4.2.3.1 Zur (De-)Thematisierung von Rassismus
4.2.3.1.1 Zur Unsichtbarkeit von Rassismus
Ich werde im Folgenden der (De-)Thematisierung von Rassismus in den Lernendenvorstellungen nachgehen. In meinen Überlegungen für die Konsequenzen für Didaktik und Bildung werde ich mich auf die Bereiche beschränken, die in einem direkten Verhältnis zu den vor mir ko-konstruierten Vorstellungen stehen. In den Lernendenvorstellungen wird das Thema Rassismus, wie ich in den Abschnitten Farbe als Zugehörigkeitsmarker (
3.3.3) und Islam vs. Westen (
3.3.2) gezeigt habe, sehr unterschiedlich behandelt. Hier kommt die geteilte – im Sinne von
divided – Zugehörigkeit der Schüler_innen zum Ausdruck. Während zahlreiche Schüler_innen von Rassismuserfahrungen berichten, sprechen kaum in rassistischen Verhältnissen privilegierte Schüler_innen diese Themen an. Wenn sie das tun, tun sie das fast ausnahmslos auf eine externalisierende Weise, das heißt auf eine Weise, die nichts mit ihrer Lebenswelt zu tun hat. Entweder Rassismus wird mit dem Nationalsozialismus assoziiert oder in zwei Fällen mit in seiner Tradition stehenden als marginal erscheinenden rechtsextremen Gruppen. Oder Rassismus wird mit dem Kolonialismus oder der Sklaverei verbunden und im gleichen Zuge so historisiert, dass Bezüge zur Gegenwart ausgeschlossen werden. Von diesem Nicht-Sprechen von Rassismus in den Interviews mit einer – keineswegs klar definierten – Gruppe kann keineswegs auf eine Absenz von Rassismus geschlossen werden, sondern vielmehr auf eine Absenz von Rassismuskritik.
Aus einer rassismuskritischen Perspektive stellt dies ein Problem dar. Die Absenz des Sprechens über Rassismus führt nicht zu einer Verringerung der Machtwirkungen, sondern kann diese – aus mehreren Gründen – vielmehr verstärken. Zunächst ist hier zu nennen, dass sich die impliziten Normalisierungspraxen und die damit verbundenen versteckten Hierarchien durch ihre Entnennung verstärken.
„Wenn Weißsein entnannt wird, werden auch die sozialen Positionen, Privilegien, Hegemonien und Rhetoriken verleugnet, die an Weißsein gebunden sind, und wird den Ausgrenzungs- und Gewalterfahrungen, die Schwarze und People of Color durch Weiße real erleben, keine Rechnung getragen. Dadurch wird Weißsein nicht nur verstärkt und naturalisiert, zudem bleibt sein Status als ‚unmarked marker‘ und unsichtbar herrschende Normalität‘ unerschüttert.“ (Arndt 2005: 348)
Bildungsräume müssen ein Sprechen über Rassismus ermöglichen. Es müssen rassismuskritische Instrumente zur Verfügung stehen und ein Klima geschaffen werden, in dem ein solches Sprechen möglich ist. Dafür braucht es einen Begriff von Rassismus, der diesen von individualisierenden oder pathologisierenden Verständnissen löst. In Deutschland gilt ganz besonders, dass Rassismus mit dem Nationalsozialismus verbunden wird, was als zentrale Grund angeführt wird, warum Rassismus keine Kategorie der Beschreibung deutscher Realität werden konnte. Rassismus wird mit etwas gleichgesetzt, das nicht sein durfte, nämlich der Kontinuität der bundesrepublikanischen Gesellschaft mit dem Nationalsozialismus (Kalpaka/Räthzel 1986). Die Dethematisierung von Rassismus ist jedoch nicht auf diesen Aspekt zu beschränken. Externalisierungsstrategien von Rassismus, mit denen er als individualisiertes und pathologisiertes Problem erscheint, ermöglichen es auch, der subjektiv möglicherweise als unangenehm empfundenen Einsicht in die eigene Verstricktheit aus dem Weg zu gehen.
Paul Mecheril grenzt einen weiten Rassismusbegriff von externalisierenden Verständnissen folgendermaßen ab:
„Nicht die in solchen Begriffen wie Rechtsextremismus, Fremdenhass oder Feindlichkeit gegen Fremde zum Ausdruck kommende irrationale und ‚außer-normale‘ Gewalt sind das Problem, das antirassistische Ansätze zum Gegenstandmachen, sondern die der europäischen Geschichte in je unterschiedlicher, lokaler Weise eingeschriebene und in institutionellen Strukturen der Gesellschaften verfestigte Option der natio-ethno-kulturellen Differenzierung zwischen Wir und Nicht-Wir, in der das Nicht-Wir unter dem plausibilisierenden Bezug auf sein(etwa kulturelles) Wesen oder seine Identität als legitim diskriminierbar verstanden und behandelt wird.“ (Mecheril 2007: 19)
Astrid Messerschmidt problematisiert vier Praktiken im Umgang mit Rassismus, die sie als „Distanzierungsmuster“ (Messerschmidt 2014) bezeichnet. In Anlehnung an Sebastian Fischer könnten diese auch als Strategien der „Externalisierung“ (2013) bezeichnet werden. Diese vier Distanzierungsmuster sind „Skandalisierung, Verlagerung in den Rechtsextremismus, Kulturalisierung und Verschiebung in die Vergangenheit“ (Messerschmidt 2014: 41) zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine Distanzierung der eigenen Person und des eigenen Handelns vom Rassismus sicherstellen sollen. Das Phänomen der De-Thematisierung kann auch jenseits von deutschen Verhältnissen beobachtet werden. Alana Lentin hat herausgearbeitet, wie in gegenwärtigen Formationen rassistischer Diskurse die Verleugnung von Rassismus ein zentrales Moment seiner Reartikulation darstellt. In der Analyse der Verleugnung von Rassismus in der Haltung des “‘not racism’” zeigt sie, wie diese Verleugnung selbst zu einer Form rassistischer Gewalt werden kann (Lentin 2018). Indem Rassismus als individuelle Rückständigkeit erscheint, kann es sogar zu einer Umdrehung kommen und die vom Rassismus Privilegierten als dessen ‚Opfer‘ dargestellt werden. Sie entwickelt den Ansatz des ‚NO RACISM TM‘; diese Marke wird von Trump bis zu neurechten Eugeniker_innen vor sich hergetragen und damit gleichzeitig Rassismus verleugnet und reartikuliert (Lentin 2020). Die einzigen, die beispielsweise David (Gym14;
3.4.3) nennt, als er über Rassismus nachdenkt, sind die Taliban als „Musterbeispiel“ einer „kleineren, rückständige, rassistischen, fremdenfeindlichen Kultur […]“, die dann aber bald durch den ‚Westen‘ und die ‚Moderne‘ „geschluckt“ werden wird. Hier findet sich die Konstruktion einer im rassistischen Feld überlegenen Position – die Konstruktion der kolonialen Differenz – in einer Gleichzeitigkeit mit der Externalisierung von Rassismus auf die kolonialen Anderen. David steht hier zwar nur stellvertretend für eine kleine Gruppe von Schüler_innen. Nichtsdestotrotz muss diese Dimension für eine rassismuskritische Perspektive miteinbezogen werden.
Aus einer dekolonialen, rassismuskritischen Bildungsperspektive besteht also eines der zentralen Ziele darin, Rassismus als relevante Struktur- und Subjektivierungskategorie anzuerkennen und ein Sprechen darüber zu ermöglichen. Dabei muss das Feld als geteiltes begriffen werden:
„Das Ziel der Anerkennung der Tatsache, dass Rassismus existent ist, ist häufig erst einmal für diejenigen als sinnvolles Bildungsziel zu verstehen, die sich (noch) nicht der Wirkmächtigkeit von Rassismus bewusst sind. Das sind […] vor allem jene Personen, die unter Bedingungen rassistischer Unterscheidungen privilegiert positioniert sind.“ (Linnemann/Mecheril/Nikolenko 2013)
Diese Anerkennung ist für Bildungsprozesse dabei nur ein erstes Ziel. Es stellt auch einen Ausgangspunkt für eine Problematisierung der eigenen Verstricktheit in rassistische Ungleichheitsverhältnisse.
4.2.3.1.2 Die Institution Schule als Teil des Problems
Im Zuge meiner Erhebung habe ich verschiedene Erfahrungen ko-konstruiert, in denen sich Rassismus als Teil der Institution Schule manifestierte. Beispielsweise im Zuge der Organisation der Interviews an einer Schule stellte sich eine Einstellung der Lehrerinnen gegenüber den von mir für Interviews ausgewählten Schülern heraus, die ich als verandernd und abwertend wahrnahm. Ihnen wurde das sprachliche und kognitive Vermögen abgesprochen, etwas zu meinem Untersuchungsthema aussagen zu können; sie rieten mir dringend dazu, andere Interviewteilnehmer_innen auszuwählen (
2.1.2). Darüber hinaus berichtete beispielsweise Memnun (HS08) explizit von Rassismuserfahrungen, die sich in schulischen Benachteiligungen und rassistischen Diskriminierungen durch seine Lehrerinnen ausdrückten (
3.2.3). In der Diskussion um die Schaffung rassismuskritischer und dekolonialer Bildungsräume muss diese Dimension unbedingt miteinbezogen werden, da die Institution Schule vor diesem Hintergrund zunächst, in ihrer jetzigen Form eher als Teil des Problems, denn als Teil der Lösung erscheint.
Schule kann aus einer rassismuskritischen Perspektive als „Ort und Institution verstanden werden, die einen gewichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Wirksamkeit des Schemas leistet, das zwischen Anderen und Nicht-Anderen unterscheidet“ (Mecheril 2012: 23) sowie – auch rassistische – Bildungsungleichheiten zementiert. Was es bräuchte wäre aus meiner Sicht eine Konzeption einer selbstreflexiven Schule, in der eigene Strukturen und Bildungspraxen einer ständigen rassismuskritischen Reflexion unterzogen werden. Diese muss institutionalisiert und selbstverständlicher Teil pädagogischer Professionalität werden. Die Realität ist von einer solchen Utopie aber weit entfernt. Annita Kalpaka beobachtet, dass selbstreflexive Praxen eine Ausnahme darstellen. Statt also „das eigene Handeln in den Kontext von institutioneller Diskriminierung und Rassismus zu stellen und zu reflektieren“, seien Formen der Dethematisierung oder problematische Formen der Thematisierung dominierend. Dabei würde die Haltung des „sich nichts ,zuschulden kommen lassen‛“ als wichtiger angesehen „als die Konsequenzen, die pädagogisches Handeln unter rassistischen Bedingungen für die von Rassismus und Diskriminierung Betroffenen haben kann oder hat“ (Kalpaka 2009: 25). Dies liegt auch darin begründet, dass die Institution Schule der migrationsgesellschaftlichen Realität nicht gerecht wird. Wer, mit welcher Positionierung in der Schule arbeitet und ihre Struktur durch Sichtbarkeiten und Handeln prägt, ist von dieser Schieflage geprägt. Kalpaka sieht die migrationsgesellschaftliche Vielfalt zwar im Küchen- und Reinigungspersonal, keinesfalls jedoch in der Zusammensetzung der Lehrkräfte widergespiegelt (ebd.: 28). Und die verhältnismäßig wenigen Lehrer_innen of Color oder Schwarze Lehrer_innen machen oft die Erfahrungen, dass sie als Delegierte für das Thema Rassismus zuständig erklärt werden.
Der institutionelle Kontext erscheint aber nicht nur in der personellen Zusammensetzung problematisch:
„Pädagoginnen und Pädagogen handeln im Kontext von Institutionen, die in ihrem Selbstverständnis weiterhin ethnozentrisch, monokulturell, monolingual sind, die der Tatsache und der Zusammensetzung der Einwanderungsgesellschaft nicht entsprechen.“ (Kalpaka 2009: 34)
Der „monolinguale Habitus“ (ebd.) wird auch im von mir im Lehrer_innenzimmer beobachteten Habitus deutlich, mit dem die Schüler_innen aufgrund ihrer angebliche unzureichenden Deutschkenntnisse abgewertet wurden. Hier drückt sich die defizitorientierte Haltung aus, die Menschen mit anderen Erstsprachen – zumindest geopolitisch abgewertete Sprachen, wie in diesem Fall Arabisch, Türkisch und Bulgarisch – gering schätzt. Aus didaktischer Perspektive wird ein Defizit deutlich, wenn Lara davon spricht, dass „alle Autoren“, denen sie im Schulunterricht begegnet, weiß und europäisch seien. Auf ganz verschiedenen Ebenen wird so eine Normalisierung produziert. Vor diesem Hintergrund können auch Maßnahmen, die auf den Fakt der Migration reagieren, aber als „additiv drangehängt“ (ebd.: 28) erscheinen, nur unzulänglich sein. Das ‚Normale‘ bleibt unhinterfragt und produziert gleichzeitig eine Einteilung in „,wir‘ und ,die Anderen‘“ (ebd.). Dieses „‚Wir‘ als die Position von Normalität“ bleibt dabei „unsichtbar bzw. dethematisiert“ (ebd.).
In einer solchen Institutionen entwickeln Pädagog_innen ihre Handlungsstrategien. Wenn Bildung aber einem rassismuskritischen Anspruch gerecht werden will, ist eine Voraussetzung dafür, Räume zu schaffen, in denen die Zusammenhänge zwischen pädagogischem Handeln und strukturellen Rahmenbedingungen thematisierbar und reflektierbar gemacht werden (ebd.: 36). Rassismuskritik und rassismuskritische Selbstreflexion sollte pädagogisches und didaktisches Handeln kontinuierlich begleiten. Davon ist die Realität aber weit entfernt. In Bezug auf die Ausbildung von Lehrer_innen kann festgestellt werden, dass eine gesonderte Auseinandersetzung mit Rassismus in den Vorgaben für die Ausbildung von Lehrer_innen bisher an keiner Stelle Berücksichtigung findet (Fereidooni/Massumi 2015). Hinzu kommt das Problem, dass rassismuskritische Reflexion immer auch mit dem Verlust von Handlungsfähigkeit einhergehen kann. Dies ist an einem Ort wie der Schule, wo ein hoher Handlungsdruck herrscht, kaum möglich, da Irritation, Verunsicherungen und Aushandlungen Zeit und Räume braucht, für die in der Schule oft kein Platz ist. Das Wissen, das in der Schule – quasi als Kanon, ohne eigene zusätzliche Anstrengungen zu investieren – zur Verfügung steht, ist in der Regel so strukturiert, dass es das eigene Handeln im Sinne der Reproduktion rassistischer Ordnungen legitimiert. Die Reflexion dieser Strukturen und des eigenen Handelns muss dabei zunächst überhaupt das Problem als solches thematisierbar machen, da pädagogisches Handeln immer im Widerspruch zwischen dem Gleichheitsanspruch der Institution Schule und der Realität der Selektion und Zuweisung zu gesellschaftlich unterschiedlichen Positionen, nicht zuletzt angesichts der Aufgabe der Schule der Reproduktion der Arbeitskraft, agiert. Um diesen Widerspruch als solchen thematisierbar zu machen, muss sich die Struktur von Schule verändern und sich eine Kultur der Selbst- und Rassismuskritik etablieren.
4.2.3.1.3 Das pädagogische Dilemma zwischen Farbenblindheit und Veranderung
Ein zentrales Dilemma pädagogischer Praxis entsteht dadurch, dass sowohl das Übersehen als auch das Hervorheben von migrationsgesellschaftlicher Differenz problematisch ist. Das Übersehen von Differenz – also das Leugnen unterschiedlicher Voraussetzungen – läuft Gefahr zu einer „Diskriminierung durch Gleichbehandlung“ und die Hervorhebung von Differenz zu einer „Kulturalisierung/Ethnisierung“ (Kalpaka 2009: 34) zu werden. Diskriminierung durch Gleichbehandlung kann auch als Farbenblindheit bezeichnet werden: „Methodisch, pädagogisch und politisch ist ein ‚farbenblinder‘ Ansatz, der die durch rassistische Strukturen produzierten Ausschlüsse und Hierarchien ignoriert, dazu verdammt, sie zu reproduzieren.“ (El-Tayeb 2016: 21) Ein Vergessen der Differenz hebt diese nicht auf oder schränkt ihre Wirkungsweisen ein, sondern verschiebt insbesondere diese aus dem Bereich des Sagbaren. „Leben mit ‚Differenz‘, statt sie einfach zu vergessen. Dies ist dem endlosen Vergessen vorzuziehen – dieser historischen Amnesie – und dieser schalen postmodernen Nostalgie, die zum Inventar der Globalisierung gehört.“ (Hall 1991: 805, zitiert nach El-Tayeb 2016: 40) Eine Benennung als Zuschreibungspraxis im Kontext rassialisierter Verhältnisse birgt hingegen Gefahren, hiermit die hierarchisierten Differenzen, Zuschreibungen und Zuweisungen zu vertiefen.
In dem Gedicht For the White Person Who Wants to Know How to Be My Friend reflektiert die afroamerikanische Feministin Pat Parker über dieses Dilemma in Bezug auf Freundschaft mit Weißen. Ihr Gedicht beginnt mit den folgenden zwei Zeilen: “The first thing you do is to forget that i’m black. Second, you must never forget that i’m black.” (Parker 1978) Dieses Dilemma gilt auch für Bildungskontexte. Weder der ‘farbengleiche’, Differenz und Rassismus gleichermaßen verleugnende Ansatz noch der Differenzen zu- und festschreibende Ansatz sind aus einer rassismuskritischen Perspektive annehmbar. Aus einer solchen bedarf es pädagogischen Wissens über rassistische Strukturen und reflexive Praxen, um Umgang mit Widersprüchen zu erproben. Dies wäre die Voraussetzung, um einen rassismussensiblen Bildungsraum zu eröffnen, in dem die subjektiven Voraussetzungen aller Schüler_innen – und nicht nur der Weißen – angemessen berücksichtigt werden können und rassialisierte Ungleichheitsverhältnisse besprech- und reflektierbar würden.
In meinen kurzen und fragmentarischen Einsichten in die Verhältnisse in den von mir untersuchten Klassen, erschien mir das ‚farbenblinde‘ Paradigma dominant. Zur Erinnerung: Farbenblindheit bedeutet nicht die Absenz von Rassismus, wie am Beispiel der Situation mit den Lehrerinnen in der Organisation der Interviews deutlich geworden sein sollte. Lara redete (Gym18;
2.1.2) mehr als eine Stunde lang auch über Rassismus, Sklaverei und Kolonialismus, vermied aber ihre eigene Subjektposition oder ihre persönlichen Erfahrungen in den Diskurs einzubeziehen. Dies kann unter anderem sowohl auf den Diskursraum Schule als auch auf die Intreviewsituation mit mir als weißen Interviewendem zurückgeführt werden. Nach ein paar Tests, die ich offensichtlich bestanden hatte, änderte sie dies und positionierte sich von ihr aus als Schwarze, deren Mutter selbst Migrationserfahrung hat. Es schien als wäre es eine Art Befreiung. Sie setzte die geschilderten Herrschaftsformen in Bezug zu den Rassismuserfahrungen von ihr und ihrem Bruder. Über die Gründe, die zu ihrer Vorsicht führten, ihre eigene Subjektposition herauszustellen, kann ich nur spekulieren. Es erschien mir so, als würde sie dies verletzlicher machen und ihre Aussagen abwerten, wenn sie von einer nicht dominanzgesellschaftlichen und normsetzenden Position heraus formuliert würden. Dies verweist auf eine Hierarchisierung von Wissen innerhalb des Lernraums Schule und der damit verbundenen Abwertung des Wissens der von Rassismus Deprivilegierten.
4.2.3.1.4 Rassismuserfahrungen als Normalität: Empowerment
Einige Schüler_innen berichten über Rassismuserfahrungen innerhalb und außerhalb der Schule. Diese werden als Normalität wahrgenommen. Lara (Gym18) beschreibt bezogen auf die Erfahrungen ihres im Fußballverein, in dem „einem mal ein rassistischer Kommentar“ rausrutsche, dass diese Erfahrungen für sie erwartbar sind, was auf einen gewissen Grad an Normalisierung verweist (
3.3.3). Memnun (HS08) berichtet beispielsweise über rassistische Ungleichbehandlung durch Lehrkräfte in der Schule, die er auf seine „schwarze Haaren“ zurückführt (
3.3.2). Diese Erfahrungen werden nicht als Ausnahme, sondern als Normalität erlebt und dargestellt, auch wenn es in beiden Fällen gleichzeitig als Unrecht wahrgenommen und benannt wird. Die differenzierte Auseinandersetzung beider Schüler_innen, die diese Erfahrungen als Rassismus analysieren und ihr eigenes Handeln in rassistisch strukturierten Feldern reflektieren, hat offensichtlich keinen Platz in der Schule bzw. in der darin gegenwärtigen Struktur der Hierarchie des Wissens und in dem Feld des Sagbaren.
Rassismuskritische, dekoloniale Bildung kann hier an die Strategien der Schüler_innen anknüpfen. Memnun analysiert nicht nur komplexe Wirkungsweisen des Rassismus, sondern praktiziert auch eine Form der Solidarität mit anderen von Rassismus Betroffenen, wie etwa einer Mitschülerin, die aufgrund ihres Kopftuchs durch die Lehrkraft stigmatisiert und abgewertet wurde. Auch Lara erklärt sich solidarisch mit Menschen, die von anderen Formen des Rassismus betroffen sind (
3.3.2) und stellt damit implizit die Gemeinsamkeit der Rassismuserfahrungen als einen Ausgangspunkt kritischen Denkens und Handelns heraus. Laras Beobachtung und Analyse von alltäglichem Rassismus wird begleitet von einer Kritik des schulischen Kanons, in dem alle Autor_innen europäisch und weiß seien (
3.3.3). Dies präge nach Lara das, was als normal aufgefasst würde, sowie die Subjektivierungsweisen von Personen, die Rassismuserfahrungen machen. Gleichzeitig macht sie stark, dass eine Ressource, etwas an den rassistischen Normalisierungen der Gegenwart zu verändern, in einem Geschichtslernen bestünde, das meinem Verständnis einer dekolonialen Bildung entspricht:
S: Ja, also ich finde so Kultursachen und so oder Rassismus oder so, da finde ich, ist es eigentlich heutzutage ziemlich wichtig, den Menschen was dazu beizubringen. Weil ich sehe halt, die meisten interessieren sich gar nicht mehr für die Geschichte. Im Bereich Geschichte zum Beispiel die Geschichte mit den Sklaven und so was in der Art halt. Die dunklen Seiten der Geschichte, sag' ich mal. Also natürlich möchte man nicht an das Schlechte aus der Vergangenheit irgendwie erinnert werden. Aber ich finde, man sollte vielleicht ein bisschen was lernen dazu, um vielleicht ein bisschen anders zu denken. Und dass man irgendwann Menschen nicht nach ihrem Stand oder gesellschaftlichen Ansehen irgendwie beurteilt. Oder Nationalität und so. (Lara, Gym18)
Ziel einer dekolonialen politischen Bildung muss es sein, diesen Ideen von Lernenden einen Raum zu schaffen, in dem das Feld des Sagbaren und die Hierarchisierung von Wissen sich so weit verschoben hat, dass solche Ideen nicht nur geäußert, sondern auch gehört und ihre Implikationen für voll genommen werden.
Um dies zu erreichen, kann der Empowerment-Ansatz als ein möglicher Bezugspunkt herangezogen werden. Um die subjektiven Vorstellungen als Ausgangspunkt, die Wissensressourcen aller Schüler_innen wirklich ernst und diese als zentrale Bestandteile didaktischer und selbstreflexiver Bildungsprozesse zu anzunehmen muss sich dafür aber auch die Einstellung der Lehrenden verändern. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass in Deutschland Lehrende mehrheitlich aus der „Weißen Mittelschicht“ (Heinemann 2020: 215) kommen, ergibt sich die Problematik, das Wissensinhalte von Menschen mit Rassismuserfahrungen oder aus dem Globalen Süden Zugewanderte „unsichtbar“ gemacht werden beziehungsweise „keine Anerkennung finden“ (ebd.: 218). Zur Reflexion der Hierarchisierung des Wissens in Bildungskontexten bezieht sich Alisha Heinemann auf den funds of knowledge approach (ebd.). Auf institutioneller Ebene leitet sich aus dieser Problemlage die Notwendigkeit ab, eine Veränderung der Zusammensetzung der Lehrenden zu forcieren, die unter anderem durch Förderprogramme für angehende Lehrende mit Rassismuserfahrungen erreicht werden könnte, sowie die Institutionalisierung selbstreflexiver, dekolonialer Bildungsprozess im Rahmen der Lehrer_innenausbildung und -fortbildung sowie im schulischen Alltag. Die Idee, die vielfältigen Wissensressourcen einzubinden und zu würdigen, bedingt dabei nicht nur eine Offenheit der Lehrenden, sondern auch die Fähigkeit, auch Wissen zu würdigen, die sie selber nicht verinnerlicht haben, das ihnen auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar erscheint. Es braucht also eine Veränderung des sonst oft hierarchischen Verhältnisses zwischen Lehrenden und Lernenden.
Im Zuge des Einbeziehens der sonst marginalisierten Wissensressourcen der von Rassismus negativ betroffenen Lernenden, gilt jedoch das oben beschriebene pädagogische Dilemma zu reflektieren. Im
Rassismuskritischen Leitfaden zur Reflexion bestehender und Erstellung neuer didaktischer Lehr- und Lernmaterialien für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit zu Schwarzsein, Afrika und afrikanischer Diaspora heißt es in Bezug dazu:
„Doch Vorsicht vor Zuschreibungen! Einer Schwarzen Person darf etwa nicht unterstellt werden oder sie dazu aufgefordert werden, über ‚afrikanische Geschichte‘ zu erzählen – so als würde sie sich ja schließlich auskennen. Die Lernsubjekte sollten für sich selber bestimmen können, wer sie sind, was sie wissen und wie sie es mitteilen möchten.“ (Autor*innenKollektiv Rassismuskritischer Leitfaden 2015: 17)
Rassismuskritische Bildungsräume müssen so strukturiert sein, dass es sowohl den von Rassismus Deprivilegierten als auch den durch Rassismus privilegierten Lernsubjekten möglich wird, Rassismus und die damit verbundene Differenzkonstruktion und Ungleichheit als solche zu sehen. Rassismuskritische Bildung zielt insbesondere für weiß positionierte Lernende darauf ab, die als Normalität wahrgenommenen Setzungen zu irritieren, ihre Machtwirkungen sichtbar und die eigene Position darin sichtbar zu machen. Dies gilt es auf eine Art zu realisieren, die nicht auf Kosten von Lernenden of Color geht.
Für die von Rassismus privilegierten Lernsubjekte sind es tendenziell andere Impulse, die hierfür nötig sind, als für durch Rassismus deprivilegierte Lernsubjekte, wie an den geteilten – im Sinne von divided – Perspektiven in Bezug auf Rassismus in den von mir ko-konstruierten Vorstellungen deutlich geworden ist. Daraus ergeben sich einige grundlegende Fragen: Was bedeutet es für Bildungspraxis, wenn klar ist, dass die Schüler_innen sich ganz unterschiedlich innerhalb kolonialer Ordnungen positionieren bzw. positioniert werden? Während die eine Umgangsweise darin besteht, dekoloniale Bildungsräume zu trennen, besteht die andere darin, in gemeinsamen Räumen nach Formen zu suchen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu reflektieren. Beides kann aus meiner Sicht zu einer Dekolonisierung beitragen. Diese Frage hat auch mit der Frage zu tun, ob Praxis von Weißen überhaupt als dekoloniale – oder eher als kolonialkritische Praxis – bezeichnet werden kann oder vielmehr nur die Selbstermächtigung von Nicht-Weißen dekolonial – als Selbstermächtigung und Überwindung der eigenen Unterdrückung – genannt werden sollte? Scheint hier nicht das Problem auf, das den mit diesem Text vorgelegten Vorschlag einer dekolonialen politischen Bildung adressiert, die sich an alle, auch an Weiße, richtet? Ich werde im Folgenden kursorisch beide Umgangsweisen diskutieren, allerdings werde ich sie nicht gegeneinander diskutieren, da ich der Überzeugung bin, dass es kontextabhängig ist, welche der Umgangsformen zielführender ist.
Aus der Feststellung der geteilten Perspektiven können Bildungspraktisch zwei Arten von Bildungsräume als Schlussfolgerung gezogen werden, einen im Sinne von divided und zum anderen im Sinne von shared. Eine getrennte Bildungspraxis skizziere ich zum einen im Anschluss an die Ansätze von Empowerment für People of Color und Schwarze Menschen, in denen die Herstellung eines solchen Raumes als zentrale Strategie herausgearbeitet und als solche stark gemacht wird. Für weiß positionierte Menschen ergibt sich aus einer solchen getrennten Bildungspraxis ein Bildungsraum, in dem selbstreflexive Praxen und spezifische Formen der Allianz die zentralen Bildungsziele darstellen. Dies werde ich im kommenden Abschnitt darstellen, und im Anschluss einige mögliche Fallstricke kritisch diskutieren. Im Anschluss geht es um einen Ansatz, der auch einen geteilten (shared), nicht anhand der rassialisierten Differenz strukturierten Bildungsraum als anstrebenswert erscheinen lässt. Trotz der in den nächsten Abschnitten referierten Gefahren, die ein gemeinsamer Bildungsraum beinhaltet, möchte ich einen solchen Bildungsraum als Möglichkeit und Option offen lassen; ein Grund dafür ist, dass ich hier – natürlich aus einer weißen Perspektive, aber auch basierend auf Diskussionen politisch aktiver People of Color – auch Potenziale sehe. Dabei sind auch die Erfahrungen von teilnehmenden People of Color und Schwarzen Menschen zu berücksichtigen, die durch die Trennung von Bildungsräumen in bestimmten Kontexten von stigmatisierenden und Zuschreibung verstärkenden Erfahrungen berichten. Aus meiner Sicht ist es kontextabhängig und selbstverständlich abhängig von der Präferenz von beteiligten Schwarzen Menschen und People of Color, welche Form des Bildungsraums sinnvoller erscheint.
