer unterrepräsentiert und geben Westdeutsche auf dem Territorium der ehemaligen DDR den Ton an. Selbstmarginalisierung hier und Elitenetzwerke dort sind maßgebliche Ursachen.

Der Westen dominiert die wirtschaftliche, politische und intellektuelle Elite im Osten. Daran ändert sich kaum etwas, auch wenn es zwischendurch einmal kurz danach aussah. Die aktuelle Erhebung "Der lange Weg nach oben – wie es Ostdeutsche in die Eliten schaffen" der Universität Leipzig und des MDR zeigt, dass nach wie vor Menschen westdeutscher Herkunft die Top-Jobs in allen genannten Bereichen unter sich aufteilen. Der Zustand scheint sich verfestigt zu haben, zumal ostdeutsche Spitzenkräfte sich nach wie vor mit Positionen in zweiter Reihe zufriedengeben. Und auch daran scheint sich nichts zu ändern: Die Karrieren derjenigen, die es im Osten bis zu Spitze schaffen, beginnen durch Studium und erste Jobs im Westen oder Berlin.

Ostdeutsche Führungskräfte sind Ausnahme

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Personalentwicklung, Coaching und Mentoring

Personalentwicklung (PE) umfasst die Summe aller Aktivitäten, die auf die Bedarfe und Bedürfnisse der Organisation abgestimmte Aus- und Weiterbildung des Personals zum Ziel haben.

Menschen mit Ostbiografien (in der DDR geboren oder nach der Wende im Osten sozialisiert) stellen in den ostdeutschen Bundesländern einen Bevölkerungsanteil von über 80 Prozent. Der Anteil der Menschen mit Westbiografien beträgt im Osten gerade einmal 13 Prozent. Dennoch belegen Ostdeutsche in den fünf Bundesländern über alle Bereiche hinweg nicht mehr als 26 Prozent der Spitzenpositionen. Das sind zwar drei Prozent mehr als noch im Jahr 2016. Die Top-Jobs in einzelnen Segmenten wie den Landesregierungen, den großen Unternehmen und den Medien werden allerdings von Westdeutschen besetzt. Diese Zahlen seit 2016 auffallend rückläufig.

Anteil der Ostdeutschen an der Elite in den Ost-Bundesländern im Vergleich von 2016 zu 2021/22:

  • an den obersten Gerichten: von 13 auf 22 Prozent
  • an der Spitze der 23 ostdeutschen Hochschulen: stagniert auf 17 Prozent (vier Personen)
  • unter den Kanzlern an ostdeutschen Hochschulen: von 50 auf 53 Prozent
  • in den Forschungsinstituten: von 15 auf 20 Prozent
  • an Ministerposten in den Landesregierungen: von 70 auf 60 Prozent
  • unter den Staatssekretären: stetiger Anstieg auf 52 Prozent
  • an der Spitze der 100 größten Unternehmen Ostdeutschlands: von 25 auf 20 Prozent
  • als stellvertretende Führungskraft: von 45 auf 27 Prozent
  • in den Chefredaktionen der großen Regionalzeitungen: von 62 auf 43 Prozent

Für die schnelle Karriere ab in den Osten

Am Anfang waren es junge, im Westen aufgewachsene und ausgebildete Juristen, Betriebswirtschaftler und Ingenieure, die nach der Wende in den Osten gerufen wurden, um dort in den vorwiegend an Westdeutsche verkauften volkseigenen Betrieben Umbauarbeit zu leisten. Gefragt waren neben der akademischen Ausbildung ein gewisser Pioniergeist. Von den Personaldirektoren der Treuhand damals mit den Schlagworten "wagemutig, risikobereit und karrierebewusst" charakterisiert. 

