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2006 | OriginalPaper | Chapter

Schlußbetrachtung

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Die Untersuchung der Beteiligungsrechte und Gestaltungsmöglichkeiten in kirchlichen und diakonischen Dienststellen und Einrichtungen zeigt mit dem Blick auf die Praxis der betrieblichen Sozialpartnerschaft ein breites Spektrum bedeutsamer Sachverhalte zur Kennzeichnung der betrieblichen Mitbestimmung. In ihrer Gesamtheit betrachtet, machen die erzielten Untersuchungsergebnisse zugleich deutlich, dass die Beteiligungspraxis der Mitarbeitervertretungen in einem unterschiedlich ausgeprägten Spannungsverhältnis zum kirchlichen Auftrag steht. Dies gilt auch für das ambivalent wahrgenommene normative Postulat der biblisch und rechtsethisch begründeten Dienstgemeinschaft. Es sind darin die Kernaufgaben, die hierfür vorgegebenen Rahmenbestimmungen und die für das MAV-Alltagsgeschäft notwendigen Handlungskompetenzen erfasst. Die aus den Erst- und Zweitbefragungen der Mitarbeitervertretungen und der Dienststellenleitungen gewonnenen Ergebnisse können insgesamt betrachtet als repräsentativ angesehen werden. Aus der dargestellten Analyse und der Auseinandersetzung mit den Erhebungsbefunden ergeben sich resümierend folgende Thesen:

1.

Im Rahmen des verfassungsrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrechts hat die Kirche und ihre Diakonie jahrzehntelang der Regelung von Arbeitsbedingungen den Vorzug gegeben, in dem der Erste Weg vorherrschend aber biblisch nicht unbedingt begründet war. Erst durch den angewachsenen Personalbedarf für die enorme Ausweitung diakonischer Aufgaben sahen sich die kirchlichen und diakonischen Arbeitgeber im Kontext gesellschaftlicher Demokratisierungsprozesse in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gezwungen, dem Mitbestimmungsgedanken in den kirchlichen Arbeitsfeldern Raum zu geben. Im Bereich der Evangelischen Landeskirche in Württemberg wurde die Notwendigkeit einer entsprechenden Regelung aus sozialer Verantwortung ebenfalls erkannt. Die erste kirchengesetzliche “Ordnung der Mitarbeitervertretungen in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg” von 1968 galt jedoch zunächst nur für die Dienststellen und Einrichtungen der verfassten Kirche.

2.

Es wurde nicht als Beeinträchtigung der kirchlichen Eigenständigkeit angesehen, die Beschäftigungsverhältnisse in Kirche und Diakonie an das flächendeckende Entlohnungs- und Versorgungssystem des öffentlichen Dienstes anzukoppeln. Solange sich die beiderseitigen Erwartungen weitgehend mit der wirtschaftlichen Entwicklung im Einklang befanden, konnte diese Mitnahmementalität praktiziert werden. Mit seiner Entscheidung für den Dritten Weg hat der kirchliche Gesetzgeber die Möglichkeit verworfen, eine Arbeitsrechtsregelung zu etablieren, wie sie auf der Grundlage des Tarifvertragsgesetzes unter Wahrung kirchlicher Besonderheiten zusammen mit den Gewerkschaften gestaltbar wäre.

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Inzwischen haben vor allem veränderte ökonomische Rahmenbedingungen eine Situation ausgelöst, in der ein angemessener Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite mit dem Kommissionsmodell “Dritter Weg” fraglich geworden ist. Sein auffälligstes Gerechtigkeitsdefizit — die fehlende materielle Parität

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— verhindert, eine Balance divergierender Interessen auf Augenhöhe auszuhandeln. Dem dringlich gewordenen Reformbedarf für die kircheneigenen Vergütungssysteme (die Kirchliche Anstellungsordnung und die Arbeitsvertragsrichtlinien des Diakonischen Werks), die nach ständiger Rechtssprechung des Bundesarbeitsgerichts als normative Regelungen i.S. des Tarifvertragsgesetzes nicht anerkannt sind

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, kann deshalb nur entsprochen werden, wenn Dienstgeber und Dienstnehmer über eine gleichberechtigte und gleichstarke Verhandlungsposition verfügen. Dazu müssen sie sich aber auf den im außerkirchlichen Bereich erfolgreich erprobten Weg normaler Tarifverhandlungen begeben. “Der weite Horizont (der Dienstgemeinschaft, R.E.) macht es vielleicht auch möglich, ungewohnte Wege zu gehen.”

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3.