In meiner folgenden Darstellung der Konzepte eines getrennten Bildungsraum im Sinne von Empowerments referiere ich einige Ansätze aus dem vielfältigen Feld der Empowermentdiskussionen von People of Color und Schwarzen Menschen. Ich habe hier nicht den Anspruch, Hinweise zu diesem Konzept zu entwickeln. Das ist als weiß positionierter Mensch nicht meine Aufgabe. Eine kurze Darstellung an dieser Stelle erscheint mir aber sinnvoll, damit die Vorteile und Potenziale getrennter Bildungsräume verdeutlicht, diese als wichtige Option von politischer Bildungspraxis in die Überlegungen einbezogen wird und auch die Rolle von weiß positionierten Menschen in Bezug zu den Empowerment-Bildungsräumen diskutierbar werden.
Für eine trennende Praxis der Bildungsräume spricht, dass – wie Andrea Meza Torres und Halil Can in ihrem Text
Empowerment und Powersharing als Rassismuskritik und Dekolonialitätsstrategie aus der People of Color-Perspektive darlegen – angesichts der rassistischen Verhältnisse, in denen die Perspektiven und Erfahrungen von People of Color systematisch abgewertet, dethematisiert und delegitimiert werden, ein getrennter und damit geschützter Raum Prozesse des Empowerments ermöglichen kann.
„Der ressourcenorientierte und machtkritische Ansatz des Empowerment-Konzepts [..] bildet für People of Color ein wichtiges philosophisches, praktisches und politisches Instrument für die politische Selbstorganisierung, für die Entwicklung einer kollektiven Kultur des selbstbewussten Widerstands gegen Ungleichheit sowie rassistische und diskriminierende soziale Gewalt- und Unterdrückungsstrukturen als auch für Selbststärkung, Selbstbestimmung und Partizipation im Sinne individueller und gesellschaftspolitischer Veränderungen.“ (Meza/Can 2013: 29)
Dabei geht es also um die Überwindung von „Ohnmacht und Unterdrückung und die Entwicklung von Empowerment- und Widerstandsstrategien über das Erinnern, Erzählen und Dokumentieren der ausgeblendeten, verdrängten und verschwiegenen PoC-Empowerment- und Widerstandsgeschichte in Deutschland“ (ebd.: 29). Zentral für den Empowerment-Ansatz von und für People of Color ist dabei „die Schaffung von mehrfach geschützten Eigenräumen zur Besinnung, Wiedererlangung und Belebung von eigenen Ressourcen“ (ebd.: 35). Sowohl Dekolonialität als auch Empowerment sind dabei, Meza und Can zufolge, „ressourcen- und prozessorientiert“ und basieren auf der Perspektive „der Veränderbarkeit von herrschenden Verhältnissen“ und zielen auf die Stärkung der „Handlungsfähigkeit des Subjekts […], sich Fremdbemächtigungen durch resiliente Praxen der Selbstbemächtigung und Befreiung zu widersetzen.“ (ebd.: 30).
Für Rassismuserfahrungen machende Menschen beschreibt Natascha Nassir-Shahnian diesen Prozess des Empowerments als einen der Dekolonisierung:
„Bei der Dekolonisierung handelt es sich um einen bewussten Austritt aus der kolonialen Situation. Wenn wir erkennen, dass unsere vermeintlichen Defizite aus einer weißen Norm konstruiert werden, können wir dem Druck hin zur Überkompensation widerstehen – denn wir müssen nichts ‚ausgleichen‘ um ‚mitzuspielen‘.“ (Nassir-Shahnian 2013: 19)
Genau dies tut Lara, wenn sie sich über die Erwartungen an ihre Zukunft hinwegsetzt, indem sie diese als rassistisch strukturiert und in die Kontinuität von Kolonialismus analysiert. Der durch Rassismus strukturierte Erwartungshorizont an sie, dass sie als Schwarze Frau entweder Sängerin werden sollte oder um genau die Entsprechung in die rassistische Einordnung zu entgehen – im Sinne ihrer Mutter – einen „richtig normal[en]“, einen „besseren“ Job, wie „Anwältin“ annehmen sollte, wird von ihr kritisch reflektiert. Vor dem Hintergrund dieser Reflexion stellt sie sich bewusst gegen diesen Erwartungshorizont und will „Autorin“ werden. Diese Form der Kritik, die zu einer Steigerung von Autonomie und Selbstbestimmung führt, kann als Empowerment bezeichnet werden. Paulo Freire fasst diesen Prozess so: „Um die Situation der Unterdrückung zu überwinden, muss der Mensch zunächst ihre Ursachen kritisch erkennen, damit er durch verändernde Aktion eine neue Situation schaffen kann, eine, die das Streben nach vollerer Menschlichkeit ermöglicht.“ (Freire 1971: 34).
Dabei ist dies nicht als individualisierter Prozess zu begreifen. Bündnisse, das Schaffen von Kollektivität und Gemeinsamkeit, die trotz der Unterschiedlichkeit der Erfahrungen das Gemeinsame erkennen, wird in der Diskussion dieses Themas hervorgehoben (Nassir-Shahnian 2013). Diese Herstellung von Gemeinsamkeiten durch gemachte Ausschlusserfahrungen zeigt sich in zahlreichen Interviews, auch bei Lara und Memnun. Für Bildungskontexte stellt Nassir-Shahnian die Relevanz von der Entwicklung einer geteilten Sprache heraus.
„Da unsere Lebenserfahrungen in dominanten Diskursen häufig nicht anerkannt und benannt werden, sondern im Gegensatz abgewehrt und verneint (‚Jetzt stell dich mal nicht so an‘ oder ‚Übertreib mal nicht‘), ist das Ausdrücken und Teilen von Diskriminierungserfahrungen eine wichtige Strategie für den Empowerment-Prozess.“ (Nassir-Shahnian 2013: 21)
Getrennte Räume sind insofern geschützt, als hier alle Teilnehmer_innen an die Rassismuserfahrungen anknüpfen können und diese nicht grundlegend infrage gestellt werden (Yiğit/Can 2006). Unterdrückungserfahrungen rufen oft Sprachlosigkeit hervor. Zusätzlich sind die Lebenserfahrungen von Migrationsanderen oft nicht nur unsichtbar, sondern viele machen auch die Erfahrung, dass sie „abgewehrt und verneint“ werden, was sich in Reaktionen wie ‚Jetzt stell dich mal nicht so an‘ oder ‚Übertreib mal nicht‘ ausdrücken kann (Nassir-Shahnian 2013: 21). Die Infragestellung oder die Dethematisierung der Artikulation von Rassismuserfahrungen kann als „sekundäre Rassismuserfahrung“ (Çiçek/Heinemann/Mecheril 2014: 312) bezeichnet werden. Das Ausdrücken und Teilen von Rassismuserfahrungen ist vor diesem Hintergrund eine „wichtige Strategie für den Empowerment-Prozess“ (Nassir-Shahnian 2013: 21) und Voraussetzung für das Entwickeln einer gemeinsamen Sprache sowie Selbstbestimmung und Autonomie. Darüber hinaus ist ein solcher geschützter Raum aber auch als ein Raum zu betrachten, in dem People of Color temporär nicht – oder zumindest weniger – der in weiß dominierten Räumen sonst fast dauerhaften Gefahr rassistischer Verletzungen, Einordnungen und Entmündigungen ausgesetzt sind.
„Empowerment bedeutet als People of Color auf unsere eigenen Bedürfnisse in rassistischen Alltagssituationen zu achten. Empowerment bedeutet ohne Kategorisierung existieren zu können. Empowerment bedeutet ich kann ich sein – egal, was du von mir denkst. Empowerment bedeutet Befreiung.“ (ebd.: 24)
‚People of Color‘ ist dabei al seine ermächtigende Selbstbezeichnung zu verstehen, die sich auf alle rassistisch marginalisierten Menschen bezieht. Mit dem Begriff wird die Heterogenität der Rassismuserfahrungen adressiert und er stellt insofern auch eine „Aufforderung“ dar, „die Vielschichtigkeit interner Differenzen [marginalisierter Menschen] wahrzunehmen und sich auf dieser Basis gleichberechtigt und dialogisch zu verständigen.“ (Ha/al-Samarai/Mysorekar 2007b: 14) In Anerkennung dieser Differenzen zielt er aber zugleich auf Solidarität und Bündnisse über diese Grenzen hinweg.
„Als politische Plattform zielt sie auf Bündnisse zwischen allen rassifizierten Menschen mit afrikanischen, asiatischen, lateinamerikanischen, arabischen, jüdischen, indigenen oder pazifischen Hintergründen. In gruppenübergreifender (interkommunaler) Weise verbindet sie so jene, die in Weißen Dominanzgesellschaften unterdrückt und durch koloniale Tradierungen kollektiv abgewertet werden.“ (Ha/al-Samarai/Mysorekar 2007b: 12-13, Herv. i. O.)
Inzwischen werden meist mindestens noch Sinti und Roma dazugezählt. Die Herausgeber_innen von re/visionen (2007a) sehen in der Wissensproduktion unterdrückter Communities und der als solche sich artikulierende Stimme von People of Color-Zusammenhängen eine Durchkreuzung der „ausgrenzenden Selbstgespräche der Weißen Dominanzgesellschaft“; auf diese Weise wird „Deutschland als vielstimmige[r] postkoloniale[r] Raum“ (Ha/al-Samarai/Mysorekar 2007b: 14–15) enthüllt.
KARFI ist ein rassismuskritisches Arbeitsbündnis von sich als Schwarz positionierenden Frauen, die in ihrer politischen (Bildungs-)Arbeit – neben der Intervention in oder der Allianz mit weiß geprägten Zusammenhängen – auch auf einen Empowerment-Ansatz fokussieren. Ihre Arbeit bewegt sich im „Spannungsfeld von praktischer Bildungsarbeit, politischem Aktivismus und (akademischer) Wissensproduktion“ (Bendler/Digoh-Ersoy/Golly 2019: 17). Dabei begreifen sie politischen Aktivismus und Wissenschaft nicht als zwei getrennte Bereiche, schließlich wird widerständiges Wissen nicht in isoliert akademischen Denkräumen geschaffen, sondern „bildet sich vielmehr dort heraus, wo Menschen dominante Ordnungen unterlaufen und ihre Analysen und Strategien mit anderen teilen“ (ebd.). Auf solche Prozesse fokussiert auch ihre Bildungsarbeit, die sie sowohl innerhalb als auch außerhalb institutionalisierter Bildungsräume anbieten. Für Empowerment-Räume, die sie „gemeinsam mit und für migrantische und PoC-Akteure*innen unterschiedlicher sozialer Milieus und formaler Bildungsgrade“ schaffen, betonen sie die Relevanz der „Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie“ sowie die „Sichtbarmachung der Geschichte/n der eigenen Community/Communities“ und ihrer „Errungenschaften“ (ebd.: 26).
Da das Wissen über die „‚eigene Geschichte‘“ sowie analytische Werkzeuge und Wissen über Rassismus und mögliche Widerstandsstrategien nicht in den „klassischen Bildungsinstitutionen“ (ebd.) vorkommen, sind solche Empowerment-Prozesse umso wichtiger. Wissen über die Geschichte von Befreiungsbewegungen und über „das selbstbewusste Handeln anderer Menschen of Color“ kann zur Entwicklung eines starken „Selbstverständnis“ beitragen, mit dem auch die „eigenen Widerstandskämpfe in Vergangenheit und Gegenwart“ (ebd.) in einem anderen Licht erscheinen. Zur Erreichung oder dem Ausbau von Handlungsfähigkeit betont KARFI dabei die Relevanz davon, „sich zu vernetzen, zu organisieren, gemeinsam aktiv zu werden, sich einer Community anzuschließen, wenn es eine gibt, oder eine Community zu begründen“ (ebd.: 26 f.).
Dafür ist auch die „Überwindung der Sprachlosigkeit“ von entscheidender Bedeutung, denn „das Ausdrücken und Teilen von Diskriminierungserfahrungen sind wichtige Strategien für den Empowerment-Prozess“ (ebd.: 27). Teil eines solchen Prozesses ist dabei auch, über die Räume selber bestimmen zu können.
„Für uns gehört auch das bewusste Grenzen setzen dazu. Nicht nur in Bezug darauf, welche Fragen wir beantworten, sondern eben auch darauf, wie wir uns entscheiden, welche Räume, Kontakte, Kontexte uns gut tun und welche nicht. Welche bringen uns in unserem politischen Anspruch voran, welche nicht? Und auch wenn wir präsent sind und unsere Stimme erheben, Gesicht zeigen, Raum einnehmen, unbequem bleiben, tun wir das in einem wohlüberlegten, abgestimmten und für uns empowernden Sinne.“ (ebd.)
Eine Strategie besteht dabei für KARFI darin, Bündnisse – auch mit weiß geprägten Zusammenhängen – zu schließen, da solche Bündnisse wichtig sind, um ihr Anliegen einer „gesamtgesellschaftliche[n] Veränderung“ (ebd.: 21) zu verfolgen.
Dabei formulieren sie aber vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mit der Zusammenarbeit mit weiß dominierten, insbesondere linken und antirassistisch motivierten Zusammenhängen klare Bedingungen, die die Voraussetzung solcher Bündnisse darstellen. Ihre Erfahrungen bestehen unter anderem darin, dass in Konfliktsituationen weiße Bündnispartner_innen oft dieselben Mechanismen anwenden, die „bei den politischen Gegenspieler*innen kritisiert“ (ebd.) werden.
„Was wir beobachten ist, dass in diesen Bündnissen die Schwarzen und Mitstreiter*innen of Color oftmals nicht als Gesprächspartner*innen, als Persönlichkeiten, als politisch Handelnde ernst genommen werden, sondern dass sie lediglich als legitimierende Objekte betrachtet werden, die von den Erfahrungen der weißen Linken lernen können.“ (ebd.)
Ich diskutiere dies vor dem Hintergrund der Annahme, dass weiß positionierte Menschen, die sich für eine dekoloniale politische Bildung einsetzen und dafür engagieren, als eben solche (potenziellen) Bündnispartner_innen angesehen werden sollten. Aus einer weiß positionierten Perspektive halte ich es für wichtig, diese Forderungen zu einem zentralen Ausgangspunkt der Konzeption und Reflexion der eigenen Theorie und Praxis zu machen. Vor dem Hintergrund ihrer Beobachtungen formuliert KARFI drei Bedingungen:
„Was es zum Bestehen solcher Bündnisse bräuchte, wären unserer Meinung nach mindestens drei Dinge:
1)
eine kritische Selbstbefragung und eine ehrliche Beantwortung bzgl. der eigenen Motivation für die politische Arbeit sowie selbstkritisches Hinterfragen von Sprache, unausgesprochenen Codes und Annahmen,
2)
ein Aufspüren der eigenen Widerstände wenn mensch diese aufgezeigt bekommt und,
3)
dass mensch mit den Bündnispartner*innen gemeinsam eine Sprache findet und prüft, ob es gemeinsame Ziele gibt, ob diese nur punktuell geteilt werden oder ob die Interessen soweit divergieren, dass es ehrlicher ist, nicht zusammenzuarbeiten.“ (ebd.)
Vor diesem Hintergrund werde ich mich im folgenden Abschnitt mit den Fragen weißer Selbstreflexion und möglichen Formen solidarischer Praxis und Formen von Bündnissen aus weißer Perspektive auseinandersetzen.
4.2.3.1.5 Weiße Rassismuskritik: Von Reflexivität, Verbündetsein und Allianzen
Beverly Tatum plädiert für ein Verständnis von einem Lehren und Lernen über Rassismus, das als ein Bündnis von „empowered people of color and their white allies“ (Tatum 1994: 474) begriffen werden sollte. KARFI stellt heraus, was es für solche Bündnis – und insbesondere auch weiße allies darin – braucht: „Es braucht zunächst eine fundierte Analyse rassistischer Dynamiken und Handlungspraxen, in die wir alle hineinsozialisiert worden sind und die einer aktiven Verabschiedung bedürfen, um Bündnisse des Widerstands und der Solidarität zu schaffen.“ (Bendler/Digoh-Ersoy/Golly 2019: 17) Für weiß positionierte Menschen braucht es also zunächst rassismuskritische Bildung, um Teil eines solchen Bündnisses werden zu können.
Rassismuskritik verstehe ich hier mit Mecheril und Melter (2010) als eine Praxis, die ihrem ‚Gegenstand‘ nicht äußerlich ist, nicht von außen auf ihn herabschauen kann, da alle beteiligten Subjekte irreduzibel mit Rassismus verwoben sind. Dabei beziehen die beiden sich auf einen Kritikbegriff von Foucault, der Kritik als „die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1978b: 12) fasste. Rassismuskritik kann also als die Kunst verstanden werden, nicht dermaßen von Rassismus regiert zu werden. Paul Mecheril und Claus Melter nähern sich einer Definition von Rassismuskritik in diesem Sinne als das „Bestreben, nicht dermaßen dem Ensemble rassistischer Deutungs- und Handlungsschemata unterworfen zu sein […]“ (Mecheril/Melter 2010: 172). Davon ausgehend kommen sie zu einer weiteren Bestimmung:
„‚Rassismuskritik‘ heißt: zum Thema machen, in welcher Weise, unter welchen Bedingungen und mit welchen Konsequenzen Selbstverständnisse und Handlungsweisen von Individuen, Gruppen, Institutionen und Strukturen durch Rassismus vermittelt sind und Rassismen stärken.“ (ebd.)
Dabei wird beispielsweise von KARFI herausgestellt, dass das Betreiben von Rassismuskritik nicht für alle gleich, sondern sich vielmehr in Bezug zur durch rassistische Strukturen verursachte Positionen deutlich unterscheidet. Während die einen schmerzhafte, verobjektivierende und diskriminierende Rassismuserfahrungen machen, werden die Anderen, die Weißen, durch diese Strukturen privilegiert. In Bezug auf rassismuskritische Aktivist_innen oder Bildungspraktiker_innen bedeutet dies unter anderem auch, dass Rassismus für die Weißen ein ‚Thema‘ darstellt, das sie engagiert verfolgen, aber temporär oder in der Zukunft auch wieder sein lassen können, wenn beispielsweise eine „Lohnarbeitsstelle in Vollzeit angetreten wird oder die Versorgung von Kindern in den Mittelpunkt rückt“ (Bendler/Digoh-Ersoy/Golly 2019: 20). Dieses Privileg haben nicht-weiße Akteur_innen nicht; für sie „gibt es keinen Rückzug, keine Möglichkeit des Ausblendens – und sei es nur für gewisse Zeit“ (ebd.).
Für Weiße ist Rassismuskritik und ein „verantwortungsvoller reflektierter Umgang“ mit ihr dabei auf eine spezifische Weise ein „ungewohnter und komplizierter Akt“ (Bönkost 2013: 39), was Joan Lester wie folgt formuliert:
„Acting as an ally is a tricky business, for there is a fine line between being an effective ally, and taking over someone else’s struggle. As whites, we are so used to thinking that we should be in charge […] that we often don’t recognize when we are acting on that supremacist belief.“ (Lester 1987: 7)
Rassismuskritische Praxis bedeutet vor diesem Hintergrund auch, Kontrolle und Macht abzugeben. „We become barriers instead of allies when we want to maintain control.“ (Kendall 2006: 186) Für weiß positionierte Rassismuskritiker_innen geht es dabei aus meiner Sicht darum, die durch weiße Subjektivierung verinnerlichten Selbstverständnisse, Selbstverständlichkeiten, Selbstsicherheiten, Deutungshoheiten und Definitionsmacht auf ihre Verwobenheit mit Rassismus hin zu befragen. Dabei besteht eine zentrale Strategie auch darin, zu lernen, sich zurückzunehmen, zuzuhören und Räume zu lassen. Dementsprechend zielt ein Prozess des Werdens eines Verbündeten nicht darauf, den Reflexionsprozess ‚abzuschließen‘ und dann autonom und unabhängig rassismuskritische Praxis zu betreiben. Eine kritische Reflexion des eigenen Weiß-Seins beinhaltet vielmehr „die Einsicht, immer auch nicht zu wissen“ und das Erkennen, „Rassismus nicht zu kennen“ (Bönkost 2013: 28, Herv. i. O.) Dies hat auch Konsequenzen für eine rassismuskritische Praxis: „Folglich umfasst sie immer auch das Eingestehen, auch nicht am besten zu wissen, was Rassismus entgegengesetzt werden kann. Dies läuft der weißen Erfahrung entscheidend zuwider.“ (ebd.)
Dies bedeutet keinesfalls Inaktivität oder aber die Abgabe der Verantwortung an People of Color. Ganz im Gegenteil geht es darum, eben auch dann in weiß dominierte Zusammenhänge zu intervenieren, wenn keine People of Color anwesend sind. Dabei muss bedacht werden, dass eine Inaktivität keinesfalls eine neutrale Position darstellt: „There is no neutral position to take; one either decides to work against it or to go along for the ride.“ (Allen 2004: 130) Als weiße Verbündete – so Beverly Tatum – agieren weiße Personen dann, wenn sie ihre weißen Privilegien und Macht für einen Abbau der Privilegienungleichheit einsetzen (Tatum 2007: 37). Diese Macht kann dabei unter Umständen für die Intervention in weiß dominierte Räume andere Wirkungsweisen entfalten, als die von People of Color. Joan Lester schreibt in diesem Sinne:
„As whites, we have our own power to intervene in other white peoples’ actions and sometimes attitudes, which is a different power from the strength of those who organize or act against oppressions of themselves. We can often be heard, on the topic of racism, where a person of color couldn’t be.“ (Lester 1987: 7)
Virulente Muster der Abwehr von Rassismuskritik bestehen darin, die als People of Color positionierten Kritiker_innen als übersensibel und betroffen abzuwerten sowie damit ihre Wahrnehmung infrage zu stellen. Diese Abwehrstrategien werden untergraben, wenn Weiße rassismuskritisch intervenieren und dabei ihre Definitionsmacht einsetzen: „Others can’t rationalize away the information with the explanation ‚she is just oversensitive’ when an ally is speaking up about an experience which doesn’t directly target her.“ (ebd.)
Eine andere Form als verantwortlich handelnde Verbündete zu agieren, stellt das Powersharing dar, in der es um die Umverteilung von Macht geht. Es kann als „Pendant zum Empowerment-Konzept“ (Bönkost 2013: 40) verstanden werden. Halil Can fasst diesen Ansatz folgendermaßen zusammen: „Dies bedeutet, aus der Position von Machtdominanz als solidarisches Prinzip die verfügbaren Ressourcen und Privilegien in positiver und stärkender Wirkung – hier im Sinne von People of Color – zu nutzen, zu teilen oder abzugeben.“ (Can 2013: 37) Diesem Ansatz folgend kann der Verzicht von Weißen auf ihre weißen Privilegien ermächtigend für auf People of Color wirken. Jule Bönkost stellt heraus, dass „Powersharing kein Akt des Wohlwollens“ (Bönkost 2013: 40, Herv. i. O.) sein darf. Es ist wichtig, dass das Abgeben von Privilegien – was durchaus ein schmerzvoller Prozess sein kann – dabei im eigenen Interesse erfolgt (ebd.). Andernfalls besteht die Gefahr der Reproduktion eines paternalistischen Verhältnisses, mit dem auch eine Objektivierung des dann zum Hilfenehmenden Degradierten einhergeht. Bevor ich dieses eigene Interesse von Weißen diskutiere, möchte ich einige weiße Abwehrstrategien benennen, die auch von Weißen immer wieder verwendet werden, für die Rassismuskritik ein zentraler Bestandteil ihres Selbstverständnisses ist.
Eine Praxis als rassismuskritische, weiße Verbündete baut auf der Bereitschaft zur Machtabgabe auf. Das ist manchmal – wie ich auch in Bezug auf mich sagen kann – kein ganz einfaches oder widerstandsfreies Unterfangen. Grada Kilomba identifiziert mit Bezug auf Paul Gilroy fünf verschiedene Mechanismen, die insofern als Stufen interpretiert werden können, als das normative Ziel die fünfte Stufe darstellt, und insofern nicht als Stufen interpretiert werden sollten, als das dies keinen abschließbaren, abhakbaren Prozess darstellt, durch dessen ‚Abschluss‘ man eine Stufe erreicht hätte:
„In a public speech Paul Gilroy described five different ego defense mechanisms the white subject goes through in order to be able to ‘listen’, that is in order to become aware of its own whiteness and of itself as a performer of racism: denial/guilt/shame/recognition/reparation.“ (Kilomba 2008: 20)
Verleugnung, Schuld, Scham, Anerkennung und Wiedergutmachung können dabei durchaus gleichzeitig oder in verschiedenen Kontexten spezifische Formen annehmen. Die Anerkennung der eigenen Verstrickung in Rassismus umfasst nach Kilomba auch ein Aufgeben der Deutungshoheit, „wie das Eigene und ‚die Anderen’ beschaffen sind“ (Bönkost 2013: 38). Damit einher geht die Anerkennung des Subjektstatus der ‚Anderen‘. In der Anerkennung im Sinne Kilombas sehe ich bereits eine die weiße Dominanz untergrabene Praxis, mit der ‚wir‘ aufhören, wissen zu meinen, was ‚die Anderen‘ wollen und vielmehr lernen zuzuhören. Dafür braucht es auch die Anerkennung der eigenen Perspektivität als weiß positioniertem Mensch, die Anerkennung der eigenen Wissenslücken und den Willen, eigene Verunsicherungen auszuhalten. Die Anerkennung vorausgesetzt, besteht das Ziel einer Wiedergutmachung in einer Praxis des Verbündet-Seins: “Reparation […] is the act of repairing the harm caused by racism by changing structures, agendas, spaces, positions, dynamics, subjective relations, vocabulary, that is, giving up privileges.” (Kilomba 2008: 22, Herv. i. O.)
Es gibt zahlreiche Ausweichstrategien, die ein solches Ziel verunmöglichen. Jule Bönkost sieht den Grund für diese Ausweichstrategien in der „Vermeidung der unbequemen Konsequenzen, die eine Auseinandersetzung mit Rassismus für uns mit sich bringt“ (Bönkost 2013: 14). Unbequem sind sie deswegen, weil sie eine Angst davor hervorrufen können, dass eine Rassismuskritik so weit geht, dass sie tatsächlich das eigene Selbstverständnis delegitimiert und als selbstverständlich empfundene Privilegien untergräbt. “There is an apprehensive fear that if the colonial subject speaks, the colonizer will have to listen. It would be forced into an uncomfortable confrontation with ‘Other’ truths.” (Kilomba 2008: 21) Grada Kilomba analysiert diese Zusammenhänge aus psychoanalytischer Sicht. Dieses aktive Fernhalten anderer Wahrheiten interpretiert sie als eine Verdrängungsleistung des weiß positionierten Subjekts. „It is that process by which unpleasant truths are rendered unconscious due to the extreme anxiety, guilt or shame they cause.“ (ebd.) Sie stellt fest, dass es nicht so sei, dass die rassialisierten ‚Anderen‘ nicht gesprochen hätten, sondern vielmehr wurden ihre Stimmen durch Rassismus systematisch unhörbar gemacht (ebd.).
“This impossibility illustrates how speaking and silencing emerge as an analogous project. The act of speaking is like a negotiation between those who speak and those who listen, that is, between the speaking subjects and their listeners. Listening is, in this sense, the act of authorization towards the speaker. One can (only) speak, when one’s voice is listened. And those who are listened, are also those who belong, as well as those who are not listened, become those who ‘do not belong.’ The mask re-creates this project of silencing, it controls the possibility that the colonized might one day be listened and consequently might belong.” (ebd.)
Konfrontiert mit diesen unbequemen Wahrheiten führt der Prozess der Verdrängung – der eben kein Nicht-Wissen, sondern eine psychische Praxis darstellt – zu Abwehr.
“When confronted with these unpleasant truths, the white subject commonly argues: ‘not to know...,’ ‘not to understand...,’ ‘not to remember...’ or ‘not to believe...’. These are expressions of this process of repression, in which the subject resists making the unconscious information, conscious. That is, one wants to make the known, unknown.” (ebd.)
Daraus folgt die Herausforderung für weiße Subjekte, die rassismuskritisch agieren wollen, diese Verdrängung zu unterlassen, sie aufzuarbeiten und sie als solche intelligibel zu machen. Im Zuge dieser Auseinandersetzung müssen auch negative Gefühle zugelassen werden, die durch den Kontrollverlust ausgelöst werden. Statt diese Gefühle zu unterdrücken und damit wiederum Prozesse der Verdrängung zu ermöglichen, müssen sie einen Raum in Bildungsprozessen haben.