Der Auftrag an die junge West-Elite lautete: In zehn Jahren die "Umgestaltung einer verstaatlichten, zentralistisch gelenkten Planwirtschaft in eine Soziale Marktwirtschaft westdeutscher Prägung" (Seite 207) gestalten. Um das voranzutreiben, appellierten Walter Bellwied und Günter A. Koch von der Treuhand im Jahr 1992 an den Ehrgeiz ihrer westdeutschen Adressaten, wie in "Die neuen Bundesländer" einem Beitrag für Berufsanfänger nachzulesen ist. Dort heißt es: "Sie gelangen heute bereits in Positionen, die sie in diesem Alter in Westdeutschland nie erreichen würden: Geschäftsführer und Vorstände im Alter von 30 Jahren sind in Ostunternehmen keine Seltenheit mehr." (Seite 209) 

Die jungen Spitzenkräfte von damals sind nun knapp sechzig Jahre alt, stehen kurz vor dem Renteneintritt und noch immer besetzen sie die Top-Positionen im Osten. Im Westen gibt es ebenfalls nichts Neues: Den gesamtdeutschen Eliten fehlen nach wie vor Ostdeutsche. Deren Bevölkerungsanteil liegt bei 17 Prozent, ihr Anteil an der bundesdeutschen Top-Elite ist seit 2016 von knapp zwei auf dreieinhalb Prozent gestiegen. In den Vorständen der Dax-Konzerne ist die Zahl der Ostdeutschen von drei auf zwei gefallen. Nur eine der 100 größten Hochschulen wird von einem Menschen aus Ostdeutschland geleitet. Und in der Politik ist die Marke von 17 Prozent für die Repräsentation Ostdeutscher mit zwei Ministerinnen mit Ostbiografie (Steffi Lemcke und Klara Geywitz) ebenfalls verfehlt – sie beträgt zwölf Prozent.

Ossis begnügen sich mit Stellvertreterposition

Warum eine ostdeutsche Herkunft auch heute noch die Karriere ausbremst, können die an der Studie beteiligten Experten nur spekulativ erklären. Es scheint, als hätten Ostdeutsche wie selbstverständlich Plätze in der zweiten Reihe eingenommen. Trifft die Treuhand eine Mitschuld? Fehlten der DDR nicht sowieso die Akademiker und damit bis heute in den Elternhäusern die Rollenvorbilder für Führungsposten? Verhindert das Ähnlichkeitsprinzip, dass Westchefs ostdeutsche Nachfolger fördern? Oder sind Ostdeutsche bei der Karriere einfach nur weniger risikofreudig als Westdeutsche? Alles in allem scheint es sich um unterschiedliche Mentalitäten und unbewusste Vorurteile zu drehen?

Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie an der Beliner Humbold Universität vermisst in der MDR-Dokumention "Der lange Weg nach Oben" bei ostdeutschen Bewerbern um Spitzenjobs den "Stallgeruch der Macht". Westdeutsche Eliten seien nach der Wende mit eigenem Personal in den Osten gekommen. Ostdeutsche hätten dagegen das Streben in die Elite nicht gelernt. Aber Eliten produzieren Eliten in eigenen Netzwerken nach dem Ähnlichkeitsprinzip. Deshalb brauche es im Osten eine Netzwerkbildung, angeleitet von ostdeutschen Mentoren, die dem Ähnlichkeitsprinzip folgend Ostdeutsche in ihre Führungsgruppen wählen.

Bei Stellenbesetzungen gibt es ein Ossi-Vorurteil

Springer-Autor Raj Kollmorgen schreibt über die Repräsentationsprobleme und die Marginalisierung der Ostdeutschen in der Eliterekrutierung: "Grundsätzlich positionierte der Netzwerkcharakter von Eliten Ostdeutsche aufgrund der Beitrittslogik zunächst außerhalb der etablierten Machtnetzwerke. Weder konnten sie – gerade in den ersten Jahren – herkunftsseitig oder bildungsbiographisch in die Netzwerke hineingewachsen sein, noch verfügten sie als markierte Außenseiter über jene Machtpotenziale, die es braucht, um angesprochen und auf Spitzenpositionen gehievt zu werden. Die Außenseiterposition zeigt dabei eine eigenlogische Tendenz der Verlängerung und Verstärkung." (Seite 38)