Durch die Einführung eines kircheneigenen Mitarbeitervertretungsrechts hat die Evangelische Landessynode Württemberg in eigener Rechtssetzungskompetenz ein Beteiligungssystem für die Arbeitnehmervertretungen geschaffen, das zwar den staatlichen Regelungen nachgebildet ist, aber hinter deren Mitbestimmungsstandard zurückbleibt. Der eigene Anspruch, ein auch für den nicht-kirchlichen Betriebsalltag vorbildliches Mitbestimmungsmodell zu entwickeln, ist mit dem Mitarbeitervertretungsgesetz nicht erreicht worden. Auch seine 2001 in Kraft getretene Novellierung hat dieses Ziel verfehlt. Dementsprechend darf bezweifelt werden, dass der kircheneigenen Rechtsmaterie ein dienstgemeinschaftliches Beteiligungsverständnis zugrunde liegt, das sich vorrangig an den Wesensmerkmalen gleichberechtigte Teilhabe, Entfaltungsfreiheit und Solidarität orientiert.

4.

Streng genommen kann Dienstgemeinschaft, so wie sie in der vorliegenden Arbeit nach biblischem und demokratischem Verständnis vorgestellt wurde, nur in solchen Dienststellen und Einrichtungen als erstrebenswert angesehen werden, wo dieses Leitbild weder als Imperativ noch als Eintrittsvoraussetzung für ein kirchliches oder diakonisches Beschäftigungsverhältnis verstanden wird. Die Fortgeltung der ACK-Klausel (s. Anlage 3) erweist sich hierzu kontraproduktiv. Die befragten Mitarbeitervertretungen haben sich mehrheitlich für ihre Abschaffung, die Dienststellenleitungen hingegen fast ausschließlich für ihre Beibehaltung ausgesprochen. Wenn Kirche und Diakonie ihre Mitarbeitenden zur Mitgestaltung und Teilhabe am kirchlichen Auftrag gewinnen wollen, kann dies auf betrieblicher Ebene kaum mit der Berufung auf das Leitbild der Dienstgemeinschaft — einschließlich der daraus abgeleiteten Loyalitätsansprüche bis in den privaten Lebensbereich hinein — erreicht werden. Dieser Anspruch muß durch konkrete und qualifizierte Beteiligung an den Beratungs- und Entscheidungsprozessen in der und für die Dienststelle zugunsten des/der einzelnen Beschäftigten glaubwürdig vertreten werden. Nicht zuletzt wird ein christliches Dienstverständnis daran gemessen werden, ob und wie legitime Arbeitnehmerrechte einschließlich der Lohngerechtigkeit in Anspruch genommen werden können. Dasselbe gilt auch für die Beteiligungsrechte der betrieblichen Interessenvertretung, wenn veränderte ökonomische Rahmenbedingungen ihre Beteiligungsmöglichkeiten einschränken (vgl. Kostenargumente anlässlich der MVG-Novellierung).

5.

Die weniger in Dienststellen der verfassten Kirche als vielmehr im Bereich rechtlich selbständiger Diakonieunternehmen festgestellten Umstrukturierungen weisen auf gravierende Mängel im Mitarbeitervertretungsgesetz hin (u.a. fehlende Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten

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). Zugleich wurde deutlich: je rascher und umfassender solche Strukturveränderungen erfolgen müssen, desto intensiver ist eine kompetente Arbeitnehmervertretung gefordert. Unverzichtbar ist deshalb zum einen ihre grundsätzliche Akzeptanz in ihrer Schutz- und Wächterfunktion und zum anderen die laufende Weiterentwicklung der für dieses kirchliche Amt erforderlichen personenbezogenen und fachspezifischen Qualifikationen der MAV-Mitglieder. Die Fürsorgepflicht der Dienstgeberseite ist hier gefordert, und die betriebliche Personalentwicklung hat sowohl die Mitglieder der Personalvertretung als auch die der Dienststellenleitung einzubeziehen.

6.

Die Verhandlungsmacht einer fach- und sozialkompetenten Mitarbeitervertretung lebt von dem geliehenen Vertrauen, das ihr von den Beschäftigten solange entgegengebracht wird, wie sie sich gut von ihr vertreten fühlen. Der Legitimationsbedürftigkeit der MAV-Beteiligungspraxis, vor allem hinsichtlich der Mitbestimmung essentieller betrieblicher Entscheidungen, muß zeitnah Rechnung getragen werden. Deshalb ist es notwendig, dass sich die Mitarbeitervertreterinnen um die Festigung und den Ausbau ihrer Beziehungen zur Belegschaft intensiv bemühen. Insofern ist es unerlässlich, dass eine ständige Rückkoppelung der betrieblichen Interessenpolitik mit den Arbeitnehmerlnnen erfolgt. Zumindest müssen dafür die gesetzlich abgesicherten Möglichkeiten (Mitarbeiterversammlungen, Sprechstunden, Aufsuchen am Arbeitsplatz) voll ausgeschöpft werden. Die Mitarbeitervertretung hat zwar klar und entschlossen die Interessen der Beschäftigten zu benennen, aber ebenso deutlich hat sie die Grenzen ihrer Durchsetzbarkeit aufzuzeigen, um sich auch vor überzogenen Ansprüchen und Erwartungen zu schützen.