Ein häufig zu beobachtender Mechanismus ist, dass diese nicht ‚bearbeiteten‘, negativen Gefühle auf rassistisch diskriminierte Menschen umgeleitet und – um im Kontext der Psychoanalyse zu bleiben – projiziert werden. Im Sinne dieser Projektion erscheinen die People of Color, die weiße Vorherrschaft infrage stellen, als die Ursache des Problems, statt als diejenigen, die das Problem – nennen wir es Rassismus – aus dem Zustand der Unbesprechbarkeit und Normalisierung herausholen und auf die politische Tagesordnung setzen. Dies führt nicht nur zu einer Dethematisierung von Rassismus durch Weiße, sondern auch zu verletzendem Verhalten gegenüber People of Color.
Ein weiterer Mechanismus der Dethematisierung der eigenen, weißen Verstricktheit betrifft insbesondere rassismuskritisch engagierte, weiß positionierte Menschen. Hytten und Warren nennen diesen Mechanismus den „discourse of fix-it“ (Hytten/Warren 2003: 75 f.). Dieser Mechanismus baut auf der Annahme auf, die „Komplexität der diskursiven Wirkungsweise von Weißsein (bereits) zu durchschauen“ (Bönkost 2013: 29). Dies ermöglicht einem weiß positioniertem Subjekt, die eigene Verstricktheit zu verleugnen, da diese als überwunden ausgegeben wird. Ein weißer Reflexionsprozess über die Verstricktheit in rassistische Verhältnisse kann jedoch niemals abgeschlossen sein, zum einen, weil Rassismus kein individuelles Problem darstellt und er auch unabhängig von unseren Intentionen und Praxen wirkt, zum anderen, weil das Wissen von Weißen über Rassismus immer auch auf Unwissen aufbaut. Der Glaube, es verstanden zu haben, ist schon mit einem weiß positioniertem Begehren nach Rückgewinnung der Kontrolle verbunden und muss als solches problematisiert werden.
Ein Dilemma für die weiße Reflexion über Rassismus und die eigene Verstricktheit darin resultiert daraus, dass Rassismus unmöglich in einem weiß-weißem Selbstgespräch analysiert werden kann, da Perspektiven von People of Color eine unumgänglich Ressource für rassismuskritische Weiße sind und die Grundlage für eine solche Reflexion darstellen. Gleichzeitig kann es als eine Zumutung gesehen werden, die Bearbeitung der weißen Psychopathologien People of Color zu überlassen. Dies kann verletzend sein und am Ende dreht sich wieder alles um das weiße Subjekt, das von den Perspektiven von People of Color profitiert – so wie ich in meiner akademischen, den hier vorliegenden Text eingeschlossen, und meiner politischen Praxis. Dieses Dilemma kann nicht aufgelöst, sollte aber dauerhaft für das eigene Handeln sowie die Konzeption von Bildungsräumen einbezogen werden. Die Rollenzuweisung von People of Color als Trainer_innen – oder Psycholog_innen – der weißen Subjekte kann problematisch sein und Weiße sollten sich auch nach anderen Methoden umsehen – das Wissen verbündeter Weißer als Ressource, Bücher und Videos von People of Color oder ähnliches – um die eigenen Bildungsprozesse weiterzubringen.
In Bezug zu Beverly Tatum thematisiert Jule Bönkost das Problem, dass eine rassismuskritische Reflexion nicht in die gegenwärtige Form institutionalisierter Bildungsräume passt.
„You can’t bring a complex conversation about race to closure in the two hours of a single afternoon workshop [...]. Too often what is accomplished in that period of time is just enough to generate anxiety, and anxiety often leads to avoidance. Put simply, ‚I don’t want to talk about it’ becomes a common response.“ (Tatum 2007: 124)
Institutionalisierte Bildungsräume, die auf schnelle, messbare und verwertbare „Outcomes“ (Andreotti 2011a: 395) setzen, stehen im Kontrast zu dieser Art von Bildungsprozessen, in denen es Raum für Verunsicherungen, den Umgang mit negativen Gefühlen und Reflexionsprozesse braucht. Bönkost stellt heraus, dass „vorübergehende oberflächliche Auseinandersetzung mit Rassismus in Diversitätstrainings und antirassistischen Trainings“ sogar „kontraproduktiv“ (Bönkost 2013: 27) wirken können. Die mit diesen Lernprozessen verbundenen negativen Emotionen rufen dabei oft Widerstand der Lernenden hervor. Eine lebenslange Sozialisation als Weißer ist eben nicht einfach abzuschütteln oder zu „‘entlernen‘“ (ebd.) – vielmehr müssen solche Lernprozesse als unabschließbar verstanden werden. Bönkost plädiert in ihrem offenen Brief
Liebe weiße
Mitmenschen – Statements von weiß
zu weiß dafür ein Klima der Fehlerfreundlichkeit zu schaffen, was ich in Bezug zur Konzeption von weißen Bildungsräumen als zentral ansehe, in denen das eigene Weiß-Sein problematisiert wird:
„Wir müssen uns selbst und anderen gegenüber fehlerfreundlich sein, uns eingestehen, dass wir niemals vollkommen rassismusfrei handeln können. Wir müssen Rassismus so gut wir können herausfordern und dabei Spannungen aushalten, anstatt ein rassismusfreies Verhalten anzustreben. Das ist kein Freifahrtschein für unreflektiertes und rassistisches Verhalten. Wir müssen unser Handeln kontinuierlich überprüfen und Verantwortung dafür übernehmen, aus unseren ‚Fehlern‘ zu lernen.“ (Bönkost 2020)
Vor diesem Hintergrund müssten im Sinne einer dekolonialen Bildung die bildungsinstitutionellen Settings grundlegend verändert werden, die es ermöglichen, Rassismus zu einem dauerhaften (Querschnitts-)Thema zu machen, in denen auch selbstreflexiv die institutionellen Praxen thematisiert werden können. Dies stellt eine Voraussetzung dar, um rassismuskritische Bildung für weiß positionierte Lernende nachhaltig zu realisieren. „You have to give enough to make some real progress, to get past the initial discomfort, and persist to the point where you can really begin to see the benefits.“ (Tatum 2007: 125).
Worin bestehen aber die eigenen Vorteile? Was sind also mögliche Motivationen für weiß positionierte Menschen, sich selbst mit diesen oft unbequemen Fragen zu beschäftigen? Die Auseinandersetzung – Beantwortung erscheint mir hier, jedenfalls für mich, zu hoch gegriffen – mit diesen Fragen ist zentral für eine weiße rassismuskritische (Bildungs-)Praxis. Diese Auseinandersetzung wird, wie im letzten Abschnitt gezeigt, auch beispielsweise von KARFI als Bedingung für Bündnisarbeit mit rassismuskritischen Weißen (Bendler/Digoh-Ersoy/Golly 2019: 21), aber auch von weißen Rassismuskritiker_innen (Bönkost 2019: 84) eingefordert. Dies setzt zum einen eine intensive und dauerhafte Auseinandersetzung mit Rassismus als Herrschaftssystem voraus, da sich die „Idee des Verbündet-Seins“ als „spezifische Form von Solidarität […] gegen Macht- und Herrschaftsverhältnisse und die dadurch hergestellte Exklusion“ (Perko/Czollek 2014: 153) richtet und nur im Zusammenhang mit diesen Verhältnissen verstanden werden kann. Im Sinne eines normativen Begehrens von Social Justice kann Verbündet-Sein dann als eine Form der „politischen Freundschaft“ verstanden werden, „wo die Anliegen der Anderen die je eigenen Anliegen sind“ (ebd.). Vor dem Hintergrund dieser durch Freundschaft verbundenen Anliegen kann auch das eigene Glück und das eigene Streben nach einer gerechteren Welt nicht ohne die Befreiung der (rassialisierten) ‚Anderen‘ gedacht und gefühlt werden. Auch wenn ich diesen von mir hier formulierten Gedanken für zutreffend halte, ist er doch viel zu kurz gedacht, da er tautologisch das Resultat – politische Freundschaft und verbundene Anliegen – als Ursprung präsentiert und sich ergebende Widersprüchlichkeiten ausklammert. Ein_e verbündete_r Weiße_r ist nicht nur Verbündete_r, sondern bleibt weiß positioniert. Aus meiner Sicht kann autobiographische Auseinandersetzung hier hilfreich bzw. ein möglicher Zugang sein, um – vielleicht nicht die Antworten zu finden – aber zumindest relevante Fragen zu stellen.
In einem solchen Prozess verstehe ich „das ‚Ich‘, das hier schreibt, selbst als ein ‚artikuliertes‘“ (Stuart Hall 1990: 26), was die Sache zusätzlich verkompliziert. Wenn Stuart Hall davon schreibt, dass „wir alle […] einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit, eine spezifische Geschichte und Kultur, von denen aus wir schreiben und sprechen“ und das, „was wir sagen, […] immer ´in einem Kontext´“ steht und „positioniert“ (ebd.) ist, so ist die Bestimmung dessen nicht mit der Benennung allgemeiner gesellschaftlicher Verhältnisse, wie etwa Weiß-Sein in rassistischen Verhältnissen, abgetan. Das sich artikulierende und selbst artikulierte ‚Ich‘ gelangt im Zuge von Reflexionsprozessen nicht zu einem ‚Bewusstsein‘ seines Selbst, sondern erfindet vielmehr eine Erzählung oder mehrere Erzählungen, mit denen wiederum das ‚Ich‘ oder ein ‚Ich‘ der Gegenwart artikuliert wird.
Ein in seiner Artikulation auf Selbstlegitimation zielendes ‚Ich‘ könnte über ‚mich‘ zum Beispiel folgende Geschichte erzählen: Es war einmal ein weiß positioniertes Subjekt, mein früheres ‚Ich, das in weißen Zusammenhängen antikapitalistisch und internationalistisch motiviert und engagiert von einer besseren Welt träumte. Auf der Suche nach revolutionären Subjekten und Verbündeten – getragen von dem Wunsch der Selbstinszenierung als transnational vernetztes und informiertes Subjekt – ging ich zahlreiche Arbeitsbündnisse in vor allem antirassistisch Ausgerichteten Gruppen ein. Dies hat dazu geführt, dass ich mich zahlreichen – auch schmerzhaften und anstrengenden, für sich, aber besonders für die anderen – Auseinandersetzungen stellen musste, aber auch, dass ich zahlreiche soziale Beziehungen entwickelte, die von politischer und persönlicher Freundschaft bis zu Familie und Liebe (Apraku 2019) reichten, die es mir von da an unmöglich machten, meine Anliegen als nicht geteilt wahrzunehmen; die es von da an unumgänglich machten, mein eigenes Glück als irreduzibel verbunden mit den rassialisierten ‚Anderen‘ zu sehen und mich dazu motivieren, mich tagtäglich den auch unangenehmen Auseinandersetzungen zu stellen. Die Verletzungen der rassialisierten ‚Anderen‘ verspüre ich als durch Freundschaft verbunden selbst – wenn auch nicht in dem Maße und nicht auf die gleiche Weise – als eigenen Schmerz, der es mir unmöglich macht, mich angesichts dieser wohl zu fühlen.
Ein in seiner Artikulation auf Selbstdelegitimation zielendes ‚Ich‘ könnte eine andere Geschichte erzählen: Es war einmal ein weiß positioniertes Subjekt, mein früheres ‚Ich‘, das durch seine politische Arbeit in Widersprüche geriet bzw. vielmehr durch Schwarze Menschen und People of Color mit der eigenen Position konfrontiert wurde und dadurch eigene Selbst- und Weltwahrnehmungen infrage zu stellen begann. Die anfängliche Verunsicherung, die eine tiefe Freundschaft und gemeinsamen Aktivismus mit People of Color ermöglichte, wich durch die akademische Arbeit einem Gefühl, Bescheid zu wissen. Seitdem mache ich – ausgehend von den Wissensressourcen, die ich dank meiner Freund_innen of Color erworben habe – mit rassismuskritischen Perspektiven Karriere (mehr oder weniger zumindest). Während meine Freund_innen of Color nun zum Teil als Sozialberater_innen, Gärtner_innen oder Küchenkräfte arbeiten, profiliere ich mich mit dem durch sie gewonnenen Wissen im akademischen Raum. Meine weiße Privilegierung und meine Klassenposition habe ich genutzt, um mir – profitierend von den Wissensressourcen meiner Freund_innen – eine berufliche Zukunft zu ermöglichen. Ich bin sehr gut darin, meinen Aktivismus und mein Handeln als rassismuskritisch zu inszenieren, dies kaschiert jedoch eher meine weiterhin bestehende Verstrickung in rassistische Machtverhältnissen. Trotz jahrelanger Auseinandersetzungen zwinge ich sogar – oder eher insbesondere – meine engsten und intimsten Freund_innen immer wieder dazu, mir meine weißen Abwehrmechanismen vor Augen zu führen – wenn es zu unangenehm wird, habe ich nichts gehört oder gesehen und bin handlungsunfähig – und in aufreibende Auseinandersetzungen zu gehen.
Das war ein für mich persönlich gutes Beispiel, wie die Prozesse der eigenen Selbstreflexion unangenehm sein können, da die Annahme der zweiten Geschichte für mich unerträglich erscheint, obwohl vermutlich viele dieser Punkte auf eine gewisse Weise zutreffen. Doch ich stimme hier Francis Kendall zu, wenn sie vom Unangenehmen und Angenehmen bzw. Unbequemen und Bequemen ((un-)comfortable) schreibt: „The task is […] to become ‚comfortable with the uncomfortable und uncomfortable with the too comfortable.‛“ (Kendall 2013: 145) In diesem Sinne macht es aus meiner Sicht Sinn, sich selbstkritische Fragen manchmal so unangenehm wie möglich zu stellen.
Die Relevanz der unangenehmen Fragen – des Unbequemwerdens – gilt dabei nicht nur für die Reflexion autobiographischer Erzählungen oder persönlichen Handelns, sondern ebenso für die theoretischen Prämissen, in denen diese Erzählungen und Handlungen stattfinden. Diese Befragung der theoretischen Prämissen gestaltet sich für mich oft als schwierig. In der Auseinandersetzung erscheint es mir oft ununterscheidbar, was weiße Abwehrmechanismen und was sinnvolle Kritik ist. Zum einen macht es Sinn, entgegen der weißen Sozialisation und des damit verbundenen Habitus, die ‚Wahrheit‘ zu kennen und es ‚besser‘ zu wissen, zu lernen, zuzuhören und Dinge annehmen zu lernen. Zum anderen gibt es aber keine ‚Wahrheit‘. Angesichts der Vielfältigkeit von Perspektiven von Schwarzen Menschen und People of Color muss ich mich der Schwierigkeit dieser Auseinandersetzung stellen, auch wenn dies mit großen Unsicherheiten verbunden ist. Es kann eben auch eine Art sein, bequem zu werden, wenn beispielsweise die rassismuskritischen Kategorien, wie weiß und Schwarz, zu fixen Kategorien werden und dadurch die Rolle des Verbündet-Seins klar und ausbuchstabiert erscheint. Hier besteht aus meiner Sicht die Gefahr der Reduktion eines komplexen Problems, da Rassismus kein abgeschlossenes Phänomen ist, sondern als soziales Verhältnis durch Fragen der sozialen Klasse, Gender und die internationale Arbeitsteilung sowie die Frage des Politischen überdeterminiert ist bzw. diese überdeterminiert. Vor diesem Hintergrund halte ich eine kritische Befragung der hier beschriebenen Ansätze für zielführend, der ich mich in den kommenden Abschnitt widme. Dabei kann der Verweis auf andere Herrschaftsformen auch als Dethematisierung von Rassismus interpretiert werden, obwohl dies nicht in meinem Sinne ist. Diese Befragung zielt nicht auf die Delegitimation oder Abkehr von den hier erörterten Ansätzen. Vielmehr ist es der Versuch, zum einen meine Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen durch die Referenz auf Kritik zu vertiefen, zu schärfen und zu differenzieren, zum anderen den eigenen Rahmen rassismuskritischer Reflexion eher als Spannungsverhältnis, denn als fertiges Theoriegebäude zu begreifen.
4.2.3.1.6 Gedanken zu den Fallstricken von Critical Whiteness
Für die Konzeption von rassismuskritischen, selbstreflexiven Bildungsräumen stellen einige Ideen des Ansatzes von Critical Whiteness einen wichtigen, zentralen und unhintergehbaren Bezugspunkt dar. Allerdings hat diese Perspektive auch ihre Fallstricke und Begrenzungen, die ich im Folgenden aus meiner Perspektive skizzieren werde. Chandra Mohanty kritisiert an einem von ihr beobachteten Bildungssetting, dass dort die binäre Codierung Bildungsmöglichkeiten verschließt: „Potentially this implicitly binary construction (Third World students vs. white students) undermines the understanding of coimplication that students must take seriously in order to understand ‚difference‘ as historical and relational.“ (Mohanty 2013: 203) Ihr Konzept der Ko-Implikation aller Subjekte schreibt sie auch vor dem Hintergrund der Reflexion ihrer eigenen Erfahrungen, dass sie sich je nach Kontext innerhalb des Hindu-Kasten-Systems in Indien, der nigerianischen Gesellschaft und der – sich wandelnden – US-amerikanischen Gesellschaft ganz unterschiedlichen Zuschreibungen ausgesetzt sah und unterschiedliche Selbstpositionierungen entwickelte (ebd.: 127 ff.). Auch vor diesem Hintergrund beschreibt sie ihr Konzept der Ko-Implikation folgendermaßen:
“Coimplication refers to the idea that all of us (First and Third World) share certain histories as well as certain responsibilities: ideologies of race define both white and black peoples, just as gender ideologies define both women and men. Thus, while ‘experience’ is an enabling focus in the classroom, unless it is explicitly understood as historical, contingent, and the result of interpretation, it can coagulate into frozen, binary, psychologistic positions.“ (Mohanty 2003: 203)
Sie thematisiert die Gefahren einer trennenden Bildungspraxis, da die Komplexität der situierten Subjekt- und Wissenskonstellationen möglicherweise durch eine spezifische individualistische Kodifikation und Kommodifizierung von rassialisierten Subjektpositionen und damit einem ‚kulturellen‘ Pluralismus überschrieben werden könnte (ebd.). Sie verwendet bewusst die Möglichkeitsform in ihrer Kritik. Chandra Mohanty lehnt als Feministin nicht die Idee ab, dass es selbstorganisierte Frauenzusammenhänge geben sollte, obwohl Männer ebenso sehr durch patriarchale Strukturen geprägt sind, wie Frauen. Dies gilt in ähnlicher Weise für den Zusammenhang von Rassismus. Aber ebenso, wie sie die Kategorisierung Frau als politisches Subjekt aus postkolonialer Perspektive – beispielsweise in ihrem berühmten Text Under Western Eyes (ebd.: 17–42) – kritisch in den Blick nahm, warnt sie in solidarischer Weise vor der Gefahr der Essenzialisierung und Homogenisierung durch die Organisierung entlang von rassialisierten Differenzlinien. Dies könnte auch ausgehend von weitgehenden Ausschlussprozessen von ost- und südosteuropäischen Migrant_innen aus den POC-Zusammenhängen diskutiert werden. Dabei können außerdem auch andere Differenzlinien übergangen und zugunsten der rassialisierenden Logik dethematisiert werden, wie etwa Klasse und Verortung in der internationalen Arbeitsteilung.
Es gibt in einer Auslegung von Critical Whiteness, die in Deutschland möglicherweise zur verbreitetsten gehört, eine Tendenz, die Benennung der Positionierung in den Mittelpunkt – Ausgangs- und Endpunkt – dieser reflexiven Praxis zu stellen. Aus der Perspektive von politischer Bildung kann diese Reduktion auf die Selbstreflexivität als problematisch erscheinen. In dieser Praxis werden nicht nur Ungleichheiten der sozialen Klasse und die Reichtumsverteilungen oft unsichtbar. Dabei würden sich ausgehend von den Schüler_innenvorstellungen zahlreiche Anknüpfungspunkte finden, wie rassifizierte Unterscheidungspraxen in einem Verhältnis zu sozialen Ungleichheiten stehen – ob in Bezug auf globale Ungleichheit oder innerhalb der Migrationsgesellschaft. Vielmehr kann diese Form der Selbstreflexivität auch in Bezug auf die von ihr sichtbar gemachten Subjektpositionen und Privilegien im rassistisch strukturierten Raum problematisch sein.
Andrea Smith beobachtet und reflektiert die empirisch stattfindenden Bildungspraxen einer privilegienkritischen Critical Whiteness und sieht hier die Praxis der Beichte an die Stelle der Transformation von Verhältnissen treten: „It did not appear that these individual confessions actually led to any political projects to dismantle the structures of domination that enabled their privilege. Rather, the confessions became the political project themselves.“ (Smith 2013) Innerhalb dieser Praxen der Beichte geständen die Privilegierten ihre Privilegien und ihren Umgang damit, die Nicht-Privilegierten sind dabei temporär in der machtvollen Rolle der Erteilung von Absolution (ebd.). Innerhalb dieser Logik der Privilegien kommt hier denen kulturelles Kapital zu, die am meisten unterdrückt erscheinen. Smith beobachtet hier eine durch das Bildungssetting hervorgebrachte, merkwürdig anmutende Strukturierung des Begehrens bei Weißen: „Consequently, people aspired to be oppressed. […] Consequently, the goal became not to actually end oppression but to be as oppressed as possible.“ (ebd.) Im Zuge dieser Rituale wird zwar temporär ein Machtverhältnis verschoben, letztlich wird aber durch diese Rituale das Weiße, dominante Subjekt als fähig zur Selbstreflexivität neu konstituiert und das kolonisierte oder rassialisierte Subjekt fungiert als Gelegenheit für dieses (ebd.). Die hier inhärente Privilegienlogik verbleibt auf der Vorstellung eines individualisierten Selbst, das den Anderen für seine Konstitution braucht (ebd.).
Vor diesem Hintergrund stellt sich Melanie Bee die Frage, wie und warum Critical Whiteness in einigen Kreisen zu „einem Synonym für antirassistische Arbeit“ (Bee 2012: 25) geworden sei. Sie zeigt, wie der Theorietransfer aus den USA sehr selektiv diesen Ansatz in den deutschen Kontext übersetzte, während es in den USA nur ein Ansatz unter vielen ist. Andere, in der antirassistischen Praxis verbreitetere Ansätze seien dort zum Beispiel „‚white privilege,‘ ‚white supremacy,‘ and ‚accountability‘“, die „zugleich die Rolle des Weißen in antirassistischen Kämpfen“ (ebd.: 24) beschreiben. Während andere Ansätze, die auf die Transformation rassistischer Ungleichheitssysteme zielen, in den sozialen Bewegungen in den USA viel dominanter seien, sei in Deutschland die einseitige Rezeption des Ansatzes Critical Whiteness zu beobachten, die ihren gesellschaftstransformierenden Charakter oft verloren zu haben scheint:
„Wenn die Reflexion über Privilegien nicht mit politischen Aktionen verbunden ist, ist das Ziel nicht mehr soziale Veränderung, sondern die Bildung und Aufrechterhaltung von ‚guten‘ Subjekten, die miteinander um den Status des_der ‚Reinsten‘ und von Herrschaft ‚Befreitesten‘ konkurrieren. Dabei wird der Fokus von sozialen Strukturen auf Individuen, von transformativer auf moralische Politik verlegt.“ (Bee 2013)
In ihrer Wahrnehmung des deutschen akademischen und ‚politischen‘ Kontexten, wie der „linken Szene“ (Bee 2013), sieht sie die Beobachtungen von Andrea Smith bestätigt.
Jule Karakayalı, Vassilis Tsianos, Serhat Karakayalı und Aida Ibrahim haben im Anschluss an die Auseinandersetzungen und Zerwürfnisse auf dem NoBorderCamp 2012 in Köln eine polemische Kritik an der deutschen Rezeption und Praxis des Critical Whiteness-Ansatzes formuliert. In ihrem Artikel
Decolorise it! argumentieren sie aus meiner Sicht zu polemisch und pauschalisierend gegen den Ansatz von Critical Whiteness als solchem, ohne dies als ein vielfältiges und heterogenes Feld anzusehen, nichtsdestotrotz erscheinen mir viele Kritikpunkte als wertvolle Impulse zu einer Diskussion über rassismuskritische und antirassistische Praxen. Ein zentrales Problem des „Whiteness-Konzeptes“ sehen sie darin, dass die Kategorien ‚white‘ und ‚of Color‘ essenzialisiert würden.
„Differenz und rassistische Hierarchie müssen im Sprechen über Rassismus immer sichtbar gemacht werden, die Einteilungen in ‚white‘ und ‚of Color‘ allerdings werden schnell zu Etiketten, die als Labels stabiler Kategorien erscheinen. Spätestens wenn ein Nachweis über die Herkunft der Eltern verlangt wird, zeigt sich, wo das Whiteness-Konzept aufhört, kritisch zu sein.“ (Karakayalı/Tsianos/Karakayalı/Ibrahim 2012)
Sie stellen damit nicht in Abrede, dass Rassismus unterschiedliche Positionierungen produziert und diese die Subjekte präge. Sehr wohl stellen sie aber ein Paradigma infrage, dass die Subjekte darauf reduziere und damit die rassistischen Kategorien verabsolutiere. Durch die das Subjekt auf seine Positionierung im rassistischen Feld festnagelnde Praxis wird subjektive Erfahrung aufgrund der rassialisierten Positionierung gleichgesetzt mit der Subjektivität, womit Handlungsspielräume der Subjekte negiert werden (ebd.). Wenn die Perspektive von rassismuskritischer Bildung ausschließlich darin besteht, die unterschiedlichen Positionen durch selbstreflexive, letztlich individualisierte Prozesse sichtbar zu machen, besteht die Gefahr, die sie ermöglichenden (auch materiellen) gesellschaftlichen Strukturen und das Denken ihrer Transzendierung aus dem Blick zu verlieren. Die Positionen erscheinen so vielmehr als zwar abstrakt historisch entstanden, aber nichtsdestotrotz in Bezug auf die subjektiven Lebenswelten als statisch und nicht überwindbar.
Dabei sehen die Autor_innen von
Decolorise it! auch ein Problem der Bestimmung dessen, was oder vielmehr wer denn als Weiß und of color angesehen wird. Viele, die von Rassismus betroffen sind, werden in Critical Whiteness-Zusammenhängen ausgeschlossen, da sie nicht durch den Kriterien von of Color entsprechen. Menschen aus Russland oder südosteuropäischen Staaten, wie Rumänien oder Bulgarien, die in Deutschland massivem und gewaltvollem Rassismus ausgesetzt sind, werden in Critical Whiteness-Zusammenhängen oft schlicht als Weiß definiert und so aus diesen Zusammenhängen ausgeschlossen. Karakayalı et al. fragen vor diesem Hintergrund, ob durch diese Festschreibung, wer als weiß und of color sowie der damit verbundenen Festschreibung, wer von Rassismus deprivilegiert und wer von Rassismus privilegiert wird, nicht letztendlich wieder rassistische Essenzialisierungen und Unterscheidungspraxen restabilisiert werden, indem Hautpigmentierung zum entscheidenden Differenzkriterium wird. Gerade vor dem Hintergrund des (selektiven) Theorieimports in den deutschen Kontext und der von den USA abweichenden (Kolonial-)Geschichte in Bezug auf Ost- und Südosteuropa (
4.2.1.4) stellt sich die Frage, ob Whiteness hier das angemessene Konzept darstellt. Es scheint als würde – statt die Konjunkturen des Rassismus als Ausgangspunkt zu nehmen – der Kolonialismus Afrikas bzw. die Geschichte der Unterdrückung Schwarzer Menschen in den USA als eine Art Blaupause des Rassismus angesehen, zu dem sich andere Formen des Rassismus in gradueller Abschwächung in Beziehung setzen müssten. Dabei muss aber berücksichtigt werden, dass derlei Quasi-Essenzialisierungen auch als Abwehrreaktion auf rassistische Dethematisierungsstrategien und Relativierungsstrategien zu verstehen und als solche ernst zu nehmen sind. Als vielleicht ausgeprägteste Form solcher Abwehrstrategien von Weißen gegen Rassismuskritik kann aus meiner Sicht die Umkehrung, also die Behauptung eines ‚Rassismus gegen Weiße‘, angesehen werden, die nur auf der Grundlage der Ausblendung existierender Machtstrukturen und mit dem Ziel der Delegitimierung rassismuskritischer Interventionen verstehbar ist.
Eine solche essenzialisierende, dichotome Festschreibung der Kategorien in einigen Rezeptionsweisen von Critical Whiteness steht aber nichtsdestotrotz zum einen in Kontrast zu der empirischen Wirklichkeit, in der die postmigrantischen Lebenswirklichkeiten negiert werden, etwa „unsere Freundeskreise, WGs, Familien, unsere Nachbarschaften, unsere Arbeitsstellen und unsere politischen Zusammenhänge“, die eben nicht „ethnisch segregiert“ (Karakayalı/Tsianos/Karakayalı/Ibrahim 2012) sind. Diese ignorierten Lebenswirklichkeiten beschreiben die Autor_innen als „tausendfach verschachtelten und komplizierten Geschichten von vielen von uns, die sich der schnöden Opposition ‚weiß‘ versus ‚color‘ entziehen“ (ebd.). Zum anderen würde durch die Fixierung der Kategorien ein Begriff des Politischen untergraben, „der gerade darin besteht, nicht auf das festgelegt zu werden, was oder ‚wo‘ man vermeintlich ist“ (ebd.). Ein solcher Begriff des Politischen ist beispielsweise von Jacques Rancière geprägt worden (
2.3.2.5) und stellt keineswegs die hierarchischen Positionierungen und Zugehörigkeitsregime in Abrede. Ganz im Gegenteil stehen sie als zu Transzendierendes im Fokus. Zentraler Punkt bei Rancière ist, dass die Subjektivierungen, die durch das Politische, das Durchbrechen der Ordnung, entstehen, genau die von der Ordnung gezogenen Grenzen zwischen den Subjekten durchbricht.