"Unbewusste Vorurteile sind Verzerrungen, die durch Erfahrungen, Wertehaltung usw. auf die Wahrnehmung und folglich auf Entscheidungen wirken", schreiben die Springer-Autorinnen Eithne Knappitsch und Sabine Caliskan über das Management von unbewussten Vorurteilen im HRM (Seite 208). Die Unconcious Bias genannten Verzerrungen sind verantwortlich für unsere Neigung zu Stereotypen, Manifestierungen und Menschenbevorzugungen. Wenn die Treuhand 1992 bei ihren Rekrutierungsversuchen von jungen Westdeutschen also auf "Defizite auf der Verhaltensebene" (Seite 219) ostdeutscher Mitarbeiter hingewiesen hat, können sich die daraus entstandenen Vorurteile bis heute verfestigt haben. Im ostdeutschen Verständnis hat sich der Elitebegriff durch Geschichte und Erziehung als "Feindbild" und "über die Köpfe hinweg bestimmen" verankert, bestätigen die in der MDR-Doku interviewten Gesprächspartner. Sie alle stellen eine Selbstmarginalisierung Ostdeutscher vor allem in unsicheren Zeiten fest. 

Vorbehalte bei Personalentscheidungen eindämmen

Vollständig eliminieren lassen sich derartig einprogrammierte Vorurteile nach Meinung der Springer-Autorinnen nicht. Führungskräfte etwa sind vor allem dann von ihnen betroffen, wenn sie von sich selbst behaupten, besonders objektiv entscheiden zu können. Unbewusste Vorurteile, so die Annahme, helfen Menschen, ihre Umwelt zu kategorisieren und übersichtlicher zu gestalten. Das vermittelt Halt und Sicherheit. Im Organisationskontext allerdings verhindern sie Diversität im Ganzen, Empowerment des Einzelnen und schaffen Raum für Diskriminierungen aller Art. Geht es um Personalentscheidungsprozesse und Empfehlungen bei der Stellenbesetzung, raten die Autorinnen daher zur Beantwortung der folgenden Fragen (Seite 226):

  1. Hat die Person oder das Team, das eine Empfehlung gibt, eigene Interessen zu schützen?
  2. Ist hier womöglich ein "Affinity" oder "Similarity Bias" (Ähnlichkeit mit der eigenen Person) in ihrer Präferenz involviert?
  3. Ist Gruppendenken involviert? Sind alle rasch einer Meinung?
  4. Basiert die Empfehlung vielleicht auf der Grundlage eines vergangenen oder kürzlich stattgefundenen Erfolges? (Halo-, Nikolaus- oder Lorbeer-Effekt)
  5. Wurden Alternativen in Betracht gezogen und wurden ausreichende Informationen bereitgestellt? (Bestätigungs-Bias)
  6. Wird die Empfehlung aufgrund der Person, die diese Empfehlung ausgesprochen hat, ernster genommen? (Endorsement Effect/Hierarchie-Effekt)

Es braucht Mechanismen, mit denen sich die Unconscious Bias aushebeln lassen. Dabei helfen die Neubewertung von gemachten Erfahrungen oder Erlebnissen, Sensibilisierungsmaßnahmen, Schulungen und schließlich die Umprogrammierung der Vorurteile. Es liegt in der Verantwortung von Chefs, dass aus regionalen Wurzeln und sozialen Milieus generierten Vorurteilen die Macht genommen wird, weiterhin über Top oder Flop von Karrieren richten zu dürfen.

Übrigens: Springer-Autor Kollmorgen glaubt nicht daran, dass sich durch Maßnahmen wie Quotenregelungen die ostdeutsche Elite neu ordnen ließe. Politisch seien Quoten immer weniger durchsetzbar und lieferten außerdem die Geförderten der positiven Diskrimierung und dem generellen Quotierungsmakel aus (Seite 40). Die negative Markierung des Osten und seine Deutung als dem Westen gegenüber inferior, wird laut Kollmorgen durch Quoten verstärkt. "Insofern brauchen wir (weiter) eine Transformation dieser Diskurse, eine Problematisierung des Problems Ostdeutschland und der Ostdeutschen, welche die regionale Selbstentwicklung ebenso stärkt wie das regionale und lokale Selbstbewusstsein – ohne die Vielfalt und also Differenzierung in Ost- und Westdeutschland zu ignorieren." (Seite 41)

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