7.

Wenn mehrheitlich unter den Mitarbeitervertretungen — im Gegensatz zu den Dienststellenleitungen — eine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Gewerkschaften feststellbar ist, so macht dies auch deutlich, dass die stark nachgefragte überbetriebliche Unterstützung und Stufenvertretung durch die sog. Gesamtausschüsse AGMAV und LakiMAV nicht ausreicht. Zusätzlich bedarf es noch strategischer Partnerschaften, um über Entwicklungen im Arbeits- und Tarifrecht und über ihre Realisierungschancen jeweils aktuell informiert zu sein. Neben den Berufsverbänden kommen dafür insbesondere die Gewerkschaften infrage. Es ist deshalb nur konsequent, und durch das Koalitionsrecht gem. Art. 9 Abs. 3 GG legitimiert, wenn Gewerkschaftsmitglieder in den kirchlichen und diakonischen Dienststellen und Einrichtungen ihre Arbeitskolleginnen zur Mitgliedschaft in der Gewerkschaft ermuntern.

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8.

Der Grundsatz der “vertrauensvollen und partnerschaftlichen” Zusammenarbeit der betrieblichen Sozialpartner gebietet es, dass die Dienstgebervertretung gegenüber der Dienstnehmervertretung keine vollendeten Tatsachen schafft. Es widerspricht auch diesem Kooperationsgebot, wenn beispielsweise die Dienststellenleitung eine ihr vorgeschlagene Maßnahme — gegebenenfalls in Unkenntnis der tatsächlichen Rechtslage — mit der Begründung ablehnt, dass es sich dabei um einen mitbestimmungsfreien Tatbestand handele und sich sodann auf ihr Direktionsrecht beruft. Es ist vielmehr von entscheidender Bedeutung, und das belegen die Untersuchungsergebnisse eindrücklich, über welchen aktuellen Kenntnisstand der betrieblichen Verhältnisse und der strukturellen Rahmenbedingungen die Kooperationspartner verfugen. Unzureichende Freistellungen der MAV-Mitglieder und ihr gestiegener Informations-, Beratungs- und Fortbildungsbedarf, dem nur begrenzt entsprochen wird, dürften nicht dazu beitragen, die festgestellten Defizite hinsichtlich des erforderlichen Basiswissens und des Rollenverständnisses abzubauen. In diesem Zusammenhang ist es nicht akzeptabel, dass das Entscheidungsrecht der Mitarbeitervertretung über die Hinzuziehung bzw. Beauftragung sog. sachkundiger Personen zur Beratung oder zur anwaltlichen Vertretung bei Streitverfahren durch eine von der Kirchenleitung erlassene Kostenregelung beeinträchtigt wird.

9.

Die gegenüber der Erstbefragung festgestellte Zunahme belastender Vorgänge wie mangelnde Würdigung von Eigeninitiative der Mitarbeiterinnen, Nichtbeteiligung der Beschäftigten bei Planungen betrieblicher Maßnahmen oder Mobbing lässt vermuten, dass in kirchlichen und diakonischen Arbeitsbereichen durchaus profane betriebliche Verhältnisse anzutreffen sind. In diesen Dienststellen und Einrichtungen sollte sich aber das Leitungsverhalten in besonderer Weise den aus dem Dienstgemeinschaftsgedanken ableitbaren ethischen Anforderungen unter Beteiligung der Betroffenen stellen. Dem kann sicherlich am ehesten eine offene und auf Dialog und Diskurs angelegte Kommunikation zwischen den betrieblichen Sozialpartnern gerecht werden.

10.

Die in den kirchlichen und diakonischen Dienststellen und Einrichtungen vorhandene Opferbereitschaft und erhöhte Dienstbereitschaft auch unter Mitarbeitervertreterinnen darf angesichts der dort um sich greifenden Sparmaßnahmen nicht dazu fuhren, die für eine sachgerechte MAV-Arbeit notwendigen Ressourcen weiter zu beschneiden. Denn die rechtlich von den Mitarbeitervertreterinnen geforderte Mitverantwortung sowohl für die Dienststelle als auch für die Stärkung des Verständnisses gegenüber dem kirchlichen Auftrag korreliert mit den für die Ausübung des Mandats erforderlichen materiellen Voraussetzungen. Um “das institutionalisierte Gewissen der Kirche”

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sein zu können, braucht es eine Akzeptanz und eine fortwährende Unterstützung, die der Mitarbeitervertretung als betriebsverfassungsrechtlich legitimiertes Organ angemessen ist.

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Metadata
Title
Schlußbetrachtung
Copyright Year
2006
Publisher
DUV
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-8350-9154-2_8