Dies impliziert Andrea Smith zufolge den Horizont der Veränderung der Strukturen, die uns die Subjektpositionen zuweisen. Henry Giroux fasst das Verhältnis von Reflexion und Gesellschaftsveränderung und die Gefahr der Reduktion rassismuskritischer Praxen auf Selbstreflexion folgendermaßen: „Changing consciousness is only a precondition to changing society and should not be confused with what it means to actually transform institutional relations of power.“ (Giroux 2006: 169) Smith fasst dies in Bezug auf Critical Whiteness so: “That is, the undoing of privilege occurs not by individuals confessing their privileges or trying to think themselves into a new subject position, but through the creation of collective structures that dismantle the systems that enable these privileges.” (Smith 2013) Wenn ‘wir’ die Privilegienungleichheit untergraben wollen, müssten ‚wir‘ die Strukturen ändern, in denen ‚wir‘ leben, sodass ‚wir‘ im Zuge dieses Prozesses andere Menschen werden (ebd.). Die Fragen, die mich beschäftigen, sind dabei, wer dieses ‚Wir‘ ist, wen es in welchen Kontexten umfasst und wen nicht, wie es sich angesichts welcher Konstellationen konstituiert? Mit Rancière beginnt diese neue Subjektivität des Politischen nicht erst nach der Schaffung der neuen Strukturen, sondern durch die Subjektivierung des Streits um diese Strukturen. Dieser Streit um die Ordnung kann – muss aber nicht, wie Manuela Bojadžijev (2008) mit ihrem Begriff der Kämpfe der Migration gezeigt hat – sich in der Form des Antirassismus manifestieren. Aus meiner Sicht macht es Sinn, die Frage des ‚Wirs‘ nicht abschließend zu beantworten, sondern als zentrale Frage immer wieder zu stellen.
4.2.3.1.7 Die Transzendenz des Politischen als Bildungshorizont
Warum schreibe ich das? Sind dies nicht eigentlich Fragen, die ich aus weißer Perspektive lieber anderen überlassen sollte? Wahrscheinlich ist die Antwort ja. Ich schreibe dies alles nicht, um den Ansatz der Empowerment- und Selbstorganisierung von durch rassistische Verhältnisse Deprivilegierte zu delegitimieren. Vielmehr unterstütze ich diese, soweit es gewünscht ist. Mir geht es aber darum, diesen Ansatz nicht als einzige bildungspraktische Antwort anzusehen und die Vorstellung stark zu machen, dass unterschiedliche Kontexte unterschiedliche Antworten verlangen. Ich werde ausgehend von Spivaks ethischem Imperativ des Planetarischen (
4.2.4.3) die Hoffnung formulieren, Formen von Bildungsprozessen zu entwickeln, in denen – ohne im Prozess die Unterschiede zu dethematisieren – ein dekolonialer Horizont Menschen zu neuen temporären, politischen Subjektivitäten zusammenschließen lässt, die die rassialisierende Logik überschreiben, ohne diese und ihre Wirkungen dabei zu negieren. Dies wäre auch eine Zielperspektive, eine unter anderen.
Eine sich als politisch verstehende politische Bildung darf aus meiner Sicht auf den selbstreflexiven Ansatz beschränkt sein, sondern die angesprochene Dimension des Politischen als zentralen Ausgangspunkt oder vielmehr Fluchtpunkt denken. Anders herum darf sie aber nicht hinter den Anspruch der Selbstreflexion zurückfallen. Paul Mecheril und Karin Scherschel kritisieren beispielsweise den antirassistischen Ansatz dahingehend, dass er im Gegensatz zur Rassismuskritik eine „eingeschränkte Problemsicht“ (Mecheril/Scherschel 2009: 51) hätte, da er seine Perspektive auf die Absicht der Veränderung der Gesellschaft beschränke und so eine moralisierende Haltung einnehme. Im Selbstverständnis des oft weißen, antirassistisch Handelnden gelingt es oft, die eigene Verstricktheit mit rassistischen Hierarchien und Positionierungen auszublenden und sich selbst als außerhalb – oder oberhalb – der rassistischen Verhältnisse zu stellen. Das Fehlen der Selbstreflexivität kann zu Paternalismus und letztlich der Reproduktion rassistischer Rollenverteilungen und Selbstverständnisse führen. Diese Diskussion zwischen Selbstreflexivität und dem Politischen ist keinesfalls eine Frage des Entweder-Oder. Das Politische im Feld der Rassismuskritik zielt auf die Veränderung der Verhältnisse, zu der ja selbst auch die Reflexion gehört. Es geht hier vielmehr darum, dass eine politische Bildung die Gleichzeitigkeit einer selbstreflexiven Praxis und dem Moment des Politischen adressiert, der den Horizont einer Transzendenz rassistischer Zugehörigkeitsregime eröffnet und dabei neue Allianzen denkbar macht. Dieser Moment des Politischen kann wiederum auch für die Reflexivität eine Ressource darstellen.
Um diesen Moment des Politischen in politische Bildungsprozesse einzubeziehen, können beispielhaft die Lernendenvorstellungen als ein Ausgangspunkt dienen (
3.4.4). Viele Schüler_innen stellen die Normalität und Legitimität des Zugehörigkeits- und Grenzregimes und der entsubjektivierenden Sicht auf Migrant_innen infrage. Auch wenn diese Perspektiven fast ausschließlich von Schüler_innen benannt werden, die selbst von Rassismuserfahrungen negativ betroffen sind, weist dieser Horizont im Sinne der Autonomie der Migration doch auf eine Transzendenz der Verhältnisse, die als gemeinsamer Fluchtpunkt fungieren kann. Didaktisch erscheint es sinnvoll, die Kämpfe der Migration – beispielsweise von
Kotti und Co über Geflüchtetenkämpfe bis zu den Grenzübertrittspraxen selbst – sichtbar zu machen, diese in Verbindung zur Lebenswelt der Lernenden zu setzen und auf diese Weise das Politische diskutierbar zu machen. Dieser Bildungshorizont der Transzendenz rassialisierter Zugehörigkeitsregime eröffnet ein anderes Verständnis der subjektiven Verortung und Orientierung in migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen.
Massimo Perinelli fasst das ‚Wir‘ und die Perspektive antirassistischer Kämpfe folgendermaßen:
„Wir können uns nur über Glück und Befreiung vergesellschaften und nicht über das Verbrechen. Das heißt, dass Begegnung, Kommunikation und gemeinsames Handeln den Raum für Veränderungen öffnen muss, statt ihn in Vorwegnahme möglicher Verletzungen an den vermeintlichen oder realen Sicherheitsbedürfnissen verletzter oder traumatisierter Menschen auszurichten und hermetisch abzudichten. Das ist nicht leicht und auch kein Plädoyer für Härte oder Ignoranz gegenüber realen Unterdrückungserfahrungen, sondern ein Vorschlag ihrer Transzendierung – die einzige Möglichkeit der Überwindung rassistischer Spaltungen in der Gesellschaft. Dieses ‚wir‘ soll dabei weder gegeben noch voluntaristisch erscheinen. Abgrenzungslinien haben ihre Begründung und sind oft wichtig. Dieses ‚wir‘ kann sich nur in konkreten Kämpfen ausbilden, es ist ein solidarisches Wir. Solidarität ist ein gegenseitiger Affekt, es kann sie nur zwischen Ungleichen geben, niemals unter Gleichen. Was fehlt ist eine Vorstellung solidarischer, die auf gegenseitige Kritik, unterschiedliche und gemeinsam beschlossene Lebensweisen begründet sind. Es ist dies eine Politik und eine Haltung, die auf ein besseres Leben in der Zukunft ausgerichtet sind. Das ist das genaue Gegenteil einer auf Schulden aus der Vergangenheit abgesicherten politischen Moral. Vielmehr ist dieser Kampf ein Wechsel auf die Zukunft, der potentiell alle miteinschließt – selbst die traurigen Gestalten mit ihren schönen Privilegien.“ (Perinelli 2019: 90)
Die Perspektive der Transzendenz der Ordnung steht so der Gefahr durch eine Restabilisierung der rassialisierten Differenz durch seine ausschließliche Reflexion entgegen. Anders herum würde eine antirassistische Praxis ohne die Dimension der selbstreflexiv angelegten Rassismuskritik wirkungslos sein bzw. unter Umständen die Verhältnisse reproduzieren, die sie doch zu kritisieren vorgibt. Dieses Spannungsverhältnis erscheint mir als eine der zentralen Herausforderungen, die sich eine dekoloniale politische Bildung stellen muss, um ihrem Anspruch der Dekolonisierung gerecht werden zu können.
4.2.3.2 „almost the same, but not quite“ – (Nicht-)Zugehörigkeit postmigrantisch
4.2.3.2.1 Das orientalistische Paradigma, postliberaler Rassismus und Kritik am antimuslimischen Rassismus
Während in den Lernendenvorstellungen im Nachdenken über globale Ungleichheit und ‚Entwicklung‘ ‚Afrika‘ als diskursives Gegenstück zum ‚Westen‘ am häufigsten auftaucht, ist es in Bezug auf die Migrationsgesellschaft der ‚Islam‘ und Muslim_innen. Diese stellen das am häufigsten genannte, konstruierte Andere dar. Meine Analyse der Vorstellungen hat ergeben, dass die natio-ethno-kulturelle Differenz insbesondere über die drei Felder Säkularität und Religiosität, Geschlechterrollen und Freiheit konstruiert wird (
3.3.2). Gleichzeitig ist ein Toleranzdiskurs in den Lernendenvorstellungen sehr verbreitet. Er ist rein quantitativ die verbreitetste Form über Muslim_innen zu sprechen, in dem das Ausleben einer Religion als Teil der individuellen Freiheitsrechte angesehen wird. In der Diskussion des Toleranzdiskurses findet häufig ein Perspektivenwechsel statt, mit dem sich in die Position von möglicherweise Abwertung oder Beschränkung erlebenden Muslim_innen hineingedacht wird. Dabei ist ein argumentatives Abwägen zu beobachten, das in ambivalenten Formationen das ‚Problem‘ zwischen dem Recht auf kulturelle Selbstbestimmung und dem ‚Problem‘ der – schwer zu überwindenden und gesellschaftlich Problem verursachenden – ‚kulturellen‘ Differenz in Bezug auf den ‚Islam‘ diskutiert. Der Toleranzdiskurs verlässt dabei aber nicht die orientalisierende Sprechposition des Okzidentalismus. Im Zuge der Behauptung von Toleranz wird der ‚Islam‘ und die Muslim_innen weiterhin geothert. Der Toleranzdiskurs reproduziert also die orientalistische Reproduktion der ‚Wir‘- und ‚Nicht-Wir‘-Gruppe und birgt das Potenzial der Aufhebung der durch die orientalistisch konstruierte Überlegenheit der Mehrheitsgesellschaft gewährten Toleranz. Der Toleranzdiskurs kann ein Anknüpfungspunkt für dekoloniale Bildungsprozesse, keinesfalls jedoch ihren normativen Fluchtpunkt oder diskursiven Rahmen darstellen.
Die Schüler_innen diskutieren anhand der drei genannten Felder eine Dichotomie, in der ein national verorteter Okzidentalismus mit Säkularität, Geschlechtergleichheit und Freiheit assoziiert und der imaginierten muslimischen ‚Kultur‘ Religiosität, Geschlechterungleichheit und Unfreiheit zugeschrieben wird. Dabei finden sich auch an diese Dichotomie anknüpfende Gegenüberstellungen von Vernunft, Aufklärung, Gerechtigkeit, Menschenrechte, Selbstbestimmung und Autonomie auf der einen und Begrenztheit des Denkens, Kulturbezogenheit, Zwang und Fremdbestimmung auf der anderen, der orientalistisch konstruierten Seite (
3.3.2). Ich spreche hier von der muslimischen ‚Kultur‘, weil nicht eindeutig ist, über wen die Schüler_innen hier sprechen. Es findet keine – wenn, dann nur angedeutete – Gleichsetzung mit dem politischen Islamismus statt. Oft geht es offensichtlich auch nicht um ihre Religion praktizierende Muslim_innen. Das, was vielen Schüler_innen hier als homogene Gruppe der Muslim_innen erscheint, ist eine schwer zu erfassende Gruppe, die sich in vielfältiger Hinsicht als sehr heterogen darstellt.
Der Begriff muslimische ‚Kultur‘ scheint mir hier deswegen angebracht zu sein, weil er auf die orientalistische Kulturkreistheorie verweist, in der Menschen im Zuge eines Othering-Prozesses als Muslim_innen kategorisiert werden, unabhängig davon, ob sie „ihr Leben nach den Grundsätzen des Islams ausrichten und sich selbst primär als Muslim_innen bezeichnen“ oder aber sich „selbst gar nicht, anders, mehrfach oder ambivalent im Zusammenhang mit dem Islam positionieren“ (Attia 2013). Beispielsweise fluktuieren die Begriffe Muslim_innen, Araber_innen, Islamist_innen und andere im antimuslimischen Rassismus oft ununterscheidbar. Dabei wird die Differenz zwar in der Rhetorik der Religion, aber dennoch keinesfalls ausschließlich religiös begründet. „Antimuslimische Diskurse verweben Kategorien wie ‚Kultur‘, ‚Religion‘, ‚Ethnizität‘, ‚Geschlecht‘ und ‚Klasse‘ zu einem komplexen Geflecht“ (Shooman 2014: 14). Diese Zusammenhänge hat Yasemin Shooman im Rahmen ihrer Diskursanalytische zum antimuslimischen Rassismus anhand von zahlreichen Diskursen, wie etwa zu Thilo Sarrazin, herausgearbeitet. Antimuslimischer Rassismus als analytische Kategorie grenzt sich von Islamfeindlichkeit, Islamophobie und Antiislamismus ab (Karakaşoğlu/Wojciechowicz 2017: 507). In der Analyse des antimuslimischen Rassismus geht es nicht ausschließlich um die Diskriminierung von Muslim_innen, sondern um eine Analyse des antimuslimischen Rassismus als gesellschaftliche Strukturkategorie: „Erst in der Wechselwirkung mit Geschlecht, Sexualität, Klasse, Rasse, Kultur, Körper, Religion entfaltet der antimuslimische Rassismus als ein Strukturmerkmal dieser Gesellschaft seine Effekte.“ (Attia 2013) Während die „Feindlichkeit gegenüber Schwarzen Menschen Whiteness konstruiert und die Ablehnung von Menschen jüdischer Herkunft Ariertum, so produziert der anti-muslimische Rassismus Okzidentalität“ (Dietze 2009: 24).
Die Konstruktion des ‚Anderen‘ der ‚westlichen Kultur‘ bringt so die ‚Identität‘ des ‚Westens‘ hervor (Attia 2009). „Okzidentalismuskritik versteht sich in diesem Zusammenhang als systematische Aufmerksamkeit gegenüber identitätsstiftender Neo-Rassismen, die sich über eine Rhetorik der ‚Emanzipation‘ und Aufklärung definieren.“ (Dietze 2009: 24) In diesem Zusammenhang wurde auch der Begriff des postliberalen Rassismus geprägt. Dieser baut auf dem Begriff des differenziellen Rassismus auf, mit dem analytisch an die Stelle der grundlegenden Differenz von biologisch begründeten ‚Rassen‘ die irreduzible Differenz und Unvereinbarkeit von ‚Kulturen‘ trat. Mit dem Begriff des postliberalen Rassismus wird eine Form des Rassismus beschrieben, in der „egalitäre Ideologeme“ (Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2011: 195) zum Feld der rassistischen Differenzmarkierung erklärt werden. Diese Differenzkonstruktion erscheint in der Rhetorik von Gleichstellungspolitiken. Durch die Instrumentalisierung einer spezifischen Form des Feminismus, eines Homo-Nationalismus, einer Kritik des Antisemitismus, einer Verteidigung der Demokratie, „neolaizistischer Anti-Religiosität“ (ebd.) oder einfach die Herstellung von Sicherheit wird ein dichotomes Bild des Anderen und des Eigenen geschaffen. (ebd.; Tsianos 2014: 60; El-Tayeb 2013: 307). In den Lernendenvorstellungen wird an einigen wenigen Stellen sogar das egalitäre Ideologem des nicht-nationalistisch oder „fremdenfeindlich“ (
3.4.3) Seins als rassialisierendes Differenzmerkmal angebracht. ‚Wir‘ seien nicht homophob, wären gendergerecht, demokratisch etc. Im Zuge dieser Diskurse sind selbst antifeministische Konservative auf einmal zu Vorreitern des Feminismus mutiert.
Momente dieses postliberalen Rassismus sind in den Lernendenvorstellungen sehr verbreitet, in Bezug auf die Konstruktion des orientalisierten Anderen sind sie als dominant zu bezeichnen (
3.2.2). Allerdings argumentieren viele Schüler_innen sehr viel ambivalenter als die Diskurse, die den hier skizzierten Analysen des antimuslimischen – und postliberalen – Rassismus zugrunde liegen. Selbst Jannik, (Gym01), der die orientalistische Differenz sehr strikt einführt, formuliert Zweifel an seiner eigenen Theorie. Ausgehend von seinen Ideen, dass es in der ‚deutschen‘ oder ‚westlichen‘ ‚Kultur‘ – im Gegensatz zur „östlichen Welt“ oder den „islamischen Ländern“ einen „Trieb zum Freiheitsdenken“ gäbe. Dies führt er an Beispielen der individuellen Freiheit, der FKK-Kultur und der Demokratie aus. Nichtsdestotrotz stellt er die von ihm selbst eingeführte Dichotomie infrage, indem er die Kategorien der „westlichen Welt und der „östlichen Welt“ zwar nicht prinzipiell aufgibt, sie ihm jedoch unbestimmtes Unbehagen bereiten. An mehreren Stellen geben Schülerinnen zu bedenken, dass die Gleichstellung der Geschlechter auch im ‚Westen‘ keine Realität sei. Dies sind didaktische Ansatzpunkte, von denen aus das orientalistische Paradigma irritiert werden kann.
In den Lernendenvorstellungen nimmt die Frage des Kopftuchs, wie auch in den öffentlichen Diskursen, eine große Rolle ein. Auf dem Körper der Muslima wird so ein Streit ausgetragen, er wird zum Symbol des Anderen, das die eigene ‚Wir‘-Gruppe gerade nicht ist. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Schüler_innen – vor allem Schülerinnen – die sich in die Position von Muslima hineindenken und es als massive Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit beschreiben, wenn sie kein Kopftuch tragen dürfen. Lara (Gym18) kritisiert eine Art Blickregime, mit dem Muslima abgewertet würden und so in ihrer Freiheit eingeschränkt werden. Darüber hinaus kritisiert sie die Verknüpfung von der Assoziation von Muslim_innen mit Terrorismus, da es genauso Christen gäbe, die „Dinge falsch machen“. Von solchen Argumentationsfiguren aus können gesellschaftliche Praktiken der Zuschreibung und Homogenisierung problematisiert werden. Insgesamt vier Schüler_innen bringen die Lebenswirklichkeit von als Muslim_innen gelesenen Menschen mit – als solchem explizit bezeichneten – Rassismus in Verbindung. Memnun (HS08) schildert einen Vorfall in seiner Klasse (
3.2.2). Als eine Mitschülerin nach den Sommerferien wieder zur Schule kam, trug sie ein Kopftuch, woraufhin die Lehrerin sie „angemacht“ habe: „Warum trägst du ein Kopftuch? Haben Deine Eltern dich gezwungen? Du brauchst das nicht zu machen?“ Er stellt dieses Verhalten in den gesellschaftlichen Kontext, in dem „viele denken“, „also andere Menschen, also Deutsche und so“, dass die „Ausländer immer [von unseren Eltern] gezwungen“ würden, ein Kopftuch zu tragen. Die Mitschülerin habe hingegen erklärt, dass sie es „freiwillig“ mache. Dies sei der Lehrerin aber egal gewesen. Memnun hält das Verhalten der Lehrerin für „rassistisch“. Durch das Überhören der Perspektive der Mitschülerin wurde ihre Selbstbestimmung doppelt negiert. Durch dieses Verhalten erhebt sich die Lehrerin in die Rolle der okzidentalen Retterin des orientalen Mädchens, das vor dem orientalen Patriarchat beschützt werden muss. Die „angenommene Unterdrückung einer Kopftuch tragenden Frau“ wird dabei zur „Folie, auf der man sich einer Wertgemeinschaft“ versichert, die auf der Ablehnung „orientalischer Sitten“ basiert, oder anders ausgedrückt, einen Okzident konstruiert (Dietze 2009: 24). Memnun – dessen Wissen und intellektuelle Fähigkeiten vor dem Interview massiv durch seine Lehrerinnen abgewertet wurden (
2.1.2) – analysiert hier die Artikulation von antimuslimischem Othering über die Rhetorik der Gendergleichheit. Eine dekoloniale politische Bildung kann hier anknüpfen und die Machtwirkungen des antimuslimischen Rassismus zum Thema machen, der für viele Lernende selbst ein zentrales Element ihrer Lebenswelt darstellt.
4.2.3.2.2 Zum Integrationsparadigma als Verhandlungsraum von (Nicht-)Zugehörigkeit
Das Sprechen um die Frage nationaler Zugehörigkeitskonstruktionen wurde in den Lernendenvorstellungen oft in Bezug auf ‚Integration‘ thematisiert (
3.3.4). Mit ‚Integration‘ wurde anhand der Frage des Zugehörigwerdens die Frage der Differenzmarker des Zugehörigseins mitthematisiert. Dabei konnte ich die drei Felder Sprache, Arbeit und Kultur ausmachen, in denen Bedingungen für ‚Integration‘ verhandelt wurden. Während über die Hälfte der Schüler_innen die Diskussion der (Nicht-)Zugehörigkeit mit Sprache verbindet, wurde Arbeit nur von etwa einem Fünftel thematisiert. Während ‚Kultur‘ oder die vermeintliche Unterschiedlichkeit von Wertesystemen zwar häufig als Differenzmarker fungiert, wird es in den Vorstellungen über den Prozess und die Bedingungen des Zugehörigwerdens nur selten thematisiert. Quer dazu liegt meine Analyse der Vorstellungen über ‚Integration‘, die diese Vorstellungen in ein Spektrum einordnet, das sich von einer vereindeutigenden Differenzkonstruktion, der damit zusammenhängenden Homogenisierung der Dominanzgesellschaft und der Vereinseitigung des Anpassungsimperativs an die Migrationsanderen über ambivalente Haltung hin zu einer Perspektive der Migrationsanderen und der Machtwirkungen des Integrationsparadigmas erstreckt.
Für Michael (HS18;
3.3.4) sind die Vorstellungen von ‚Integration‘ mit einer klaren Unterscheidung in ‚Wir‘ und die ‚Anderen‘ verbunden und bestehen im Imperativ der Dominanzgesellschaft an Migrationsandere sich anzupassen. Wobei das Ziel nicht ist, die Differenz durch Assimilation zu überwinden. Vielmehr bestimmt der Imperativ die Bedingungen, die die Anwesenheit der Migrationsanderen rechtfertigt. Aus einer dominanzgesellschaftlichen Perspektive wägt er die Kosten für die Gesellschaft und den Sozialstaat ab, „wir die hier behalten“. Dies impliziert die Legitimierung einer Verfügungsgewalt der einen über die andere Gruppe. Die beiden von ihm genannten Bedingungen für die Anwesenheit in Deutschland sind Sprache und Arbeit. Sie sollten eine Arbeit haben und Deutsch sprechen. Insbesondere im öffentlichen Raum erscheinen.
Michael findet, dass „die ja eigentlich auch Deutsch reden“ könnten. Sein „Können“ scheint eher ein Sollen zu meinen. Er formuliert mit dieser Vorstellung die Hoffnung auf einen Imperativ des Deutsch Redens im öffentlichen Raum. Er schränkt dies für diejenigen ein, die noch nicht so lange hier seien und deswegen noch nicht genug Zeit gehabt hätten, genügend Deutsch zu lernen. Diese Befürwortung eines Imperativs des Deutsch Redens im öffentlichen Raum untermauert er mit einem Beispiel. So redeten viele in seiner Stadt Türkisch. Wenn dann Türkisch gesprochen werde, könne man ja nie wissen, ob man gerade beleidigt werden würde.
Auf Nachfrage stellt er eine Situation vor, in der er möglicherweise auf Türkisch beleidigt worden sei, er und sein „Kumpel“ aber nur auf Deutsch hätten reden können, also keine Möglichkeit gehabt hätten, miteinander zu reden, ohne von den anderen verstanden zu werden. Implizit erkennt Michael hier die Kompetenz der Mehrsprachigkeit an. Damit ist er vielen Diskursen in und um Schulen weit voraus. Er nimmt dabei aber die Kompetenz der Mehrsprachigkeit als Bedrohung wahr. In den in seiner Vorstellung ethnisch strukturierten Konflikten wünscht er sich eine Art kommunikative Chancengleichheit, die dadurch erreicht werden könnte, dass alle im öffentlichen Raum Deutsch sprechen müssten.
Melina (Gym08;
3.3.4) ist weniger offen exkludierend, formuliert aber fünf Aspekte, die für sie zentral für ‚Integration‘ und gleichzeitig für die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit seien: „Akzentfreies Deutsch“, „höfliche“ Umgangsformen, eine „wohlbehütete“, monogame Familie mit einer angemessenen Anzahl an Kindern, ein ‚gutes‘ Bildungsniveau und ein „geregeltes Leben“. Hier konstruiert sie eine Art Blaupause dafür, wie zugehörige Subjekte in einer nationalen Ordnung, von der sie sich als Teil begreift, strukturiert sein sollten. Sie konstruiert hier also eine natio-ethno-kulturelle Norm. Die Akzentfreiheit von Sprache verweist hier auf eine nationale Sprachgemeinschaft, dessen Gemeinschaftlichkeit weit über die Kommunikationsfähigkeit hinausgeht und dabei offensichtlich Menschen, die Deutsch nicht als Erstsprache gelernt haben, aus diesem nationalen Kollektiv ausschließt. Die Umgangsformen verweisen auf eine kulturalisierte Differenz, die entweder auf unterschiedliche ‚kulturelle‘ Mentalitäten verweist. Gleiches gilt für die Familienstruktur, mit der hier implizit das Bild der migrantischen Großfamilie und die imaginierte muslimische Polygamie als Differenzmarker angesprochen werden. Das Familienbild scheint auf eine heteronormative Kernfamilie zu referieren. Bemerkenswert ist das Bildungsniveau, mit dem sie zu der Genderdimension noch den Aspekt der sozialen Klassierung in ihre Blaupause einschreibt. Diese Aspekte fungieren dabei zugleich ex negativo als Zuschreibungen für Migrationsandere. Sie problematisiert dabei selber ihr Bild und führt an, dass dies natürlich nicht immer so und ein „typisches Bild“ sei, doch diese Differenzmarker sind – wenn auch nicht offensiv vorgetragen, so doch präsent in ihren Vorstellungen von ‚Integration‘ und Zugehörigkeit.
So gibt es auch eine große Gruppe an Schüler_innen, deren Integrationsverständnis ich als entspannten Anpassungsdruck charakterisieren würde. Der Ausdruck entspannter Anpassungsdruck soll durch die Spannung zwischen den Begriffsteilen ‚entspannt‘ und ‚Druck‘ deutlich machen, dass zum einen keine repressiven oder explizit ausschließende Maßnahmen befürwortet oder erwähnt werden, sondern Offenheit und Vielfalt befürwortet werden, aber zum anderen gleichzeitig ein Normalisierungsregime und ein Erwartungshorizont konstruiert wird, der von vielen nicht als entspannt, sondern eben als Druck empfunden wird. In diesem Rahmen werden zwar einseitige Anpassungsleistungen von Seiten der Migrationsanderen erwartet, es wird aber immer betont, dass man – wie etwa Clara (Gym11) – „man sich hier einleben“ sollte, aber „immer noch man selbst bleiben“ könne. Zentral für den Prozess der Anpassung ist für sie die Sprache, die man „einigermaßen […] beherrschen“ sollte. Diese Haltung als entspannt zu bezeichnen, soll nicht die Verwobenheit zu den machtvollen und gewaltvollen Wirkungen des Integrationsparadigmas dethematisieren. Dieser Ausdruck macht nur Sinn in Relation zum repressiven Duktus der ‚Integration‘ in der Öffentlichkeit. Dabei bleiben die prinzipiellen Problematiken des Integrationsparadigmas bestehen. So führt sie zum Beispiel aus, dass ‚Integration‘ für sie bedeuten würde, dass „du […] immer noch normal reden“ kannst. Die normalisierende, exkludierende Sprachgemeinschaft stellt hier ihre Denkvoraussetzung dar, mit der sie das Gegenüber – „du“ – anspricht und unterscheiden kann, wer „normal“ redet und dazu gehört – und wer eben nicht.
Dabei müssen auch die damit verbundenen Regierungstechniken in den Blick genommen werden, die in den letzten Jahren, beispielsweise durch das 2005 ratifizierte Zuwanderungsgesetz insbesondere Sprache und Arbeit als wesentliche Felder der juristisch-staatlichen Bestimmung des Bleibe- und Aufenthaltsrechts etabliert haben. Diese migrationspolitische Ebene kann durch Bildung – möglicherweise mit Bezug zu den Kämpfen um Teilhabe – ein didaktischer Ausgangspunkt sein.
Um ein Misstrauen oder eine kritische Reflexion von ‚Integration‘ in Bildungsräumen zu ermöglichen, kann an zahlreiche Lernendenvorstellungen angeknüpft werden. Schwierig zu fassen und didaktisch umzusetzen scheint mir aber die vorherrschende Strategie von als Migrationsanderen gelesenen Schüler_innen zu sein, die Logik und Begriffe der ‚Integration‘, möglichst auszusparen (
3.3.4). Dabei ist es natürlich ein aussichtsreiche Strategie, das durch die Logik von ‚Integration‘ strukturierte Feld, erst gar nicht zu betreten, zumindest wenn es vermeidbar ist. Diese Strategie muss auch didaktisch ernst genommen werden und kann darin münden, Unterrichtsinhalte dementsprechend zu gestalten, dass migrationsgesellschaftliche Fragen ohne den Frame des Integrationsparadigmas behandelt werden. Gleichzeitig ist das Integrationsparadigma gesellschaftlich und in den Lernendenvorstellungen derart wirkungsmächtig, dass die Erfolgsaussichten dieses Ansatzes begrenzt sind.
Es gibt aber weitere kritische Umgangsweisen mit diesem Thema. Ein didaktischer Ansatz könnte darin bestehen, Perspektiven von als zu ‚integrierenden‘ Gelesenen sichtbar zu machen und mit in den Unterricht einzubeziehen. So könnten die machtvollen Wirkweisen des Integrationsparadigmas sichtbar gemacht werden. Beispielsweise Özgür (Gym15) schildert eine Strategie, wie Migrationsandere mit dem durch ‚Integration‘ bestimmten Feld umgingen. Die von ihm geschilderte Strategie zielt darauf ab, möglichst nicht aufzufallen. Auffallen tut man scheinbar aus seiner Perspektive in dem Moment, wo man als Migrationsanderer gesehen wird. Nach Özgür müsse man sich anstrengen, sich zu integrieren, „um zu lernen, wie man sich verhalten soll möglichst, um eben nicht so […] aufzufallen“. Es geht hier also nicht um den Prozess des Zugehörigwerdens, sondern vielmehr darum, weniger – nicht in diesem Maße – als nicht-zugehörig gesehen zu werden. Das Ziel der Erlangung nicht-prekärer Zugehörigkeit scheint für ihn nicht in Sicht – eine mission impossible – zu sein. Hier wird deutlich, wie gewaltvoll diese Prozesse des Otherings und das damit verbundene Integrationsparadigma offenbar ist. Für Bildungsprozesse erscheint eine solche Sichtbarmachung von Widerstands- und Überlebensstrategien von Migrationsanderen aber auch als problematisch. Eine solche Sichtbarmachung birgt die Gefahr, Schutzräume von Migrationsanderen zu nehmen und damit Verletzlichkeit zu erhöhen. Für einen geschützten auf Empowerment zielenden Bildungsraum kann dies hingegen Teil eines Austausches über Rassismuserfahrungen und Widerstandsstrategien sein und in diesem Sinne stärkend wirken.
Bilal (HS15) eröffnet die Perspektive einer Verschiebung des Sprechens über Integration, in dem er Integration nicht als Erbringungsleistung der Migrant_innen für die möglicherweise gestattete Zugehörigkeit oder im Sinne einer Funktionalität für die Dominanzgesellschaft fasst, sondern als den schwierigen Prozess der Erlangung der Fähigkeiten, in der neuen Gesellschaft ein gutes und selbstständiges Leben führen zu können. Er hält es dabei nicht für nötig, dass sich Zugezogene „komplett integrieren“ würden. Mit komplett integrieren meint er scheinbar, dass die eigene Lebensart sich an die Dominanzgesellschaft anpassen würde. Als Beispiel führt er an, dass man auch „Alkohol und so trinken“ würde. Dies weist implizit die unterstellte Überlegenheit der Dominanzgesellschaft zurück, da aus seiner Sicht Alkohol trinken nichts Erstrebenswertes darstellt – oder zumindest nichts, was eine Überlegenheit rechtfertigen würde. Eine solche Perspektive, die Perspektiven weg von der normsetzenden dominanzgesellschaftlichen Perspektive verschieben und über satirische Spiegelungen die Substanz des Integrationszwangs infrage stellen, können ein Anknüpfungspunkt darstellen, um den Prozess der hierarchisierten Differenzierung der Zugehörigkeiten, der sich im Zuge des hegemonialen Sprechens über ‚Integration‘ vollzieht, deutlich zu machen. Eine ähnliche Umkehrung der Perspektive findet sich bei Niklas (HS17), der zunächst eine klare Unterscheidung von der Wir- und der Nicht-Wir-Gruppe einführt, die er an einseitige Anpassungsleistungen von Migrationsanderen knüpft. Doch im Interviewverlauf dreht er diesen Imperativ um und formuliert als zentrale Bedingung von Integration, dass – in seinem Beispiel – die aufnehmende Schulklasse sich wie gegenüber einem Gast verhält, nicht ausschließend agiert und ihn „in die Gruppe aufnimmt“. Dabei läuft das Bild des Gastes natürlich Gefahr, ähnlich wie in der Zeit der ‚Gastarbeiter_innen‘, die diskursive Hoheit bei der Dominanzgesellschaft zu belassen, die letztlich auch das Recht behält, den Gastaufenthalt beenden zu können.
Sabine Achour beschäftigt sich als eine von wenigen im Feld der politischen Bildung mit ‚Integration‘ und Muslim_innen (Achour 2013). Dabei erscheint aus einer Perspektive dekolonialer politischer Bildung die – wenn auch um den Aspekt der „politischen Integration“ (Achour 2013: 11) erweiterte – Übernahme der prinzipiellen Rahmenbedingungen des Integrationsparadigmas als problematisch. Mit ihrem Integrationsbegriff schließt sie an Esser an und fügt seinen vier Kategorien der kulturellen, strukturellen, sozialen und identifikativen ‚Integration‘ die politische hinzu (ebd.). Ein solcher Ansatz läuft Gefahr, die machtvollen Implikationen des Integrationsparadigmas zu reproduzieren bzw. zumindest anschlussfähig für eine solche Perspektive zu bleiben. Andreas Lutter problematisiert in seiner empirischen Studie die „Integration im Bürgerbewusstsein von SchülerInnen“ (Lutter 2011). Dabei arbeitet er unter anderem das problematische Verständnis von ‚Integration‘ heraus, die als einseitige Assimilationsleistung von Migrationsanderen verstanden wird. Aus einer dekolonialen, rassismuskritischen Perspektive müssen jedoch noch andere Aspekte mitberücksichtigt werden. In seinem Text Deutsche Integrationspolitik als koloniale Praxis geht Kien Nghi Ha einigen dieser Aspekte nach und stellt dabei folgendes fest: „Obwohl die rassistischen Ambivalenzen und Widersprüche der sich liberal und tolerant gebenden Integration(an)gebote offenkundig sind, werden sie selten diskutiert.“ (Ha 2007a: 117) Vor diesem Hintergrund werde ich im Folgenden kurz dekoloniale und rassismuskritische Problematisierungen von ‚Integration‘ skizzieren.
Serhat Karakayalı beschreibt ‚Integration‘ ausgehend von seiner Analyse des
Nationalen Integrationsplans als „catch-all-phrase“ (Karakayalı 2007), der Fördermaßnahmen von Migrant_innen umfasst und sich als Neuformulierung einer konservativen, nationalistischen ‚Leitkultur‘ präsentiert. Manuela Bojadžijev stellt gegenwärtige Integrationspolitiken in den Kontext der Geschichte der Kämpfe der Migration. In den späten 1950er Jahren im Rahmen der Anwerbungspolitik der sogenannten ‚Gastarbeiter’ wurde von einer begrenzten Aufenthaltsdauer ausgegangen und für diese Politik war dementsprechend „die Vorstellung der ‚Nichtintegration‘“ (Tsianos 2014: 61) konstitutiv. Spätestens im Zuge der Politik des Anwerbestopps 1973 wurde klar, dass ein großer Teil der Migrant_innen bleiben würde. Längst schon hatten sich Migrant_innen in zahlreichen Feldern sozialen Bewegungen angeschlossen oder diese initiiert, die für eine ‚Integration‘, also gesellschaftliche Teilhabe und Ende der exkludierenden Strukturen, eintraten. „Integration bezeichnete im Kontext der ausländerpolitischen Maßnahmen der 1970er Jahre eine Rekuperation der Widerstandspraktiken und Kämpfe der MigrantInnen.“ (Bojadžijev 2006) Im Rahmen dieser Rekuperation tauchen die Forderungen der Migrant_innen in staatlichen Politiken wieder auf – nur unter veränderten Vorzeichen:
„Benannten MigrantInnen in ihren Kämpfen die Ausschlussmechanismen ihrer Kinder aus dem nationalen Schulsystem, so taucht dies als Maßnahme zur Prävention möglicher zukünftiger ‚Konfliktherde‘ im Integrationsforderungskatalog wieder auf. Diesmal aber umgekehrt zur Artikulation in den Kämpfen der Migration: Es geht nicht mehr um ein Recht auf Bildung, sondern um die Pflicht der so genannten zweiten Generation, sich sprachlich, kulturell und ‚staatsbürgerlich‘ für ein unbefristetes Aufenthaltsrecht zu qualifizieren. Kämpften MigrantInnen in den Mietstreiks um angemessene Wohnverhältnisse, taucht dies in der administrativen Verordnung, ein Wohnraum von mindestens 12 qm pro Person müsse zur Gewährung einer Aufenthaltserlaubnis gewährleistet werden, repressiv und restriktiv wieder auf. Forderten MigrantInnen eine soziale Infrastruktur zur Artikulation und Repräsentation ihrer ‚Bedürfnisse‘, schlägt sich dies in den 1970er Jahren in der institutionalisierten Form der ‚Ausländerpädagogik‘ nieder, die ‚Ausländer‘ als neues Klientel funktionalisiert.“ (ebd.)
Die Forderung nach gleichen Rechten wird dabei im „Dispositiv der Integration“ (ebd.) absorbiert. Die Forderung nach Kollektivrechten wurde in individuell zu erbringende Leistungen übersetzt und die Bevölkerung auf „dubiose Weise neu homogenisiert“ (ebd.).
‚Integration‘ erscheint im hegemonialen Diskurs als unhintergehbares Deutungsmuster von Wirklichkeit. Im Anschluss an Paul Mecheril (2011) kann ‚Integration‘ als ein Dispositiv verstanden werden, das Wirklichkeit schafft. Unter diesem Dispositiv versteht Mecheril „Bündel von Vorkehrungen, Maßnahmen und Interpretationsformen, mit dem es in öffentlichen Debatten gelingt, die Unterscheidung zwischen natio-ethno-kulturellem ‚Wir‘ und ‚Nicht-Wir‘ plausibel, akzeptabel, selbstverständlich und legitim zu machen“ (2011). Max Czollek betont in seinem Buch Desintegriert euch!, dass „jedes Integrationsdenken“ ein Zentrum imaginiert, „das schon lange nicht mehr der gesellschaftlichen Realität entspricht, in der ich oder meine Freund*innen leben“ (Czollek 2018: 16). Diese Realitätsferne zeige sich „besonders deutlich im beständig wiederkehrenden Gewese um die deutsche Leitkultur“ (ebd.). Aus einer jüdischen Perspektiven problematisiert er nicht nur die Ausgrenzung von Muslim_innen, sondern ebenso die Vereinnahmung des Jüdischen für die Konstruktion dieser nationalen Leitkultur (Czollek 2018). Wenn die Annahmen des Integrationsparadigmas an der migrationsgesellschaftlichen Lebensrealität der meisten Menschen vorbei gehen, stellt sich die Frage, der Sinnhaftigkeit.
Doch ‚Integration‘ zielt nicht auf die Suche nach einer Möglichkeit, gleichberechtigt und demokratisch das gemeinsame Leben zu organisieren, sondern stellt vielmehr eine Form dar, das natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsregime zu reorganisieren und damit zu perpetuieren. Dabei entfaltet das Integrationsdispositiv in seiner Negation seine „normative Kraft“ (Mecheril 2011). Es basiert auf „Negativnarrativen über die ‚verweigerte‘, ‚misslungene‘, die ‚verpasste‘ oder gar die ‚unmögliche‘ Integration“ (ebd.). Im Integrationsparadigma werden so in erster Linie Menschen zu nationalen Anderen gemacht. Auch von Menschen, die seit Generationen in Deutschland wohnen und die weiterhin als ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ geandert werden, werden Integrationsleistungen verlangt, – positiv oder negativ – bewertet und damit die Möglichkeit der Aberkennung der Zugehörigkeit permanent offengehalten. María do Mar Castro Varela analysiert ‚Integration‘ als eine Form der Gouvernementalität, die als – staatliche und nicht-staatliche – Regierungstechnik verstanden werden kann, mit der ein Normalisierungs- und Disziplinierungsregime etabliert wird, das in soziale Prozesse und Subjektivierungsweisen hineinwirkt (2013: 33).
Mit diesem Punkt haben sich auch Markus Schmitz und Kien Nghi Ha beschäftigt. In ihrem Text
Der nationalpädagogische Impetus der deutschen Integrations(dis)kurse im Spiegel postkolonialer Kritik (2006) analysieren sie das Programm und die Praxen der Integrationskurse als Überwachungs- und Disziplinierungstechnik. Diese stellen sie in eine Tradition sowohl des deutschen Nationalismus mit seinem Volksbegriff und der nationalistischen Pädagogik als auch des Kolonialismus, in dem kulturelle Hierarchisierungen den Ausgangspunkt der zivilisatorischen Mission darstellten.
10 Die Integrationskurse erscheinen als eine Art Eignungsprüfung für die nationale Nutzbarkeit, das mit einem System von Sanktionierungen durchgesetzt wird (Ha/Schmitz 2006). Auch Naika Foroutan stellt die gegenwärtige „Kopplung“ der Migrationsfrage an die Diskursfigur der „gescheiterte[n] Integration“ in den Kontext der „Nachwirkungen kolonialer Strukturen“ und sieht ein Wissen über diese koloniale Kontinuität als zentral an, um „strukturelle, politische und rechtliche Ungleichheiten sowie symbolische Ausschlüsse“ (Foroutan 2019: 53) angemessen kontextualisieren und verstehen zu können. Im Sammelband
No integration?! wird aus verschiedenen kulturwissenschaftlichen Perspektiven gezeigt, wie die Hegemonie von ‚Integration‘ nicht nur als eine „konjunkturelle Schwankung“, sondern vielmehr als ein „Paradigmenwechsel“ (Hess/Moser 2009: 13) zu verstehen ist.
Die Initiative
Integration? Nein Danke!, die sich im Zuge der Auseinandersetzungen um die Veröffentlichung der rassistischen Thesen von Sarrazin gegründet hat und in den Diskurs intervenieren wollte, fasst ihre Kritik am Integrationsparadigma folgendermaßen:
“Ein Wort, das ein Angebot vortäuscht und Rassismus verschleiert. Der Begriff Integration hört sich harmlos gar positiv an, aber dahinter verbirgt sich eine systematische Politik der Ausgrenzung. Unter Androhung von Repressalien sollen sich die integrieren, die eh schon zu den Entrechteten gehören.” (aus dem Kampagnenflyer von Integration? Nein Danke!)
Explizit thematisieren sie hier die Problematik, dass der Begriff ‚Integration‘ zunächst kaum problematisierbar erscheint. Dafür bedarf es angesichts der Unschärfe des Integrationsbegriffes Konzepte, die sprachliche Instrumente zur Verfügung stellen, mit denen die integrationsparadigmatischen Machtwirkungen in der Gesellschaft, aber auch in der eigenen Lebenswelt, sichtbar und problematisierbar gemacht werden können.
Gerade aus Sicht einer politischen Bildung ist ein weiterer Aspekt relevant, den ich hier kurz anführen werde. Das Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet) hat 2010 die Stellungnahme
Demokratie statt Integration veröffentlicht:
„Wir wollen das offensichtliche klar stellen. Wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft. Das bedeutet: Wenn wir über Verhältnisse und das Zusammenleben in dieser Gesellschaft sprechen wollen, dann müssen wir aufhören, von Integration zu reden. Integration heiß0t, dass man Menschen, die in diesem Land arbeiten, Kinder bekommen, alt werden und sterben, einen Verhaltenskodex aufnötigt, bevor sie gleichberechtigt dazugehören. Aber Demokratie ist kein Golfclub. Demokratie heißt, dass alle Menschen das Recht haben, für sich und gemeinsam zu befinden, wie sie miteinander leben wollen. Die Rede von der Integration ist die Feindin der Demokratie.“ (Kritnet 2010, zitiert nach Castro Varela 2013: 46 f)
Eine dekoloniale politische Bildung hätte die Aufgabe, auch solche Perspektiven in Bildungsräumen sichtbar zu machen. Dabei kann sie an die zahlreichen Vorstellungen der Schüler_innen anknüpfen, in denen sie auf die eine oder andere Weise ihr Unwohlsein mit dem Integrationsparadigma gezeigt haben, es aber selten artikulieren konnten. Um das Integrationsparadigma zu denaturalisieren, seine Grundannahmen und die von ihr geschaffene Wirklichkeit als eine unter mehreren möglichen erscheinen zu lassen, braucht es alternative Sichtweisen im Unterricht. Ohne die Möglichkeit, mehrere Perspektiven miteinzubeziehen, kann politische Bildung ihrem Ziel, Lernende zu befähigen, sich als mündige Subjekte in der Gesellschaft zu bewegen, über sie zu reflektieren und in ihr reflektierte Handlungsfähigkeit zu entwickeln, nicht näher kommen. Aus einer dekolonialen Perspektive erscheint es unerlässlich, die Machtwirkungen des Integrationsparadigmas und die damit verbundene Konstruktion einer Eigengruppe sowie einer Fremdgruppe und damit das natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsregime zu unterlaufen und zu kritisieren.
4.2.3.2.3 Prekarisierungen postmigrantischer Zugehörigkeiten
Das Integrationsparadigma kann auch als eine Reaktion darauf verstanden werden, dass das „Phantasma des natio-ethno-kulturellen ‚Wir‘ in eine Krise geraten ist“ (Mecheril 2011). Mit den Vorstellungen über und den Umgangsweisen mit der Transformation dieses natio-ethno-kulturellen Wirs setze ich mich in diesem Abschnitt auseinander. Aus den Lernendenvorstellungen habe ich vier verschiedene Typen des Umgangs mit Prozessen der Veruneindeutigung und der Vorstellung ‚kultureller‘ Vielfalt in der postmigrantischen Gesellschaft herausgearbeitet. Diese sind im Abschnitt zu Hybridität zusammengefasst (
3.3.5). Hybridität ist ein komplexer, oft widersprüchlich verwendeter Begriff und nicht zuletzt angesichts seiner langen Geschichte als Kategorie kolonialer Rassendiskurse höchst problematisch (Ha 2010b). Nicht trotz, sondern aufgrund dieser problematischen Geschichte erscheint er als geeignet, um die gegenwärtigen Prozesse zu beschreiben. Unter Hybridität werden in der Analyse die Vorstellungen von ‚Vermischung‘ und
vice versa auch ‚Reinheit‘ ‚kultureller’ ‚Identitäten‘ gefasst. Bei einer kleinen Gruppe der interviewten Schüler_innen löst die Vorstellung der Auflösung klarer ‚identitärer‘ Grenzen, insbesondere in Bezug auf die erhöhte Präsenz von Migrationsanderen im öffentlichen Leben, Irritationen oder Ängste aus. Dabei kann eine Mehrheit der Lernendenvorstellungen dem zweiten und dritten Typ zugeordnet werden. Der zweite Typ befürwortet die Hybridisierung von ‚kulturellen Identitäten‘, da der Andere hier als konsumierbar oder als eine Erweiterung der – insbesondere kulinarischen – Konsummöglichkeiten angesehen wird. Ähnlich wie der zweite, konsumierende Typ befürwortet der dritte migrationsgesellschaftliche Grenzverwischungen, da dies die Möglichkeit der Erweiterung des persönlichen Erfahrungsraums mit sich brächte. Der vierte Typ von Vorstellungen, die ich bei etwa einem Viertel der Schüler_innen vorfinden konnte, betont die Normalität einer gelebten Hybridität. Damit meine ich, dass die Überschreitung der Grenzen vermeintlich nebeneinander stehender ‚kultureller‘ Identitätskonstruktionen als Normalität angesehen wird. Diese Vorstellungen gehen meistens mit einem Verweis auf die eigene Lebenswelt einher, die von eigener oder familiärer Migrationserfahrung und migrationsgesellschaftlichen Mehrfachzugehörigkeiten geprägt ist.
In Bezug auf den hier zentralen Begriff der Kultur unterscheiden sich die drei ersten Typen wesentlich nur in der Frage der Einstellung, nicht jedoch dem Begriffsverständnis nach. Bei allen drei liegt ein differenzieller, tendenziell essenzialistischer Kulturbegriff zugrunde, der eine ‚Kultur‘ an etwas koppelt, das ich hier mal übergangsweise als ‚Ethnizität‘ bezeichne. Nichtsdestotrotz bringt die unterschiedliche Einstellung sehr unterschiedliche Vorstellungen hervor. Für den ersten Typ, bei dem Hybridität Angst und Irritation auslöst, stehen beispielsweise Lennart (HS02) und Marcel (HS06). Lennart sieht in Deutschland und Europa ein Verschwimmen der Kulturen. Es sei nicht mehr so „einheitlich“ wie vor „vierzig, fünfzig Jahren“. Dadurch diagnostiziert er ein weniger an ‚Kultur‘ und die Aufgabe, die nationale Bräuche sowie „unsere Werte“ „ein bisschen hoch[zu]halten“ und an die „Kinder weiterzugeben“. Andernfalls – so seine Angst – ginge diese „verloren“. „Unsere Werte“ – mit ‚uns‘ meint er wahrscheinlich die nationale Gemeinschaft – seien „Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ordnung und so was halt“. Auf die Frage, ob andere ‚Kulturen‘ da ganz anders seien, führt er an, dass Menschen aus China oder Japan auch „ordentliche Menschen“ seien. In der Denkbewegung, welche ‚Kultur‘ sich grundlegend von der deutschen unterscheiden würde, assoziiert er antiziganistisch und antisemitisch begründete Gruppen, deren Gültigkeit er jedoch wieder zurückzieht. Seine Diagnose, dass es durch weniger ‚kulturelle‘ Einheitlichkeit weniger an ‚Kultur‘ gäbe, basiert auf der Vorstellung, dass der Gradmesser einer ‚Kultur‘ in seiner Homogenität liege (vgl. dazu den Exkurs zu Herder in
4.2.4). Marcel (HS06) diskutiert das Thema der Vermischung über die Frage der Ehe zwischen Menschen unterschiedlicher ‚Kulturen‘. Sein Beispiel der Heirat eines „Türken oder Kurden“ mit einer ‚deutschen‘ Frau erzeugt bei ihm keine Ablehnung, sondern Irritation. Dann sei „ja auch alles durcheinander“.
Für den zweiten Typ, der den Anderen als begrüßenswerte Erweiterung der – insbesondere kulinarischen – Konsummöglichkeiten fasst, ist der Verweis auf unter ethnischem Lable firmierende Restaurants charakteristisch. Der dritte Typ – die Erweiterung des Erfahrungsraums – bezieht sich eher auf kulturelle Praktiken, von denen man aufgrund des Kontakts zu ‚kulturell‘ Anderen etwas mitbekommen würde. Alexander (Gym05) beschreibt, dass „immer mehr Afrikaner und so“ kämen, die „eine andere Hautfarbe haben und so“. Diese als ‚kulturell‘ Andere konzipierte Gruppe ist nicht auf „Afrikaner“ beschränkt, aber verweist in Bezug auf die Hautfarbe auf eine phänotypisch konstruierte Differenz, mit dem ein bestimmter Grad der kulturalisierten Andersheit verbunden ist. Diese ‚kulturell‘ Anderen brächten auch andere Dinge mit. Im Anschluss an klassische koloniale Bilder behauptet er, dass „die […] Rhythmus im Blut“ hätten. Dies begrüßt er sehr. Davon sei zu profitieren und es könnte sich „hier ein bisschen was erneuer[n]“. Im zweiten und dritten Typ wird insgesamt eine ‚kulturelle‘ Differenz konstruiert, die durch Migrationsandere verkörpert wird. Von dieser Differenz kann nun individuell oder national profitiert werden. Dabei war in der Analyse oft nicht klar zu ermitteln, inwiefern hier die ‚kulturelle‘ Differenz als statisch gedacht wird oder inwiefern sich durch eine ‚Vermischung‘ im vorgestellten Prozess der multikulturellen Begegnung etwas neues, eine neue ‚kulturelle‘ Formation entwickelt. Bei Alexander ist zweiteres der Fall; der ‚deutschen‘ ‚Kultur‘ wird durch migrationsgesellschaftliche Prozesse mehr Musikalität zu eigen. Er begrüßt migrationsgesellschaftliche Vielfalt – was nicht gleichbedeutend mit Migrationsprozessen ist – und ‚multikulturellen‘ Austausch.
Hinzu ziehen möchte ich hier noch die Analysekategorie der ‚Anderen als Kultur‘. In einigen Lernendenvorstellungen wird dabei das ‚kulturelle‘ Andere einem ‚nicht-kulturellen‘ Eigenen gegenübergestellt (
3.3.6). Durch Globalisierungsprozesse bzw. die Gleichheit der Produkte durch den globalisierten Konsum gäbe es, beispielsweise Lara zufolge, in den ‚westlichen‘ Ländern „nicht wirklich viel Kultur“. In „Hannover […,] Amerika oder in Spanien“ sähen alle gleich aus. In Deutschland gäbe es dementsprechend „im Prinzip keine Kultur“. Als Ausnahme benennt sie Bayern, das sie mit „Lederhosen und Dirndl“ assoziiert. Damit etwas als ‚Kultur‘ fungiert, muss es einen differenziellen Charakter haben, also als Spezifisches einer als ‚kulturell‘ verstandenen – ethnischen, nationalen, regionalen oder ähnliches – Gruppe zuzuordnen sein. Ohne diesen differenziellen Charakter wird eine ‚kulturelle‘ Praxis zu einer ‚Nicht-Kultur‘.
In den von mir analysierten Lernendenvorstellungen wurde deutlich, dass ein Kulturbegriff in den Vorstellungen des migrationsgesellschaftlichen Zusammenlebens maßgeblich ist, der größtenteils pluralistisch, offen und tolerant erscheint und gleichzeitig eine ‚kulturelle‘ Differenz und Essenz produziert, die bestehende Zuschreibungen des ‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘, des ‚Normalen‘ und des Anderen hervorbringt. Existierende Formen der Abwertung, Hierarchisierung und Verurteilung erscheinen eher marginal – und nichtsdestotrotz stellt sich dieses essenzialistische Verständnis von ‚Kultur‘ aus einer dekolonialen Perspektive als problematisch dar. Diese ‚kulturelle‘ Differenz werde ich anhand von Bhabhas Konzept der kolonialen Mimikry interpretieren. Anhand von zwei unterschiedlichen Aspekten von Mimikry werde ich zwei verschiedene Wege gehen. Zunächst werde ich diskutieren, wie diese ‚subtile‘, ‚kulturelle‘ Differenz eine Vision von Gleichheit untergraben kann. In einem zweiten Schritt werde ich unter Einbezug weiterer Lernendenvorstellungen zur ‚Normalität‘ hybrider Verhältnisse aufzeigen, welche dekolonialen Prozesse hier aus meiner Sicht als mögliche aufscheinen.
Bhabha charakterisiert Mimikry als eine postkoloniale Form, in der ‚kulturelle‘ Differenz erscheint, als „die besondere Form der Differenz, die die Mimikry ausmacht – fast dasselbe, aber nicht ganz“ (Bhabha 1994: 132). Hier knüpfe ich argumentativ an den letzten Abschnitt zum Integrationsparadigma an. Die in den Lernendenvorstellungen konstruierte Form der ‚kulturellen‘ Differenz ist ambivalent. Sie erscheint nicht – nur in Ausnahmefällen – als eine totale, unüberwindbare Differenz; die migrationsgesellschaftlich verorteten Subjekte erscheinen als „fast dasselbe“. Aber die Differenz ist nicht verschwunden – „fast dasselbe, aber nicht ganz“, sie schwelt weiter in den Vorstellungen – mal offener, mal versteckter – und perpetuiert das Potenzial aus dieser Fast-Gleichheit eine exkludierende Nicht-Zugehörigkeit werden zu lassen. Mit Bhabha kann diese Form der Differenz als eine spezifische Organisierung der (Nicht-)Zugehörigkeit verstanden werden, die die Dichotomie von Inländer_innen und Ausländer_innen übersteigt. Im Rahmen der Mimikry bedeutet „Anglisiertsein ganz ausdrücklich […], nicht Engländer zu sein“ (Bhabha 1994: 129, Herv. i. O.). Diese postmigrantische Organisation von (Nicht-)Zugehörigkeit kann als – „binäre Differenzierungen und Prozesse der Exklusion“ übersteigende – „neuartige Prozesse einer limitierten Inklusion“ angesehen werden: „Eine neue Staatsbürgerschaft bedeutet nicht eine bedingungslose staatsbürgerliche Anerkennung für ihre Subjekte, sie kann nachträglich eingeschränkt, also auch rückgängig gemacht werden.“ (Tsianos/Karakayalı 2014) Exemplarisch steht dafür die – sehr selten genutzte und dennoch symbolisch wirkmächtige – Möglichkeit der Ausbürgerung von vormals Eingebürgerten.
Diese Form der Differenz – die fast dasselbe ist, aber nicht ganz – wird auch an der wohl derzeit gängigsten Bezeichnung für die migrationsgesellschaftlichen Anderen deutlich, den sogenannten ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘. Dieser Begriff trat im Kontext einer postmigrantischen Gesellschaft in den Vordergrund, in der die Kämpfe und Sichtbarkeiten von eingebürgerten Migrationsanderen die „Grenze zwischen ‚Ausländern‘ und ‚Deutschen‘ […] aufzuweichen drohte“, und reformulierte so die „Zugehörigkeitsgrenze“ (Castro Varela 2013: 14). Der Begriff ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ trat an die Stelle und an die Seite von vorherigen Begriffen der migrationsgesellschaftlichen Anderen, wie ‚Gastarbeiter‘, ‚Ausländerinnen‘, ‚ausländische Bevölkerung, ‚Zuwanderinnen‘, ‚Migranten‘, ‚Einwanderer‘ usw. (ebd.: 12). „‚Deutsche‘ wurden zu ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ und damit zu ‚Anderen Deutschen‘.“ (Castro Varela 2013: 14) Dabei ist bedenkenswert, dass diese Unterscheidung nicht primär entlang der Dichotomie der gemachten oder nicht gemachten Migrationserfahrung – ob nun eigene oder familiärer – verläuft:
„Denn nur wenige haben bei der Bezeichnung Migrationshintergrund die Kinder schwedischer oder britischer Einwanderer vor Augen. Die meisten denken dabei an Kinder arabischer, muslimischer, Schwarzer Menschen – also phänotypisch sichtbare oder am Namen erkennbare Personen aus Ländern, die hierarchisch abgewertet und als mit Deutschland ‚kulturell inkompatibel‘ im kollektiven Bewusstsein verankert sind.“ (Foroutan 2019: 67)
Dabei werden beispielsweise Kinder türkisch-deutscher Familien über mehrere Generationen hinweg als Migrant_innen oder ‚mit Migrationshintergrund‘ klassifiziert, während diese Bezeichnung selbst für einen selbst eingewanderten Schweden möglicherweise nicht angewendet wird (ebd.: 56). María do Mar Castro Varela sieht in diesem Sinne in der „Operation der Definierung ‚Anderer Deutscher‘“ die Reifizierung des „biologistische[n] Abstammungsnarrativ“ (Castro Varela 2013: 15). Bhabha fasst dies unter der „inneren Inkompatibilität von Empire und Nation“, die in der Figur der Mimikry einen „ethnischen und kulturellen Vorrang“ diagnostiziert, durch das „das ‚Nationale’ nicht mehr naturalisierbar
11 ist“ (Bhabha 1994: 129).
María do Mar Castro Varela spricht in diesem Zusammenhang von Deutsch-Werden und Anders bleiben (Castro Varela 2013: 16). Diese Veranderungsprozesse können als „koloniale Mimikry“ aufgefasst werden, in dem zum einen das „Begehren nach einem reformierten, erkennbaren Anderen als dem Subjekt der Differenz, das fast, aber nicht ganz dasselbe ist“ (Bhabha 1994: 126) durchscheint. In Bezug auf das im letzten Abschnitt diskutierte Integrationsparadigma analysiert Castro Varela hier das Paradox, das in der Integrationsanrufung steckt: „Letztlich zielen auch Integrationspolitiken auf die Produktion von Subjekten, die sich deutsch verhalten, Deutsch sprechen, deutsche Werte und Normen teilen – was immer auch damit gemeint sein soll – und die gleichzeitig nie Deutsche sein können.“ (Castro Varela 2013: 17) Für diese Form postmigrantischer Zugehörigkeit, die für die fast gleichen, aber nicht ganz gleichen, eine Prekarität der Zugehörigkeit zur Folge hat, lassen sich zahlreiche Beispiele finden.
Dirk Lange und ich haben dies beispielsweise anhand vom Diskurs zu Mesut Özil analysiert (Kleinschmidt/Lange 2020). Wurde dieser bis kurz vor der Fußballweltmeisterschaft 2018 noch als Musterbeispiel gelungener ‚Integration‘ angesehen, wurde seine nationale Zugehörigkeit nach einem Fotoshooting mit dem türkischen Staatspräsidenten grundlegend infrage gestellt. Hier geht es nicht darum zu kritisieren, dass er Wahlkampfhilfe für einen antidemokratische, militaristische und menschenverachtende Politik vorantreibenden Politiker stark machte. Diese Kritik sehe ich als mehr als angebracht. Allerdings wurde anhand dieser Auseinandersetzungen die Fragilität postmigrantischer Zugehörigkeitskonstruktionen offenbar. Mesut Özil, in Gelsenkirchen geboren und aufgewachsen, Schlüsselspieler und Weltmeister mit der deutschen Männer-Nationalmannschaft, sollte auf einmal eindeutige Bekenntnisse zu seiner nationalen Zugehörigkeit bringen. Plötzlich war er der Schuldige für das sportliche Scheitern. In diesem Prozess wurde vorgeführt, wie das nationale Lob der Vielfalt in identitäre Logik umschlagen kann, die nach einer Differenz verlangt, einem Entweder-Oder, das kein Dazwischen akzeptiert. Der Fall steht hier symbolisch dafür, dass die hart erkämpfte Zugehörigkeit für Andere Deutsche scheinbar nie vollständig oder abgeschlossen ist und immer potenziell reversibel und prekär bleibt.
Dies lässt sich auch in gegenwärtigen Formen des Rechtspopulismus sehen, wobei ich diesen nicht am Rand der Gesellschaft, sondern in deren Mitte eingelassen ansehe. Hier wird die postmigrantische Differenz nicht erfunden, sondern nur anders als in liberalen Kreisen interpretiert: „Die Ambivalenz der kolonialen Autorität wandelt sich wiederholt von der
Mimikry – einer Differenz, die fast nichts ist, aber nicht ganz – zur
Bedrohung – einer Differenz, die fast total ist, aber nicht ganz.“ (Bhabha 1994: 136) Die Bedrohung kann in zahlreichen Feldern artikuliert werden, von sicherheitspolitischen bis zur Frage der Ressourcenverteilung. Eine besondere Bedrohung entsteht jedoch dadurch, dass – wie beispielsweise auch bei Lennart (HS02) und Marcel (HS06) – die Differenz selbst uneindeutig wird. In einer postmigrantischen Gesellschaft sind Zugehörigkeiten von Veruneindeutigung geprägt. Der Rechtspopulismus versucht wahnhaft, diese Eindeutigkeit wieder herzustellen. Aus Sicht des Mimikry-Ansatzes von Bhabha erscheint das Problem auch dadurch verursacht, dass die Anderen Deutschen zwar wiederholen, aber nicht das Nationale repräsentieren können. Fatima El-Tayeb fasst diesen Zusammenhang unter Aneignung des für antirassistische Zwecke umgedeuteten Begriffs des Kanaken so:
„Die Kanaken drohen die angeblich klare Trennung von Deutschen und ‚Fremden‘ zu gefährden, sie sind weder ganz das eine noch das andere, sondern verkörpern jenen Widerspruch zum internalistischen Modell, der die Gesamtstruktur dessen, was deutsch sein kann und darf, in Frage stellt.“ (El-Tayeb 2016: 65)
4.2.3.2.4 Postmigrantische Strategien
Juliane Karakayalı und Paul Mecheril verstehen diese Formen der Zugehörigkeitsordnungen auch als Antwort auf die Kämpfe der Migration. Sie diskutieren die Frage, wie es zu der dominanten Kriseninszenierung kommen konnte, die „ab Beginn des 21. Jahrhunderts […] Migration als Integrationsproblem“ (Karakayalı/Mecheril 2018: 231) inszenierte. In dieser Kriseninszenierung geht es nicht nur um die normierend-disziplinierende Zuschreibung der Position der „Integrationswilligen“ und „Integrationsverweigernden“, sondern auch um die (Wieder-)Herstellung der „fraglos integrierten Position des ‚authentischen Deutschen‘“ (ebd.). Diese Kriseninszenierung reagiert dabei auch auf „migrantische Strategien der Bewältigung eines mit Restriktionen durchsetzten Alltags“, welche „alternative Praktiken der sozialen Selbstinklusion und subversiven Praktiken der Zugehörigkeitsaneignung“ ebenso umfassten, wie über Jahrzehnte dauernde politische, kulturelle und alltagsweltliche Kämpfe „um die Anerkennung des Lebens von Eingewanderten als respektierter Teil der gesellschaftlichen Realität“ (ebd.: 230). Diese Kämpfe stellten das Zugehörigkeitsregime ebenso infrage wie das Verständnis dessen, was Deutsch-Sein bedeutete.
„Dieses Verständnis wurde herausgefordert durch die Praktiken von migrationsgesellschaftliche Pluralität affirmierenden, nicht zuletzt migrantischen oder als Migrant_innen adressierten Akteur_innen, die zu einer Verflüssigung und Entgrenzung eben dieser Zugehörigkeitsordnung beitrugen. Je intensiver umkämpft die natio-ethno-kulturell kodierte Zugehörigkeitsordnung ist, desto größeres Gewicht erhalten Kriseninszenierungen, die wir als Einsätze im Kampf um die legitime Interpretation der Gegenwart begreifen.“ (Karakayalı/Mecheril 2018: 230 f)
Ein solches Verständnis begreift das Zugehörigkeitsregime nicht einfach als Machtausübung oder Herrschaft, sondern vielmehr als Resultat gesellschaftlicher Kämpfe, die so in ihrer „Dynamik und Ambivalenz“ (ebd.: 229) erfassbar werden. Theoretischer Referenzrahmen ist hier der Ansatz der Autonomie der Migration (
3.4.1), welcher wiederum auf den Ansatz des Operaismus referiert. Der Ansatz des Operaismus ist im Italien der 1960er Jahre entwickelt worden und begriff die Entwicklungen der kapitalistischen Produktionsweise nicht im Sinne eines Fortschritts, sondern als maßgeblich durch die Kämpfe der Arbeiter_innen vorangetrieben, die „entweder offensiv (Streik) oder in alltäglichen Praktiken (Sabotage, krankfeiern, langsam arbeiten) gegen ihre Rolle im Produktionsprozess“ (ebd.: 230) kämpften. In Bezug auf das Feld der Migration bedeutet es, vom Konflikt her auf das Moment der Regulation zu blicken und dieses als „Produkt komplexer Aushandlungen ungleicher Akteur_innen sichtbar zu machen“ (ebd.). Ein solches Verständnis verändert die Sicht auf die Konstruktion des natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsregime und kann als wichtige Perspektive einer dekolonialen politischen Bildung fungieren.
Ein solches Moment steckt auch in Bhabhas Begriff von Mimikry – ich komme hier also zum anderen Aspekt seines Begriff, anhand dessen ich hier die Schüler_innenvorstellungen und Konsequenzen für die Bildung diskutieren will. Mimikry wird bei Bhabha auch als eine Form des Widerstands verstanden, die zu einer Destabilisierung von Differenzsystemen führen kann: „Unter dem Schutz der Tarnung ist die Mimikry, wie der Fetisch, ein Teil-Objekt, das die normativen Systeme des Wissens über die Autorität von Rasse, Schreiben, Geschichte radikal umwertet.“ (Bhabha 1994: 134) Indem hybride Identifikationen artikuliert und besetzt werden, entsteht ein Ort des „Da-zwischen“ (ebd.: 324), in dem „Differenz weder Eines noch das Andere, sondern
etwas anderes daneben, da-zwischen,“ (ebd.: 327, Herv. i. O.) ist. Er bezeichnet die sich dadurch ergebenden Räume dementsprechend auch als dritte Räume (
third spaces). Dabei ist sein Konzept von Hybridität nicht etwa dadurch gekennzeichnet, dass hier migrantisierte Subjekte einen Ort jenseits von eigentlich festen Identifikationen einnehmen, sondern vielmehr wird von diesen Orten des Da-zwischen, diesen Orten der Mimikry „Ambivalenz des kolonialen Diskurses“ und die Illusion von Identitäten enthüllt und damit „gleichzeitig dessen Autorität“ (ebd.: 130) aufgebrochen. In den Lernendenvorstellungen kann hier der vierte Typ eines Hybriditätsverständnisses (
3.3.5) wichtige Hinweise geben, den ich als Normalität gelebter Hybridität bezeichne.
Memnun (HS08) beschreibt sich selbst als „halb Deutsch und halb Palästinenser“, was im Kontext seiner Ausführungen aber nicht als additiv verstanden wird. Diese doppelte Identifikation ist mehr – oder weniger – als die Doppelung zweier Identifikationen. Er bezeichnet es als „so ein Mischmasch“. Dieser ‚Ort‘ der Identifikation ist nicht sowohl-als-auch und auch nicht weder-noch. Dies wird besonders durch seine Kontextualisierung deutlich, die seine Identifikation in einen Kontext mit seiner Begeisterung für Hip Hop setzt, die er damit begründet, dass dort Migrationsandere ihre Erfahrungen als Migrationsandere reflektieren. Die Gruppe, mit der er sich hier identifiziert, beschreibt er als „so Ausländer, die hier so herkommen nach Deutschland – aus dem Iran, türkische Kurden oder irgendwie so was – und dann so rappen, wie die so aufgewachsen sind hier. Und wie da.“ Seine Identifikation begründet sich hier nicht auf einer ‚kulturellen‘, essenzialistischen Differenz, sondern durch die Erfahrung als Migrationsanderer. Statt die Position der Dominanzgesellschaft einzunehmen und die als ‚kulturell‘ anders Vorgestellten daraufhin zu sehen, inwiefern sie für die Dominanzgesellschaft irritierend oder bereichernd sein können, erscheint für ihn diese Form der von ihm selbst und anderen gelebten Hybridität als alltäglich und normal. Das koloniale Begehren nach Vereindeutigung ist bei ihm nicht feststellbar. Erol Yıldız hat ähnliches im Rahmen einer Studie zu postmigrantischen Verortungspraktiken festgestellt:
„Gerade Jugendliche der zweiten und dritten Generation setzen sich sowohl mit der Migrationsgeschichte ihrer Eltern als auch mit der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind, auseinander und entwickeln daraus hybride Welten. In dieser Rekonstruktionsarbeit betreiben sie eine Art ‚Erinnerungsarchäologie‘ und versuchen andere Geschichten, die bisher nicht erzählt wurden, in das öffentliche Gedächtnis zu bringen. Dabei geht es nicht mehr um Eindeutigkeit und binäre Zuordnungen, sondern um Überschneidungen, Grenz- und Zwischenräume, um Kreuzungen und simultane Zugehörigkeiten, die eine völlig andere Sicht auf die Migrationsgesellschaft eröffnen.“ (2013: 144 f)
Solche dynamischen und prozesshaften Identifikationen des Da-zwischens stehen „vereindeutigenden Migrationsdiskursen gegenüber, die ein statisches Bild migrantischer Identitäten zeichnen“ und die dementsprechend an „vermeintlich eindeutige ethnische oder kulturelle Zugehörigkeit gebunden sind“ (Ploder 2013: 147). Andrea Ploder zählt zu diesen vereindeutigenden Konstruktionen sowohl pejorative als auch „positive Essenzialisierungen, die MigrantInnen auf die ‚Exotik ihrer Heimatkultur‘ festlegen, und ein friedliches Miteinander in einer ‚multikulturellen Gesellschaft‘ propagieren“ (ebd.).
Memnun entzieht sich hier einer Vereindeutigung. Dies kann als „widerständige Positionierungen im Sinne Bhabhas“ (ebd.: 148) gedeutet werden.
„Durch dieses Dazwischen-Sein, durch ihre Grenzlage oder Liminalität ermöglichen third spaces Identifikation als widerständigen Prozess. Sie ermöglichen ein Hin- und Herspringen, eine wiederholte Grenzüberschreitung, die die Frage nach Zugehörigkeit im Chaos der Antworten verhallen lässt. Diesen Prozess versteht Bhabha als ,Performativität im Sinne einer kreativen, differenzbewussten Ausgestaltung von postkolonialer Repräsentation und Handlungsmacht‘ [...]“ (ebd.).
Aus meiner Perspektive auf dekoloniale politische Bildung erscheint es mir wichtig, diese sich der Vereindeutigung entziehenden Räume anzuerkennen. Es geht hier nicht um eine Romantisierung hybrider Subjektpositionen. Es geht auch nicht darum, die postmigrantischen Strategien aus einer weißen Perspektive oder für weiß Positionierte zu entdecken, zu analysieren und zu verwerten. Es geht aber sehr wohl auch aus einer weiß positionierten Perspektive darum, die Lebensrealitäten der migrationsgesellschaftlich Geanderten anzuerkennen, diese als handlungsfähige Subjekte anzusehen, nach Strategien der Unterstützung zu suchen und diesen Formen der Identifikation auch in Bildungssettings einen Platz zu kommen zu lassen. Im Zuge dessen geht es darum, ein Verständnis zu problematisieren, nach dem „kulturelle, ethnische, religiöse und nationale Einheitlichkeit und Eindeutigkeit als Maß der Normalität“ konstruiert wird und „Vielheit […] als Ausnahme“ (Foroutan 2019: 127) gilt. Es stellt sich auch die Frage, inwiefern solche hybriden Subjektpositionen bzw. die durch sie ausgelösten Irritationen Momente für eine Sichtbarmachung und Destabilisierung natio-ethno-kultureller Zugehörigkeitsregime und dem diesen zugrunde liegenden Begehren dichotomer Vereindeutigung darstellen können, ohne hier Romantisierung oder Othering hervorzurufen. Dabei sind auch die Vorstellungen von dominanzgesellschaftliche Identifikationen vornehmenden Schüler_innen häufig von einer Unsicherheit oder einer Ambivalenz durchzogen, die durch Irritationen vertieft werden könnten.
Die Identifikation als ein Da-zwischen bzw. als ein „Mischmasch“ (Memnun) bedeutet dabei keineswegs, orientierungslos oder handlungsunfähig zu sein. Im Zuge seiner Kritik des rassistischen Lehrerinnenhandelns spricht Memnun von einem ‚Wir‘ aus; in der rassistischen Unterstellung gegenüber den Eltern seiner Mitschülerin spricht er von „unseren“ Eltern. Was ist das für ein ‚Wir‘? Memnun ist in Deutschland geboren, hat die deutsche Staatsbürgerschaft und eine als deutsch geltende Mutter und gleichzeitig ist dieses ‚Wir‘ eines das die Lehrerin aus- und seine Rassismus erfahrene Mitschülerin einschließt. Dieses ‚Wir‘ bedeutet nicht Nicht-Deutsch, aber auch nicht Deutsch. Es scheint vielmehr auf etwas zu verweisen, was ich weiter oben als anders deutsch (El-Tayeb 2016) bezeichnet habe. Auch Şahin (HS21;
3.3.4) spricht von einem ‚Wir‘, das ähnlich strukturiert zu sein scheint. Er stellt dieses ‚Wir‘ einer Gruppe gegenüber, die er als „Ausländerfeindliche“ bezeichnet, die für ihn „Nazis oder allgemein auch normale Menschen“ darstellen können. Rassistische Äußerungen sieht er dabei gelassen entgegen, denn die kämen „eh nicht durch“. Als Grund führt er folgendes an: „Ja, wir sind halt zu viele. Ohne uns würden die vieles schaffen.“ Wer ist nun dieses ‚Wir‘ und dieses ‚Uns‘, mit dem Şahin hier eine postmigrantische Selbstsicherheit präsentiert, die auf eine Welt verweist, die nicht so sehr und nicht auf diese Weise vom Rassismus strukturiert ist? Ich sehe in diesem ‚Wir‘ eine postmigrantische Ambivalenz, die sich auch in Şahins Beschreibung – „die Ausländer, also die nicht ausländerfeindlich sind“ – findet. Diese Ambivalenz werde ich im Folgenden diskutieren.
Das eine ‚Wir‘ bestimmt sich über die Form der (Nicht-)Zugehörigkeit bzw. der Gleichzeitigkeit der Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, die nichtsdestotrotz sowohl bei Memnun als auch Şahin als „Ausländer“ bezeichnet ist. „Wir sind einfach zu viele“ verweist auf die postmigrantische Realität, in der das Statistische Bundesamt für 2018 11,2 Millionen ‚Ausländer‘ und 20,8 Millionen Menschen als ‚mit Migrationshintergrund‘ zählte. Damit wurde etwa einem Viertel der Bevölkerung in Deutschland ein ‚Migrationshintergrund‘ attestiert, was beim Statistischen Bundesamt einer Person zugeschrieben wird, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde. Diese Zahl kann in einigen urbanen Zentren durchaus höher ausfallen, so liegt der Anteil von Kindern ‚mit Migrationshintergrund‘ unter sechs Jahren in Frankfurt am Main beispielsweise bei 75,6 % oder der Anteil von Menschen ‚mit Migrationshintergrund‘ unter 18 Jahren in Hannover bei über der Hälfte.
Dieses ‚Wir‘ kann Şahin meinen, insofern er diese ‚Wir’-Gruppe nicht nur passiv durch die Zuschreibung als ‚mit Migrationshintergrund‘, also als ‚Ausländer‘ und Andere Deutsche, definiert, sondern sich als Gruppe begreift und dabei „nicht ausländerfeindlich“ ist. Seine Aussage „Ohne uns würden die vieles schaffen“ verweist zum einen darauf, dass diese Gesellschaft substanziell von Menschen getragen wird, deren Zugehörigkeit nicht, nur teilweise oder nur prekär besteht. Zum anderen impliziert es ein postmigrantisches Subjekt des Widerstands gegen Rassismus. Dieses ‚Wir‘ verweist auf eine Art strategischen Essenzialismus der Differenzpolitik. Hier wird der Ort im „identitätspolitischen Regime der Differenz“ zum Ausgangspunkt von „Politiken der Rassismuskritik“, in der „sowohl die Zurückweisung der rassistischen Markierung als auch ihre strategische Aneignung“ (Tsianos/Karakayalı 2014) ein politisches Subjekt erschaffen. Ein Beispiel dafür wäre das Label Kanak Attak (ebd.). Tsianos und Karakayalı sehen hier ein Paradox postmigrantischer Repräsentationspolitik:
„Einerseits werden die Teilungslinien, die der Rassismus in die Gesellschaft einzieht, zum konstitutiven Ausgangspunkt der Politik gegen den Rassismus; andererseits kann rassistische Diskriminierung nur dann thematisiert werden, wenn das Kriterium, entlang dessen der rassistische Ausschluss erfolgt, benannt wird. Hannah Arendt brachte es zur berühmten Formel: ‚daß man sich immer nur als das wehren kann, als was man angegriffen ist‘.“ (ebd.)
Diese Form der Aneignung der Zuschreibung, wie sie etwa durch die Gruppe Kanak Attak praktiziert wurde, hat eine empowernde Wirkung und untergräbt schon als solche die rassistischen Zuschreibungen.
Eine andere, aber keine widersprechende Interpretation des ‚Wir‘ von Memnun und Şahin könnte darin bestehen, ein ‚Wir‘ vorzustellen, das über die Grenzen der (Nicht-)Zugehörigkeit hinweg das „Gleichheitsversprechen“ (Foroutan 2019: 69) der postmigrantischen Gesellschaft realisieren möchte. Dieses ‚Wir‘ konstituiert sich also ebenso über die Infragestellung des Zugehörigkeitsregimes, jedoch über die durch es hergestellte Differenz hinweg, ohne diese dabei ausblenden zu müssen. Vom Begriff der postmigrantischen Gesellschaft her gedacht, dreht sich der „Kernkonflikt in postmigrantischen Gesellschaften“ (ebd.: 71) nur an der Oberfläche um Migration. Naika Foroutan zufolge geht es dabei vielmehr grundsätzlicher um die Frage der „Aushandlung und Anerkennung von Gleichheit als zentralem Versprechen der pluralen Demokratie“ (ebd.), also um die Frage, wie ‚wir‘ das Zusammenleben gestalten wollen. „Ohne uns würden die vieles schaffen“ würde hier dann bedeuten, dass diese ‚Wir‘-Gruppe dafür kämpft, dass die Gesellschaft nicht oder zumindest nicht in diesem Maß und nicht auf diese Weise durch ein natio-ethno-kulturelles Zugehörigkeitsregime bestimmt wird.
Der Begriff des Postmigrantischen oder der postmigrantischen Gesellschaft steht nicht im Widerspruch zum Begriff der Migrationsgesellschaft. Zwar wurde der Begriff der postmigrantischen Gesellschaft dafür kritisiert, dass er sich über das Präfix ‚post‘ vom falschen Objekt distanziere, da es nicht um eine Distanz oder Überwindung vom Migrantischen gehe, sondern um die Kritik an migrationsgesellschaftlichen Phänomenen und Reglementierungen (Mecheril 2014). Naika Foroutan macht dagegen den Begriff stark. Sie sieht mit dem Begriff die Möglichkeit gegeben, klarer – empirisch – diejenigen gesellschaftlichen Phänomene in den Blick zu nehmen, die letztlich nicht mehr mit Migration zu tun haben und – normativ – binäre Codes zu erweitern, um das Gleichheitsversprechen realisieren zu können (Foroutan 2019: 55). Migrationsgesellschaft und postmigrantische Gesellschaft beschreiben im Prinzip mit ähnlichen Perspektiven ähnliche Phänomene und können aus meiner Sicht nicht als konkurrierende, sondern als sich ergänzende Interpretationsraster von Wirklichkeit angesehen werden. Ausgehend von den Lernendenvorstellungen habe ich mich für diesen Abschnitt auf das Konzept der postmigrantischen Gesellschaft bezogen, da hier ein Aspekt – den ich im Folgenden darstelle – stärker hervorgehoben wird, den ich in meiner Ko-Konstruktion der Schüler_innenvorstellungen aufscheinen sehe; wobei dies prinzipiell auch im Konzept der Migrationsgesellschaft eingeschrieben ist.
Das Konzept der postmigrantischen Gesellschaft zielt nicht darauf ab, „die Tatsache der Migration zu historisieren“ (Tsianos/Karakayalı 2014), sondern zielt darauf ab, dass „die Gesellschaft über Politiken, Diskurse, Sichtbarkeiten, Freundeskreise, Partnerschaften, Konsumgewohnheiten, Sport, Kulturproduktion, Medien etc. als Ganzes durch [die] Erfahrung der Migration strukturiert ist“ (Foroutan 2019: 56). Hier erscheint also die postmigrantische Durchdringung aller Lebensbereiche als ein unhintergehbarer Fakt, der in politische Stärke umgedeutet und als solche mobilisiert werden kann. Die gegenwärtigen Verhältnisse erscheinen vor diesem Hintergrund als Resultat von Kämpfen der Migration, deren Sichtbarmachung in emanzipatorischen Bildungsprozessen wichtig ist. Eine dekoloniale politische Bildung kann beide Konstruktionen eines auf die Einlösung des postmigrantischen Gleichheitsversprechens zielenden ‚Wirs‘ als normativen Fluchtpunkt ins Auge fassen – ein ‚Wir‘, das sich entlang der strategischen Aneignung der rassialisierten Zuschreibung bildet und eines, das über diese Grenzen hinweg das Zugehörigkeitsregime destabilisieren will. Neben der Infragestellung des normativen Begehrens nach Vereindeutigung und des damit zusammenhängenden Ziels der Veruneindeutigung der Eindeutigkeiten des Zugehörigkeitsregimes stellt eine dekoloniale politische Bildung eine weitere Frage. In den Schüler_innenvorstellungen wurden Ansätze deutlich, die Frage des Politischen der postmigrantischen Gesellschaft zu stellen, also die Frage danach, wie ‚wir‘ zusammen leben und welche Solidaritätslinien und Allianzen denkbar sind, um Prozesse der Infragestellung und Verschiebung hin zur Realisierung des postmigrantischen Gleichheitsversprechens voranzutreiben. Eine dekoloniale politische Bildung kann hiervon inspiriert an diese Prozesse anknüpfen und Räume zur Verfügung stellen, die Frage des Politischen zu vertiefen.
4.2.3.3 Exkurs/Modell: Differenzmarker des Zugehörigkeitsregimes vor dem Hintergrund des Erbes der Aufklärung
In diesem als Exkurs konzipierten Abschnitt entwerfe ich ein Modell in welchem von mir in den Lernendenvorstellungen vorgefundene Differenzmarker des natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsregimes durch die Darstellung der Artikulation dieser Differenzmarker in der Philosophie der Aufklärung kontextualisiert werden. Der Charakter dieses Abschnitts als Exkurs ist insofern durchaus ernst gemeint, als dass es durchaus möglich ist, wenn Leser_innen dieses Buches diesen Teil einfach überspringen; er ist nicht wesentlich für das Argument und bringt aber dennoch aus meiner Sicht einen solchen Mehrwert an Erkenntnis mit sich, dass er als Abschnitt Sinn ergibt. Für Leser_innen jedoch, die eine solche Genealogie natio-ethno-kultureller Differenzmarker in der Ideengeschichte der Aufklärung nicht für unmittelbar zielführend – oder schlicht für langweilig – halten, besteht hier die Möglichkeit, den Exkurs einfach zu überblättern.
In den Lernendenvorstellungen habe ich innerhalb der Prozesse des Selfings und Otherings in der Migrationsgesellschaft (
3.2) fünf Differenzmarker vorgefunden, über die die Prozesse konstruiert werden: ‚Rasse‘, Sprache, ‚Kultur‘, Werte und Leistung. Diese Liste ist genauso wenig als abschließend gedacht, wie das Modell dieses Exkurses als eine Totalisierung zu verstehen ist. Jeden dieser Differenzmarker werde ich im Rahmen dieses Exkurses mit einem Denker der Aufklärung verknüpfen und anhand dieses Denkers exemplarisch herausarbeiten, wie Nation und der jeweilige Differenzmarker gedacht wurde: Kant für die Nation als ‚rassische‘ Gemeinschaft, Fichte für die Nation als Sprachgemeinschaft, Herder für die Nation als Kulturgemeinschaft, Renan für die Nation als Wertegemeinschaft und Sieyès für die Nation als Leistungsgemeinschaft. Anhand dieser fünf Denkern des 18. und 19. Jahrhunderts versuche eine dekonstruktive Lesart der Ideengeschichte der Nation-Form zu entwickeln, die hoffentlich dazu beiträgt, die Kolonialität heutiger Zugehörigkeitsregime in ihrer Widersprüchlichkeit und ihrer langen Verstricktheit mit der Tradition der Aufklärung – respektive koloniales Erbe – besser verstehen zu können. Durch die Fixierung auf diese fünf weißen, europäischen, alten Männer reproduziere ich eine problematische Art Geschichte zu schreiben, obwohl ich diese ja nutze um koloniale Momente herauszuarbeiten. Doch wiegt aus meiner Sicht der Nutzen dieses Defizit auf. Es sind nun mal nicht zuletzt weiße Männer wesentlich für die Konstruktion des kolonialen Erbes verantwortlich und
en passant erlaubt dieser Exkurs, die identitätsstiftend-affirmative Rezeption der Autoren der Aufklärung in der Gegenwart infrage zu stellen. Dabei werde ich mich auf den deutschen und französischen Kontext begrenzen, da ich mich hier am besten auskenne.
Ich verfolge mit diesem Exkurs mindestens zwei Ziele. (1) Erstens möchte ich herausstellen, dass verschiedene Formen natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit nicht einer Genealogie entsprechen, die beispielsweise vom biologischen Rassismus zum Kulturalismus führt. Vielmehr ist die Konstruktion nationaler Zugehörigkeit schon immer umstritten und mehrschichtig. Es existierten und existieren mehrere Differenzmarker, die konkurrieren oder sich ergänzen. Die Konstruktion von natio-ethno-kulturellen Markern der Differenz und (Nicht-)Zugehörigkeit sind aus meiner Sicht nicht als trennscharfe Konstruktionen, sondern eher als Assemblagen zu verstehen. Die Vorstellung der Genealogie des Rassismus oder der nationalen Zugehörigkeit, nach der es genealogisch erst biologischen Rassismus gegeben habe, der heute verklausuliert in ‚Kultur‘ wiederkehrt, ist weit verbreitet. Dieser erscheint dann als eine Art Urform des Rassismus und nationaler Zugehörigkeit. Die Vorstellung wurde aber auch schon häufig kritisiert. Beispielsweise Franz Fanon formulierte 1956 in seinem Aufsatz Rassismus und Kultur (1956) eine alternative Sichtweise und entwickelte den Begriff eines „kulturellen Rassismus“ (Fanon 1956: 40). Balibar zeigt dies anhand des Antisemitismus der Reconquista, in dem er bereits einen „kulturalistischen Rassismus“ (Balibar 1988c: 32) sieht. Statt einer der Teleologie zuneigenden Genealogie des Rassismus möchte ich dafür plädieren, für die Sichtbarmachung und die Kritik von normalisierten Formen natio-ethno-kultureller Zugehörigkeiten eher in Assemblagen zu denken. Rassismus hat immer schon verschiedene Elemente vermischt und in Stellung gebracht, um Ausschluss und Identität zu rechtfertigen (Balibar 1988c). Wie im Modell deutlich werden wird und wie in der Analyse der Schüler_innenvorstellungen deutlich wurde, kommt keines der Elemente in Reinform vor, sondern immer in Bezug zu anderen Elementen – diese Unschärfe in der Darstellung sehe ich dabei nicht als Makel, vielmehr ist sie Programm. In der liberalen Tradition der Theorie der Nation wird in der Regel die Unterscheidung zwischen einem vermeintlich bösen – blutsrechtlichen, völkischem – und einem vermeintlich guten – verfassungsbasierten, auf Werten beruhenden – Nationenverständnis eingeführt; einem nationalen Staatsbürgerschaftsverständnis des ethnos und einem des demos. Diese Tradition macht es sich aus meiner Sicht zu leicht und übersieht so zahlreiche Fallstricke, die in der irreduktiblen Verwobenheit beider Konzepte liegen.
(2) Zweitens möchte ich herausarbeiten, wie die von mir ausgehend von den Schüler_innenvorstellungen ko-konstruierten Differenzmarker in einer Kontinuität zum Erbe des historischen Kolonialismus stehen, also wie dieses Erbe in den Lernendenvorstellungen aufscheint. Die Rückbindung der Lernendenvorstellungen an die ideengeschichtliche Tradition der europäischen Kolonialität macht deutlich, dass dies nicht einem Defizit ihres Denkens entspringt oder gar als Überbleibsel des Nationalsozialismus externalisiert werden können, sondern vielmehr zum europäisch-kolonialen Erbe gehören. Dieses wiederum war prägend für die Nation-Form selbst und seine Umsetzung in Deutschland sowie aber auch für die Entstehung des mit der Nation-Form verbundenen Systems der bürgerlichen Demokratie. Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsregime und die Verbindung von Rassismus und Nationalstaatlichkeit sind der bürgerlichen Demokratie meinem Exkurs zufolge nicht äußerlich, sondern eng mit ihr verknüpft und in sie eingeschrieben. Ich werde auch einige Spuren in den Werken der fünf Autoren verfolgen, um genau dies deutlich werden zu lassen. Eine dekoloniale politische Bildung steht vor diesem Hintergrund aus meiner Sicht vor der großen Herausforderung, die Logik des Nationalen selbst transzendieren.
Mit dem Aufzeigen der kolonialen Kontinuität der natio-ethno-kulturellen Differenzmarker will ich nicht suggerieren, dass diese überhistorisch oder unabhängig von den Kämpfen der Migration und den damit verbundenen Transformationen des Zugehörigkeitsregimes sind. Allerdings ermöglicht es, die Sichtbarmachung kolonialer Kontinuitäten, so zumindest meine Hoffnung, sowie Fragmente des Zugehörigkeitsregimes besser verstehen und kritisieren zu können. Shadi Kooroshy und Paul Mecheril zufolge kann die vorherrschende Krisensemantik einer Migrations- und Flüchtlingskrise auf eine „Krise der Legitimität und Funktionalität der nationalstaatlichen Ordnung“ (Kooroshy/Mecheril 2019: 80) zurückgeführt werden. Der Nationalstaat braucht „das Phantasma der Nation“ (Mecheril 2020: 110) und muss diese unentwegt produzieren. Die Nation kann als etwas verstanden werden, „das uns definiert, aber zugleich undefinierbar bleibt“ (Salecl 1994: 14, zitiert nach ebd.) Die so entstehende „symbolische Lücke“ muss gefüllt werden. „Je bedeutsamer die Schwierigkeit der Bestimmung der Grenze wird, desto attraktiver wird die phantasmatische Absicherung und Iteration des Wir.“ (Mecheril 2020: 110) Dabei stellen Kooroshy und Mecheril fest, dass „Race und Nation“ nicht identisch sind, allerdings „eine strukturelle Verwandtschaft zwischen den Vereindeutigungspraktiken des Rassismus und der Logik des Nationalstaats“ (Kooroshy/Mecheril 2019: 82) existiert, die eine enge Wechselbeziehung konstituiert.
Um diesen Zusammenhang theoretisch aufzuschlüsseln, hat Étienne Balibar den Begriff der Nation-Form entwickelt, dessen Theorien für diesen Abschnitt einen zentralen Referenzrahmen darstellen. Entgegen der vorherrschenden Naturalisierung der Form des Nationalen zeigt er auf, dass die Durchsetzung der Nation-Form keine naturwüchsige Entwicklung war, sondern kontingent – es hätte sich also auch eine ganz andere oder mehrere, konkurrierende Formen durchsetzen können. Mit Bezug auf Wallerstein und Braudel führt Balibar beispielsweise das Reich oder die im Westeuropa des 17. Jahrhunderts dominanten politisch-kommerziellen Netze wie die Hanse als historisch wirkmächtige, konkurrierende Staatsformen an (Balibar 1988b: 111). Étienne Balibar plädiert dafür, die Entstehung von Nationen ausgehend von der globalen Weltwirtschaft und Machtstrukturen zu rekonstruieren (Balibar 1988b: 110). Balibar stellt klar, dass es nicht angemessen ist, die „Nation-Form aus den kapitalistischen Produktionsverhältnissen ‚abzuleiten‘“ (ebd.). In Anlehnung an die Weltsystemtheorie von Braudel und Wallerstein verbindet er die
„Konstituierung der Nation nicht mit der Abstraktion des kapitalistischen Marktes […], sondern mit seiner konkreten historischen Form: die ‚Welt-Wirtschaft‘, die immer schon so organisiert war und hierarchisiert ist, daß es ein ‚Zentrum‘ und eine ‚Peripherie‘ gibt, denen unterschiedliche Akkumulations- und Ausbeutungsformen der Arbeitskraft entsprechen und deren Beziehungen durch ungleichen Tausch und durch Herrschaft gekennzeichnet sind“ (ebd.).
Balibar zufolge konstituieren sich die „nationalen Einheiten […] gegenseitig als konkurrierende Instrumente der Herrschaft des Zentrums über die Peripherie“ (ebd.).
Für ihn ist damit „jede moderne ‚Nation‘ ein Produkt der Kolonisation: sie war stets bis zu einem gewissen Grad eine kolonisierte oder eine kolonisierende Macht, mitunter sogar beides“ (ebd.). Die gegenwärtige Welt, die als eine Welt der Nationalstaaten strukturiert ist, in der die Nation-Form quasi universalisiert und naturalisiert ist, erscheint auch unter diesem Gesichtspunkt als wesentlich durch koloniale Prozesse strukturiert. Ich werde in diesem Modell die Analyse der materiellen Entstehungsbedingungen des Nationalen nicht weiter vertiefen, sondern eine ideengeschichtliche Re- und Dekonstruktion des Denken des Nationalen verfolgen. Ranabir Samaddar kritisiert in diesem Sinne an der konstruktivistischen Theorie der Nation, alles auf die Formel zu bringen: Nation ist Narration. „Nation, as these people famously said, was narration.“ (Samaddar 2012: xx) Systematisch würden so die Aspekte von Klasse, Arbeit und Reichtumsverteilung zugunsten von Fragen der kulturellen Signifikation ausgeblendet (ebd.). Diese Spur werde ich im Rahmen des hier vorliegenden Textes aber nicht weiter verfolgen.
Nach Balibar hat keine Nation eine „ethnische Basis“ (Balibar 1988b: 115). Nichtsdestotrotz ist Ethnizität ein konstitutiver Bestandteil der Nation-Form. Balibar entwickelt hierfür den Begriff der fiktiven Ethnizität. Darunter versteht er, die durch den Nationalstaat geschaffene Gemeinschaft (Balibar 1988b: 118). Fiktion darf hier aber nicht „im Sinne einer bloßen Illusion ohne historische Auswirkungen“ aufgefasst werden, sondern „analog zur
persona ficta der juristischen Tradition, im Sinne einer von den Institutionen ausgehenden Wirkung, einer ‚Konstruktion‘“ (ebd.). ‚Ethnizität‘ ist also eine Konstruktion, wenngleich auch eine real wirkmächtige.
„Keine Nation besitzt von sich aus eine ethnische Basis, sondern in dem Maße, wie die Gesellschaftsformationen einen nationalen Charakter bekommen, werden die Bevölkerungen ‚ethnizisiert‘, die sie umfassen, die sie sich teilen oder die sie dominieren; d. h. diese werden für die Vergangenheit und Zukunft so dargestellt, als würden sie eine natürliche Gemeinschaft bilden, die per se eine herkunftsmäßige, kulturelle und interessenmäßige Identität hat, welche die Menschen und die gesellschaftlichen Bedingungen transzendiert.“ (Balibar 1988b: 118, Herv. i. O.)
Dieser Prozess der Ethnisierung, der Konstruktion des Volks, kann vor diesem Hintergrund auch als „verspätete Nationalisierung der Gesellschaft“ bezeichnet werden, „so verspätet, daß sie letztlich als eine permanente Aufgabe erscheint“ (ebd.: 113). Selbst wenn das Volk „tendenziell konstruiert ist, existiert es nicht ein für allemal“ (ebd.: 115). Nach Balibar bedarf der Prozess der Herstellung des Volkes einer „spezifischen Ideologie-Form“.
„Sie [diese Ideologie-Form] muss zugleich ein Massen- und ein Individuationsphänomen sein, eine ‚Anrufung der Subjekte‘ (Althusser) leisten, die wesentlich wirksamer und tiefgehender ist als die einfache Anerziehung politischer Werte; oder anders gesagt: sie muss diese Anerziehung der Werte in einen elementareren (oder auch ‚primären‘) Prozess integrieren, in dessen Verlauf die Affekte Liebe und Hass sowie die ‚Selbst‘-Vorstellung fixiert werden. Sie muss eine Vorbedingung für die Kommunikation zwischen den Individuen (den ‚Bürgern‘) und zwischen den sozialen Gruppen werden – nicht, indem sie alle Unterschiede auslöscht, sondern sie relativiert und sie sich unterordnet, so daß schließlich der symbolische Unterschied zwischen ‚uns‘ und ‚den Fremden‘ obsiegt und als irreduktibel erlebt wird.“ (ebd.)
Ein Volk kann also dann als tendenziell konstruiert angesehen werden, wenn in den Selbstverhältnissen (Subjektivierungsweisen der Individuen) und sozialen und politischen Artikulationen und Gruppenbildungen (Vergemeinschaftung) das Nationale einen dominierenden, wenn auch nicht ausschließlichen Faktor darstellt.
Die nationalistische Erzählung erschafft die Illusion der „Selbstentfaltung des nationalen Wesens“ (ebd.: 107). Diese Illusion charakterisiert Balibar als eine zweifache: Zum einen besteht sie in der Annahme, dass sich „die Generationen, die jahrhundertelang auf einem annähernd gleichbleibenden Territorium unter einer annähernd einheitlichen Bezeichnung aufeinandergefolgt sind, eine unveränderliche Substanz übermittelt haben“ (ebd.). Zum anderen besteht sie außerdem in der Überzeugung, dass die „Entwicklung, deren Elemente wir im Nachhinein so anordnen, daß wir uns selbst als ihr Resultat begreifen, die einzig mögliche war, daß sie schicksalhaft war“ (ebd.). Diese Schicksalsgemeinschaft wird gleichermaßen in die Vergangenheit als auch in die Zukunft projiziert.
Das Problematische an der Nation-Form ist nach Balibar nicht, dass eine Nation eine imaginäre Gemeinschaft ist und insofern auf einer Konstruktion basiert. Nach Balibar und Anderson ist nämlich jede soziale Gemeinschaft, die durch das Wirken von Institutionen reproduziert wird, imaginär (Anderson 1983: 6; Balibar 1988b: 115). Nicht nur nationale Gemeinschaften beruhen auf der „Projektion der individuellen Existenz in das Geflecht einer kollektiven Geschichte, auf der Anerkennung eines gemeinschaftlichen Namens und auf den Traditionen, die als Spuren einer unvordenklichen Vergangenheit erlebt werden (selbst wenn sie erst in jüngerer Zeit geschaffen und den Menschen anerzogen wurden)“ (Balibar 1988b: 115). Das Spezifische an der Nation ist dementsprechend nicht, dass die ihr zugehörige Gemeinschaft imaginär ist, sondern dass das Imaginäre der Nation die Form des ‚Volks‘ annimmt (ebd.). Im Folgenden wird sich dementsprechend alles um die Frage drehen, was ein Volk ist bzw. wie es hergestellt wird. Häufig werden zwischen dem Verständnis des Volks als demos und ethnos unterschieden. Im Sinne eines emanzipatorischen Begriffs von Citizenship erscheint es als sehr attraktiv, beide Elemente als gegensätzliche Auffassungen von Citizenship zu deuten. Die Wirklichkeit scheint jedoch komplexer, da beide Elemente konstitutiv miteinander verschränkt sind, was anhand der für beide konstitutiven Rolle der Differenz deutlich wird.
Zur Konstruktion der fiktiven Ethnizität braucht es die Differenz, die Figur des Anderen. Sie ist konstitutiv für die Konstruktion einer nationalen Identität. Die Differenz schreibt sich dabei in die Identität ein, deren Konstruktion – analog zu der des ‚Volks‘ oder der ‚Ethnie‘ – immer unabgeschlossen, brüchig und ambivalent ist und bleibt. Die konstitutive Rolle des Othering für die Herstellung der fiktiven Ethnizität bringt Stuart Hall in folgendem oft angeführten Zitat zum Ausdruck: „Sie [die Identität] muss durch das Nadelöhr des Anderen gehen, bevor sie sich selbst konstruieren kann.“ (Hall 1991: 45) Beide Seiten der Differenz sind also Fiktionen, die aber sehr reale Auswirkungen haben. Paul Mecheril und Thomas Teo beschreiben dies plastisch für den deutschen Kontext anhand von „fiktiven Idealtypen“:
„Mit anderen Worten: ethnische, nationale, kulturelle Identitäten sind Konstruktionen, die von einem fiktiven Idealtyp genährt werden. Die Deutsche und noch vielmehr der Deutsche – das sind Ideen, Vorstellungen, Konzepte, Schemen, Phantasien, Träume, Programme, Entwürfe, Fiktionen, Wünsche, doch keine greifbare Realität: Sie und ihn gibt es nicht. [...] So wie wir die Konstruktionen des Deutschen kennen, so kennen wir die des Nicht-Deutschen: Na klar, er ist schwarz, er ist braun, und er sieht aus wie ein Türke.“ (Mecheril/Teo 1994: 9)
In der Re- und Dekonstruktion der Nationsbegriffe der fünf Autoren werde ich immer auch die Frage nach dem Anderen stellen, dem Anderen als konstitutives Element für das Eigene.
Étienne Balibar schlägt vor, in der Analyse von zwei großen konkurrierenden Wegen auszugehen, nämlich von der Konstruktion der Ethnizität über die Sprache und die ‚Rasse‘ (Balibar 1988b: 119). Auf den ersten, oberflächlichen Blick scheint die Konstruktion über die ‚Rasse‘ als verschlossen, während die Sprachgemeinschaft ja allein insofern jeder_m dadurch offen steht, sich die Sprache anzueignen. Die Realität sieht jedoch anders aus. Auch die „erbliche Substanz“, so Balibar weiter, „muss immerfort neu definiert werden: gestern das ‚Germanentum‘, die ‚französische‘ oder ‚angelsächsische‘ Rasse, heute das ‚Europäertum‘ oder die ‚Okzidentalität‘, morgen vielleicht die ‚mediterrane Rasse‘“ (ebd.: 127). Und obwohl es ja unbestritten Menschen möglich ist, sich sprachliche Kompetenz anzueignen, ist die Offenheit der Sprachgemeinschaft nur ideell. Zwar ist sie „formal egalitär“, wird jedoch praktisch zum Ausschlussfaktor und schafft ein Netz von „Spaltungen“ und „differentiellen“ (ebd.) Normen. „Die Produktion der Ethnizität, das bedeutet auch die Rassisierung der Sprache und die Verbalisierung der Rasse.“ (ebd.) Ich stimme seiner Idee der wechselhaften Überschreibung der sprachlich und ‚rassisch‘ konstruierten Nation zu, bin jedoch skeptisch gegenüber seiner mir etwas vorschnell erscheinenden Reduktion auf diese zwei Elemente der Sprache und der ‚Rasse‘. Ich plädiere mit meinem Modell dafür, den Blick für weitere mögliche Differenzmarker zu öffnen und die ‚Liste‘ nicht zu schließen, was ich auch mit diesem Modell nicht anstrebe. Zusätzlich verkompliziert sich die dadurch, dass das natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsregime mit supranationale Identifikationen überschrieben wird, die Paul Mecheril als „umständlichere natio-ethno-kulturell kodierte Konstruktionen mit territorialer Referenz wie Europa oder der Westen“ (Mecheril 2020: 110) fasst.
4.2.3.3.1 Kant: Nation als ‚rassische‘ Gemeinschaft
Immanuel Kant (1724–1804) steht in der bürgerlichen Ideengeschichte symbolisch für einen Vorreiter für Aufklärung, Kosmopolitismus, Weltbürgertum und Demokratie. Sein Text Zum ewigen Frieden gilt einigen als inoffizielles Gründungsmanifest der UNO und einer kosmopolitischen Haltung. Im ersten Definitivartikel seiner berühmten Schrift Zum ewigen Frieden von 1795 heißt es beispielsweise: „Die Form der Regierung […] betrifft die auf die Konstitution (den Akt des allgemeinen Willens, wodurch die Menge ein Volk wird) gegründete Art, wie der Staat von seiner Machtvollkommenheit Gebrauch macht: und ist in dieser Beziehung entweder republikanisch oder despotisch.“ (Kant 1795: 12) Kant favorisiert natürlich die republikanische Form. Jürgen Habermas sieht bei Kant die Idee demokratischer Selbstbestimmung umgesetzt, die noch „nicht den kollektivistischen und zugleich ausschließenden Sinn der Behauptung nationaler Unabhängigkeit und der Verwirklichung nationaler Eigenart“ (Habermas 1996: 166) habe. Vielmehr habe sie „den inklusiven Sinn einer alle Bürger gleichmäßig einbeziehenden Selbstgesetzgebung“ (ebd.). Eine solche liberale Interpretation zielt zwar darauf, einen nicht exklusiven Begriff von Bürgerschaft stark zu machen, der dann einem ‚schlechten‘ Demokratie- und Nationsverständnis entgegengestellt werden kann. De facto löscht eine solche Interpretation aber die Verwobenheit von Exklusion und ‚Demokratie‘ als Institution in der Nation-Form aus, indem herrschaftliche und ausschließende Aspekte unsichtbar gemacht und so dethematisiert werden.
Im Folgenden wird Kant von einem anderen Standpunkt aus thematisiert, nämlich eines nations- und rassismuskritischen, in der Hoffnung, dass eine Reflexion von Herrschaft und Exklusion mehr zu ihrer Überwindung beitragen kann als die Apotheose der bürgerlichen Aufklärung. Kant als Vertreter eines ‚rassischen‘ Nationsverständnisses zu wählen (und nicht beispielsweise seinen auch in der herrschenden Geschichtsschreibung als Rassetheoretiker geltenden Göttinger Mitdiskutanten Christoph Meiners) ist der Möglichkeit geschuldet anhand von Kant die tiefe und irreduktible Verwobenheit von einem rassistischen Bürgerschafts- und Nationenverständnis mit der Tradition der europäischen, bürgerlichen Aufklärung aufzuzeigen. Dafür wird an einigen Stellen auch die rassistische Sprache Kants wiedergegeben. Obwohl mir bewusst ist, dass eine Reproduktion rassistischer Sprache unter Umständen verletzend und Herrschaftsdiskurse reproduzierend wirken kann, erscheint es mir vor dem Hintergrund der Herrschaft dethematisierenden Kantrezeption als angemessen.
In seinen Schriften zur pragmatischen Anthropologie verwendet er die Begriffe Nation und Volk weitgehend synonym (Speich Chassé 1997: 3). Zu Beginn des Abschnitts über den „Charakter des Volks“ definiert Kant seinen Begriff des Volks: „Unter dem Wort Volk (
populus) versteht man die in einem Landstrich vereinigte Menge Menschen, in so fern sie ein Ganzes ausmacht.“ (Kant 1798: 311) Neben der Bedingung der Territorialität muss also auch diejenige des aktiven Zusammenschlusses erfüllt sein. Die Unterscheidung von Menschen, die auf einem Territorium wohnen, in Bürger und Nicht-Bürger hat bereits eine lange Tradition. Ein wichtiger Referenzpunkt stellt hier Rousseau dar, der im
Contrat Social (Buch 1, Kapitel
5) die Unterscheidung von der Menge (
multitude) und der Gesellschaft (
société) bzw. der Anhäufung (
agrégation) und dem Zusammenschluss (
association) einführt (Rousseau 1762: 15). Rousseau stellt hier eine Frage, deren Beantwortung sich viele Generationen bürgerlicher Philosoph_innen widmen werden, nämlich, dass die Frage, wodurch ein ‚Volk‘ zum ‚Volk‘ wird, der Frage, wie das ‚Volk‘ einen König wählt, vorausgeht und das eigentliche Fundament der Gesellschaft darstellt.
12 Kant führt die Differenz auf folgende Weise ein:
„Diejenige Menge oder auch der Theil derselben, welcher sich durch gemeinschaftliche Abstammung für vereinigt zu einem bürgerlichen Ganzen erkennt, heißt Nation ( gens ); der Theil, der sich von diesen Gesetzen ausnimmt (die wilde Menge in diesem Volk), heißt Pöbel ( vulgus ), dessen gesetzwidrige Vereinigung das Rottiren ( agere per turbas ) ist; ein Verhalten, welches ihn von der Qualität eines Staatsbürgers ausschließt.“ (Kant 1798: 311)
Turba ist der lateinische Ausdruck für ‚Schar‘, ‚Volkshaufen‘, ‚Getümmel‘ oder auch ‚Lärm‘. Rottiren ist ein altertümlicher Ausdruck für nicht gesetzeskonformen Zusammenschluss, insbesondere verwendet für den Zusammenschluss von Armen, protestierenden Handwerker_innen und Arbeiter_innen, der sich am ehesten im gegenwärtigen, vor allem für Tiere verwendeten Ausdruck der Zusammenrottung wiederfindet. Diese Varianten der Konstruktion des Pöbels, der keine Stimme hat, sondern Lärm macht, und insofern keinen Anteil am auf ‚Vernunft‘ begründeten Zusammenschluss der Bürger haben kann, verweist auf die systematischen Einschränkungen des nur scheinbar egalitären Verständnisses von Staatsbürgerschaft in der Aufklärung.
An dieser Stelle interessiert mich aber insbesondere Kants Begriff der gemeinschaftlichen Abstammung, durch den sich die Menschen einer Nation zu einem bürgerlichen ganzen erkennen würden. Im Folgenden erstellt Kant eine Art Tableau der Charakteristiken der verschiedenen Völker bzw. Nationen der Welt. Für ihn hat dabei jedes Volk seinen eigenen Charakter (Speich Chassé 1997: 6). Die Gründe für diese wesensmäßigen Unterschiede liegen dabei für Kant nicht im Klima oder der Regierungsform. Als Begründung führt er an, dass ein Volk trotz Wanderungsbewegungen seinen Charakter behalten würde bzw. er argumentiert, dass der Ursprung des Charakters einer Regierungsform im Charakter der Nation liegen müsse und nicht anders herum (Kant 1798: 313). Er unterscheidet dabei zwischen dem „angebornen, natürlichen Charakter, der […] in der Blutmischung der Menschen liegt“ und dem „erworbenen künstlichen (oder verkünstelten)“ Charakter der Nationen (ebd.: 319). Das „Naturell, was sie jetzt wirklich haben […] müßte dieses von dem angebornen Charakter des Urvolks ihrer Abstammung hergeleitet werden“ (ebd.).
Eine ‚Vermischung‘ von ‚Völkern‘ sieht er als große Gefahr an. So steht dem „flatterhaften und kriechenden der jetzigen Griechen“ ihre eigene ruhmreiche Vergangenheit gegenüber. Diesen vermeintlichen Niedergang sieht Kant in der „Vermischung der Stämme“ begründet, „welche nach und nach die Charaktere auslöscht“ und „dem Menschengeschlecht, alles vorgeblichen Philanthropismus ungeachtet, nicht zuträglich“ (ebd.: 321) ist. Auf Kants Tableau der Völker der Welt werden im Gegensatz zu den Charakterzeichnungen von Frankreich, England und Deutschland die „Charakterzeichnung der übrigen“ kürzer gefasst, da „deren Nationaleigenthümlichkeit“ nicht in erster Linie in ihrer „verschiedenen Cultur“ begründet ist, sondern aus der „Anlage ihrer Natur durch Vermischung ihrer ursprünglich verschiedenen Stämme“ (ebd.: 315) entspringe. So sei beispielsweise der „aus der Mischung des europäischen mit arabischem (mohrischem) Blut entsprungene Spanier“ aufgrund dieser ‚Blutsmischung‘ zurückgeblieben:
„er lernt nicht von Fremden, reiset nicht, um andere Völker kennen zu lernen; in den Wissenschaften wohl Jahrhunderte zurück; schwierig gegen alle Reform ist er stolz darauf, nicht arbeiten zu dürfen, von romantischer Stimmung des Geistes, wie das Stiergefecht, […] und zeigt in seinem Geschmack zum Teil außer-europäische Abstammung“ (ebd.: 316).
Ich will an dieser Stelle zwei Punkte hervorheben, die mir für Kants Nationenverständnis zentral erscheinen. (1) Er hierarchisiert die Nationen danach, inwiefern sie zum Fortschritt geneigt sind („wohl Jahrhunderte zurück“). Die zentrale Begründungsstruktur für die Bestimmung der fortschrittlichsten bzw. ‚zivilisiertesten‘ Völker – Frankreich, England, Deutschland – im Gegensatz zum Rest ist der Wille zur Arbeit („stolz darauf, nicht arbeiten zu dürfen“). Für Kant sind alle Völker aus warmen Klimazonen der Arbeit abgeneigt – wie hier im Beispiel der unter dem Einfluss der „außer-europäischen Abstammung“ stehenden Spanier. Dieses Defizit wird auch nicht durch eine Umsiedlung in andere Klimazonen aufgehoben, sondern bleibe Teil der Anlage des jeweiligen Volks. Dies wird unter anderem am antiziganistischen Figur des ‚Z*s
13‘ in Kants Werk deutlich, der als Prototyp dafür gelten kann, da es laut Kants kolonial-nationalistischen Vorstellungen niemand dieser Volksgruppe es jemals geschafft habe, „ein Geschäfte [zu] treiben, was man eigentlich Arbeit nennen kann“ und „niemals einen zu ansässigen Landanbauern oder Handarbeitern tauglichen Schlag abgeben wollen“ (Kant 1788: 174). (2) Neben dem Aspekt des Arbeitsethos als grundlegendem Kriterium der Unterscheidung der Anlage zur Fortschrittlichkeit der Völker wird am Beispiel ‚des Spanier‘ wiederum die in Kants Werk zentrale Diskussion um die Weisen, Effekte und Gefahren der ‚Vermischung‘ deutlich. Die Charakteristik ‚des Spaniers‘ und ‚seines‘ Volkes muss nicht – wie bei den ‚civilisirtesten‘ – über die gelebte ‚Cultur‘, sondern über die ‚Blutsmischung‘ erklärt werden. Das Ideologem der ‚Vermischung‘ respektive der ‚Reinheit‘ ist ein zentrales Charakteristikum des ‚rassischen‘ Nationsverständnisses und hat eine lange Geschichte in Kolonialismus und Antisemitismus (Ha 2010).
Interessant ist, dass viele Völker sich nach Kant nicht zu Völkern entwickelt haben oder keine mehr sind. Das Volk ist nämlich für Kant nicht einfach qua Natur da, sondern nur die natürlichen Anlagen liegen bereit und warten darauf verwirklicht zu werden – der aktive Zusammenschluss des Volkes ist also nicht nur die republikanische Durchsetzung des
volonté génerale, sondern dieser könne sich nur aus den natürlichen Anlagen eines Volkes entwickeln, wofür ‚Reinheit‘ die Voraussetzung darstelle. Wenn diese Entwicklung noch nicht vollzogen oder schon vergangen ist, stellt das betreffende Volk für Kant kein existierendes Volk dar:
„Da Rußland das noch nicht ist, was zu einem bestimmten Begriff der natürlichen Anlagen, welche sich zu entwickeln bereit liegen, erfordert wird, Polen aber es nicht mehr ist, die Nationalen der europäischen Türkei aber das nie gewesen sind noch sein werden, was zur Aneignung eines bestimmten Volkscharakters erforderlich ist: so kann die Zeichnung derselben hier füglich übergangen werden.“ (Kant 1798: 319)
Es ist dabei kein Zufall, dass die Auswahl der ‚entwickelten Völker‘ auf die westeuropäischen fällt, an deren Spitze er die drei „civilisirtesten Völker auf Erden“ (ebd.: 311) Frankreich, England und Deutschland sieht. Kants Theorie der Nation ist eng mit Rassismus und der kolonialen Weltordnung verbunden.
In Kants Werk insgesamt ist so der Begriff des Volkscharakters nicht stringent. Wird er im Kontext der Nation als die auf Abstammung und Blutslinie basierende Kontinuität einer mit einem Territorium verbundenen Bevölkerung verstanden, finden sich auch Stellen, an denen der Volkscharakter nicht an die Nation, sondern an ein supranationales Rassenverständnis gebunden wird. So nimmt er beispielsweise in seinem Text Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace an, dass es keine „erblichen Volkscharaktere […] als die genannten vier gebe“ (Kant 1785: 93). Diese vier ‚Rassen‘ konstruiert Kant über die Hautfarbe und imaginiert die ‚Rasse‘ „der Weißen, der gelben Indianer, der N* und der kupferfarbig = rothen Amerikaner“ (ebd.). Die Farbenlehre des Rassismus war lange auch in der kolonialen Literatur und Wissenschaft umstritten und hat sich so erst in der Zeit Kants begonnen durchzusetzen; die Farbgebung in diese vier erscheint zwar vielen als natürlich, hat aber weniger mit Pigmentierungen als vielmehr mit einer naturalisierenden Konstruktion politischer Kategorien zu tun (Hund 1999: 15 ff.). Auch zu Zeiten von Kant kann die biologistische Rassenkonstruktion über die Hautfarbe als umstritten bezeichnet werden. Als Beispiel sei hier ein Zitat von Georg Forster, einem Vertrauten Herders, angeführt: „Die meisten alten Eintheilungen der Menschengattung sind ohne dies schon längst verworfen. Noahs Söhne; die vier Welttheile; die vier Farben, weiß, schwarz, gelb, kupferroth, – wer denkt noch heut zu Tage an diese veralteten Moden?“ (Forster 1789: 151).
Der Entwicklung einer philosophisch fundierten und systematisierten Rassenlehre sind große Teile von Kants Werk gewidmet. Eindeutig ist, dass viele Elemente aus Kants Rassenlehre auch in seinen Begriff der Nation eingeflossen sind. So ist das Ideologem der ‚Vermischung‘ und der ‚Reinheit‘ und die damit verbundene Gefahr des Niedergangs der Volkscharaktere in der Rassenlehre ein zentrales Element. Auch hier wird die ‚Rasse‘ über die „Zeugungsverwandtschaft durch Einheit der Abstammung“ (Kant 1788: 177) konstruiert, mit deren imaginierten Funktionsweisen von ‚Vererbung‘, ‚Entartung‘, ‚Anartung‘ und den vielfältigen Effekten der sogenannten ‚Rassenmischung‘ sich Kant ausführlich auseinandersetzt. Auch die Hierarchisierung der Völker, wie sie sich in seinem Begriff der Nation zeigte, hat seine Entsprechung in der Rassenlehre. Die vier von Kant konstruierten ‚Rassen‘ sind klar hierarchisiert: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die N* sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften.“ (Kant 1802: 316) Träger von Fortschritt und Vernunft sind dabei für Kant nur die Weißen (Kleinschmidt 2013). Dabei zeichnet Kant akribisch, bildreich, systematisierend und ausführlich in zahlreichen Beiträgen eine Märchenwelt kolonialer Fantasien.
Nicht gänzlich geklärt bleibt das Verhältnis von ‚Rasse‘ und ‚Nation‘. Es finden sich lediglich einige Andeutungen, die für Kant unübliche begriffliche Uneindeutigkeiten beinhalten: So bezeichnet Kant die Nationen als „Familienschlag und den Varietäten, oder Spielarten […], die sich in einer und derselben Rasse bemerken lassen“ (Kant 1798: 320). Hier habe die Natur vorgesehen, „in einem Volk von derselben Rasse (z. B. der weißen)“ sich nicht anzugleichen, sondern „in demselben Stamme | und gar in der nämlichen Familie, im Körperlichen und Geistigen, ins Unendliche zu vervielfältigen“ (ebd.). Volk wird hier abwechselnd anhand der Familie bzw. ‚Rasse‘ oder aufgrund der Nation bestimmt. Diese Ungereimtheit zieht sich durch zahlreiche koloniale, postkoloniale und nationalistische Diskurse. Die Ordnung der Welt in ‚Rassen‘ referiert dabei auch auf die Einteilung der Welt in Nationen. Nationale Identitätskonstruktionen sind in zahlreichen historischen und gegenwärtigen Kontexten eng mit einem ähnlich wie Kant vorgelegten Konstrukt von ‚Rassen‘ verknüpft.
Balibar sieht zwar keine Notwendigkeit, die vom Rassismus zum Nationalismus oder andersherum führt, ausgehend von der Analyse zahlreicher historischer Einzelfälle führt er aber den Begriff des „historischen Reziprozitätszyklus von Nationalismus und Rassismus“ (Balibar 1988a: 68) ein. Das bedeutet, dass der „Rassismus […] aus dem Nationalismus“ und anders herum der „Nationalismus […] aus dem Rassismus“ (ebd.) hervorgeht. Es steckt jedoch – und hier liegt vielleicht der Grund für die Kontinuität der Unklarheit der Beziehung von Nation und ‚Rasse‘ in der rassistischen Theorie – auch ein Widerspruch in dem Verhältnis bestimmter Formen. Als Beispiel führt Balibar hier historische Konstellationen an, wie etwa die entstehenden Widersprüche nationaler und rassistischer Zugehörigkeit beim Versuch der Assimilation einer kolonisierten Bevölkerungsgruppe wie etwa in Algerien. Er definiert Rassismus insofern nicht als „Ausdruck des Nationalismus“, sondern als eine „innere Ergänzung des Nationalismus, die immer über ihn hinausschießt, für seine Konstituierung aber stets unerläßlich ist und nie ausreicht, um sein eigenes Projekt zu realisieren“ (ebd.: 69).
Nochmal zusammenfassend zu den Aspekten aus Kants Werk, die für eine Theorie der Nation als Abstammungsgemeinschaft relevant sind: In diesem „Modus der Ethnisierung“, also der Herstellung des ‚Volks‘ über die ‚Rasse‘, wird der Zusammenhalt nach dem Schema der Genealogie über die Abstammung konstruiert. Hier liegt die Vorstellung zugrunde, dass „jede Generation der anderen eine biologische und geistige Substanz übermittelt und sie gleichzeitig in eine zeitliche Gemeinschaft stellt, die man ‚Verwandtschaft‘ nennt“ (Balibar 1988b: 123). Um die Fiktion einer ‚rassischen‘ Identität zu erzeugen, also als natürlich und vererbbar imaginierte Differenzen zwischen sozialen oder vorgestellten Gruppen herzustellen, werden vielfältige sichtbare oder unsichtbare somatische und psychologische Merkmale konstruiert und in spezifische Verhältnisse gesetzt (ebd.: 122). Die Konstruktion einer auf ‚Rasse‘ basierenden Konstruktion eines nationalen Volkes ist eng mit der Konstruktion des Rassismus verbunden. Nationale, auf dem Ideologem der ‚Rasse‘ basierende Identität ist also immer im Zusammenhang mit transnationalen Diskursen zu sehen. Die Eliten der kolonisierenden Nationen haben gemeinsam die „Idee von einer ‚weißen‘ Überlegenheit, von der Verteidigung der Zivilisation gegen die Wilden aufgebaut“ (ebd.). Das koloniale Ideologem der „Bürde des weißen Mannes“ hat in entscheidender Weise dazu beigetragen, „die moderne Vorstellung von einer europäischen oder westlichen, supranationalen Identität zu schaffen.“ (ebd.)
Oft wird suggeriert, es gäbe einen Wandel, der das ‚rassische‘ Verständnis von nationalen oder supranationalen Identitäten in der Vergangenheit verortet und behauptet, dies sei von einer neuen Form zum Beispiel Sprache oder Kultur abgelöst worden. Es ist zuzustimmen, dass die vielfältigen antirassistischen und antikolonialen Kämpfe der letzten Jahrzehnte dafür gesorgt haben, dass eine explizite Artikulation weißer Überlegenheit selten mehrheitsfähig ist. Implizit ist aber die Kopplung von Zugehörigkeits- und Überlegenheitskonstruktion nach wie vor eng an somatische Vorstellungen gekoppelt. Dies hat sich auch im Rahmen der Analyse der Farbe als Zugehörigkeitsmarker gezeigt, in der deutlich wurde, dass ein auf biologischen ‚Rassen‘ begründeter Rassismus zwar nicht häufig offen artikuliert, in der Wahrnehmung der negativ von ihm Betroffenen aber virulent ist. Leider ist Achille Mbembes Einschätzung zuzustimmen, dass die Welt eine „Welt der Rassen“ geblieben ist:
„In mehrfacher Hinsicht ist unsere Welt, auch wenn sie das nicht zugeben möchte, bis heute eine ‚Welt der Rassen‘ geblieben. Der Rassensignifikant ist immer noch die unumgängliche, wenngleich gelegentlich bestrittene Sprache der Darstellung des Selbst und der Welt, des Verhältnisses zum Anderen, zum Gedächtnis und zur Macht.“ (Mbembe 2014: 111)
4.2.3.3.2 Fichte: Nation als Sprachgemeinschaft
Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) ist einer der umstrittensten Philosophen des Deutschen Idealismus: Von konservativen Kräften als Atheist und Sozialist verunglimpft, galt er in kritisch-liberalen Kreisen als nationalistisch oder gar Vordenker des Nationalsozialismus; die Interpretation Fichtes schwankt so zwischen der Bewertung als „Herold der Freiheit“ oder „Wegbereiter des Totalitarismus“ (Balibar 1997: 122; zur Rezeptionsgeschichte siehe auch Becker 2000: 17 ff.). Letzteres wurde nicht zuletzt durch die Nutzung seines Werks durch antidemokratische und national-konservative Kräfte im und nach dem Ersten Weltkrieg sowie durch den Nationalsozialismus bestärkt. Insbesondere seine Reden an die deutsche Nation gelten – international – als Schlüsseltext zum Verständnis des völkischen und chauvinistischen deutschen Nationalismus. Unbestritten ist, dass sie in Kriegszeiten für nationalistische Mobilisierung genutzt wurden. Sie gehörten beispielsweise zur Standardausstattung der Feldbibliotheken der deutschen Truppen im Ersten Weltkrieg; es gibt auch Hinweise darauf, dass die Reden 1915 nachgedruckt und zu vielen Tausenden an die Soldaten verteilt wurden (Lamarre 2002: 1; Balibar 1997: 122). Beide Thesen – die des Vordenkers des Nationalsozialismus, inklusive eines essentialistischen, überhistorischen und aggressiven Nationsbegriffs, sowie der eines republikanisch-freiheitlichen Vordenkers – treffen aus meiner Sicht nur sehr eingeschränkt zu. In der von mir in Anlehnung an Balibar entwickelten Lesart stellt Fichte vielmehr einen Vertreter eines Nationsbegriffs dar, der weniger bzw. anders essentialisiert, als es die gängigen Interpretationen den Anschein machen. Aus meiner Perspektive begründet er die Nation nicht mit dem Paradigma von ‚Rasse‘ und Abstammung, sondern auf Grundlage eines Begriffs der Sprachgemeinschaft, der die lebendige Sprache zur Essenz der Nation erklärt – und dies erscheint mir das wirklich Problematische an Fichtes Nationsbegriff.
Fichte war ein glühender Anhänger der französischen Revolution und des Egalitarismus. Im Gegensatz zu Kant hat er eine weitgehende Demokratisierung der Gesellschaft gefordert. Der Preis für seine Befürwortung des Atheismus und der Demokratisierung war ein Leben in Prekarität, da er aus politischen Gründen keine feste Anstellung finden oder diese nicht lange behalten konnte. Erst seine Reden an die deutsche Nation von 1807 bis 1808 und seine Rolle in der aufkommenden nationalistischen Bewegung machten ihn 1810 zum Rektor der Berliner Universität. Statt eine Geschichte des frühen, kosmopolitischen, ‚guten‘ Fichte hin zum alten, nationalistischen, ‚bösen‘ Fichte zu schreiben, schlage ich in Anlehnung an Balibar (1997: 122 ff.) eine Lesart vor, die nach den Widersprüchen und Paradoxien in Fichtes Werk suchen, um damit auch den paradoxalen und brüchigen Funktionsweisen nationaler Zugehörigkeitsregime nachzuspüren. Dabei werde ich mich weitestgehend auf die Reden beschränken und mich dabei mit den drei Begriffen „innere Grenzen“, „Ursprünglichkeit“ und „Bildung“ auseinandersetzen.
Das folgende Zitat beinhaltet bereits alle wesentlichen Komponenten, die ich anschließend darstellen werde:
„Zuvörderst und vor allen Dingen: Die ersten, ursprünglichen, und wahrhaft natürlichen Grenzen der Staaten sind ohne Zweifel ihre innern Grenzen. Was dieselbe Sprache redet, das ist schon vor aller menschlichen Kunst vorher durch die bloße Natur einer Menge von unsichtbaren Banden aneinandergeknüpft; es versteht sich untereinander, und ist fähig, sich immerfort klarer zu verständigen, es gehört zusammen, und ist natürlich Eins, und ein unzertrennliches Ganzes. Ein solches kann kein Volk anderer Abkunft und Sprache in sich aufnehmen und mit sich vermischen wollen, ohne wenigstens fürs erste sich zu verwirren, und den gleichmäßigen Fortgang seiner Bildung mächtig zu stören. Aus dieser innern, durch die geistige Natur des Menschen selbst gezogenen Grenze ergibt sich erst die äußere Begrenzung der Wohnsitze, als die Folge von jener, und in der natürlichen Ansicht der Dinge sind keineswegs die Menschen, welche innerhalb gewisser Berge und Flüsse wohnen, um deswillen Ein Volk, sondern umgekehrt wohnen die Menschen beisammen, und wenn ihr Glück es so gefügt hat, durch Flüsse und Berge gedeckt, weil sie schon früher durch ein weit höheres Naturgesetz Ein Volk waren.“ (Fichte 1808: 193)
Was macht nach Fichte ein Volk zum Volk? Die Einheit eines Volkes ist nicht territorialer oder – wie bei Kant – ‚rassischer‘, sondern sprachlicher Natur, die der staatlichen Einheit vorausgeht. Sprache ist dabei etwas Geistiges; die durch sprachliche Identität zum Ausdruck kommenden Grenzen sind in diesem Sinne keine ‚äußeren‘, sondern ‚innere‘ Grenzen. Die Verlagerung auf die Innerlichkeit ist dabei auch der historischen Situation der Besatzung ‚Deutschlands‘ durch die napoleonischen Truppen geschuldet. Die äußeren Grenzen (insofern es angesichts der brüchigen Souveränität der deutschen Staaten und der Fiktion des Römisch-Deutschen Reichs überhaupt zulässig ist, von deutschen Grenzen zu sprechen) sind durchbrochen und zerstört. Napoleon verkündet in Berlin die Auflösung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation und schreibt einen Teil von dem als ‚Deutschland‘ proklamierten Territoriums dem Rheinbund zu. Die ‚innere Grenze‘ von Fichte kann in dieser Situation sowohl als Refugium und Zufluchtsort als auch als Bollwerk des Widerstands verstanden werden (Balibar 1997: 127 f.). In jedem Fall fordert sie von jedem ‚Deutschen‘ die Schaffung ‚innerer Grenzen‘ in Abgrenzung zur ‚ausländischen‘ Besatzungsmacht und gegen die ‚Französierung‘. In der Auslegung der Organisatoren der Freiwilligenverbände, die die ‚nationalen Befreiungskriege‘ von 1813 (hier liegt Balibar zufolge übrigens der Ursprung dieses Begriffs) vorbereitet hatten und von denen einige auch unter Hörern der Reden von 1808 gewesen waren, wurde darunter jedenfalls der Aufruf zum Widerstand und auch ganz praktisch der Ruf zu den Waffen verstanden (ebd.: 129).
Im oben aufgeführten Zitat begegnen wir wieder dem Ideologem der ‚Vermischung‘ – allerdings in grundlegend anderer Form als bei Kant, der einem primär ‚rassischen‘ Verständnis folgt. Fichte sagt, ein Volk kann „kein Volk anderer Abkunft und Sprache in sich aufnehmen und mit sich vermischen wollen, ohne wenigstens fürs erste sich zu verwirren, und den gleichmäßigen Fortgang seiner Bildung mächtig zu stören“ (Fichte 1808: 193). Die „unsichtbare Bande“, die eine bloße Menge zu einem Volk aneinanderknüpfe, ist bei Fichte nicht etwa die vorgeschichtliche Anlage, die sich dann entfalten müsse, sondern wird hergestellt („gleichmäßige[r] Fortgang seiner Bildung“ (ebd.)). Das Volk „versteht sich untereinander, und ist fähig, sich immerfort klarer zu verständigen“ (ebd.). Es geht also nicht um eine ‚rassische‘ oder wie auch immer auf organizistisch-biologischen Abstammungsfantasien basierende Genealogie, sondern um die Verbesserung der Verständigungsfähigkeit einer Menge, die dadurch zum Volk wird, zu einem „unzertrennliche[n] Ganze[n]“ (ebd.).
Nachdem er empirisch dargelegt hat, dass kein germanisches Volk die „Reinheit seiner Abstammung“ (ebd.: 53) behaupten könne, führt er sein Konzept der „ursprünglichen Sprache“ ein:
„Bedeutender aber, und wie ich dafürhalte, einen vollkommenen Gegensatz zwischen den Deutschen, und den übrigen Völkern germanischer Abkunft begründend, ist die zweite Veränderung, die der Sprache; und kommt es dabei […] weder auf die besondere Beschaffenheit derjenigen Sprache an, welche von diesem Stamme beibehalten, noch auf die der andern, welche von jenem andern Stamm angenommen wird, sondern allein darauf, daß dort Eigenes behalten, hier Fremdes angenommen wird; noch kommt es an auf die vorige Abstammung derer, die eine ursprüngliche Sprache fortsprechen, sondern nur darauf, daß diese Sprache ohne Unterbrechung fortgesprochen werde, indem weit mehr die Menschen von der Sprache gebildet werden, denn die Sprache von den Menschen.“ (ebd.: 53)
Ins Auge sticht natürlich die Behauptung der Überlegenheit der Deutschen. Die von Fichte oft vertretene Ansicht der Überlegenheit über andere Völker ist ein wesentlicher Anschlusspunkt für imperiale Großmachtfantasien deutschnationaler Bestrebungen. Die gleichzeitige Verwerfung des Abstammungsmythos macht die Sache allerdings komplexer und auch fruchtbar für diese Analyse. An die Stelle von beispielsweise der prinzipiell „egalitären Vielfalt der ethnisch-nationalen Kulturquellen“ (Balibar 1997: 138), die Herder verteidigt, tritt ein ‚Urvolk‘ (die Deutschen) oder vielleicht zwei (die Deutschen und die Griechen). Kernbegriffe, wie „das Volk einer Ursprache“ und von „einem Volke, das in seiner ursprünglichen Sprache sich fortbildet“ (Fichte 1808: 83), die den meisten Interpretationen nach auf einen quasi vorhistorischen, essenzialisierten Ursprung verweisen, erscheinen so in einem völlig anderen Licht. Nicht die Abstammung, sondern die ohne Unterbrechung fortgesprochene Sprache zählt. Ursprünglichkeit bezieht sich also nicht auf einen Zeitpunkt in der Vergangenheit oder auf eine überzeitliche Entität, sondern liegt in der Zukunft – oder genauer: In der Möglichkeit des „gleichmäßigen Fortgangs seiner Bildung“ (ebd.: 193). Diese Umkehrung des Ursprungsbegriffs führt dazu, dass die Frage, was ein Volk zum Volk macht als Effekt des Verhältnisses des Volkes zur sprachlichen Herkunft verstanden wird. Die Kontinuität des Wesens der Nation ergibt sich nicht über die ‚natürliche‘ Abfolge der Generationen, sondern über die Sprache. Die Aussage, dass weit mehr die Menschen von der Sprache gebildet werden, verweist auf ein Verständnis von Sprache, der ein „unermesslicher Einfluß“ zugeschrieben wird, da sie den „Einzelnen bis in die geheimste Tiefe seines Gemüths bei Denken und Wollen begleitet“ und die „gesammte Menschenmenge, die dieselbe Sprache redet, auf ihrem Gebiete zu einem einzigen gemeinsamen Verstande verknüpft, welche der wahre gegenseitige Durchströmungspunkt der Sinnenwelt und der der Geister ist“ (ebd.: 64).
Es drängt sich die Frage auf, an der sich alles zu entscheiden scheint: Was ist denn nun die „ursprüngliche Sprache“ bzw. die „Ursprache“? Die romantischen Sprachtheoretiker in der Epoche Fichtes hatten die klassisch-rationalistische Frage nach dem Ursprung der Sprachen, wie etwa bei Rousseau, durch die Frage nach der historischen ‚Ursprache‘ ersetzt. Mit den neuen Methoden der vergleichenden Grammatik wurde auf die Vorgängigkeit des Indogermanischen geschlossen und in den kolonial und eurozentristisch strukturierten Wissenschaften über genealogische Tableaus disputiert. Diesen genetischen Gesichtspunkt lässt Fichte allerdings völlig außer Acht. Auch wenn er mit diesen Begriffen spielt, sind sie nicht sein Thema – genau wie er auch über die linguistische Beschaffenheit der Sprache und der Grammatik hinwegsieht. Auch das Ideologem der ‚Reinheit‘, das für Fichtes Begriff der Nation eine wichtige Rolle spielt, bietet keine hinreichende Erklärung der Ursprache. Zwar behauptet er, dass es nur darauf ankäme, dass „dort Eigenes behalten, hier Fremdes angenommen wird“ und die „Sprache ohne Unterbrechung fortgesprochen“ (ebd.: 53) wird. Allerdings wird an vielen Stellen deutlich, dass der Zugang zur Sprachgemeinschaft Menschen anderer Herkunft prinzipiell offen steht. Es sind nicht die Deutschen, sondern die deutsche Sprache, die den anderen Nationen überlegen sei; dabei kann „der Ausländer“ die deutsche Sprache erlernen, auch wenn Fichte diesen Prozess als „höchst mühsam“ (ebd.: 64) bezeichnet.
Fichtes Begriff der Ursprache erklärt sich über das Begriffspaar der lebendigen und der toten Sprache. Der Begriff der lebendigen Sprache bestimmt sich durch die Beziehung von Bildung und Sprache des Volkes: „Beim Volke der lebendigen Sprache greift die Geistesbildung ein ins Leben; beim Gegenteile geht geistige Bildung und Leben jedes seinen Gang für sich fort.“ (ebd.: 68) Das Ursprüngliche der Ursprache ist also kein Verweis auf eine reine, unverfälschte Vergangenheit bzw. – mit Derrida – eine vergangene und zu vergegenwärtigende Präsenz; in einer lebendigen Sprache „vermehren und verändern die Worte und ihre Bedeutungen“ sich immerfort, es „werden neue Zusammenstellungen möglich“ und lebendige Sprache ist eine, „die niemals ist, sondern ewigfort wird“ (ebd.: 77). Dies gilt für Fichte aber nur, wenn „nur in ihr wirklich gelebt wird“ (ebd.). In einem Volk einer toten Sprache würden die „gebildeten Stände vom Volke sich scheiden, und es letztern nicht weiter, denn als eines blinden Werkzeugs ihrer Pläne achten“ (ebd.: 65). Fichte plädiert insgesamt für eine Nationalerziehung, womit nicht in erster Linie eine Erziehung zu nationalistischem Denken gemeint ist, sondern eine Erziehung, die alle Stände des Volkes erfasst. Er plädiert für eine Demokratisierung von Bildung. Es geht ihm darum, dass die geistige Bildung, also die Wissenschaften und die Künste (und insbesondere die Philosophie) Teil des Lebens, des Alltags der Menschen des Volks werden. Für Fichte sind der „Gedanke“ und die „Thätigkeit“ nur in „der Erscheinung auseinanderfallende Formen, jenseits der Erscheinung aber sind sie […] dasselbe Eine absolute Leben“; es ist nicht „der Gedanke um des Thuns, oder das Thun um des Gedankens willen“ (ebd.: 69). Eine lebendige Sprache bringt nach Fichte beides zusammen; in einer Nation einer lebendigen Sprache sei das „große Volk bildsam, und die Bildner einer solchen erproben ihre Entdeckungen an dem Volke, und wollen auf dieses einfließen“ (ebd.: 65). Fichte folgert hieraus, dass das Volk einer lebendigen Sprache mit „aller Geistesbildung rechter eigentlicher Ernst“ sei und sie wollen würden, dass „dieselbe ins Leben eingreife“ (ebd.).
Dies steht im Gegensatz zu einer toten Sprache, die auf der Trennung von Geistesleben und alltäglichem Tun basiere und für die das Geistesleben nur ein „genialisches Spiel“ sei. Deswegen hätten die Völker der lebendigen Sprachen zum bloßen Geist auch noch „Gemüth“ (ebd.). Daraus folge, so Fichte weiter, dass die Völker der lebendigen Sprachen „redlichen Fleiß und Ernst in allen Dingen“ hätten, während die der toten Sprachen sich im „Geleite ihrer glücklichen Natur gehen lassen“ (ebd.) würden. Über den auf der Sprachgemeinschaft basierenden Begriff der Nation wird hier das Arbeitsethos als Überlegenheitsmerkmal des Deutschen eingeführt. Dies ist ein wichtiger Baustein für damit in Verbindung stehende Legitimationsmuster von Ressentiments gegen „Neulateiner“ (ebd.: 64), wie im Antiziganismus, Antisemitismus und anderen Formen von Rassismus; die prototypischen und konstitutiven Negativa der imaginierten, deutschen Nation. In der früheren Schrift Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution von 1793 finden sich beispielsweise ‚passende‘ Passagen, die Aufschluss über mögliche Denkfiguren des Nationalismus geben können.
Auch wenn das Judentum in Fichtes Spätwerk, wie auch in den
Reden, kaum eine Rolle spielt, sind dort implizit darauf bezogene Argumentationsfiguren präsent. In dem genannten Text von 1793 wird „das Judentum“ als ein „mächtiger, feindselig gesinnter Staat“ imaginiert, das „sich zu dem den Körper erschlaffenden, und den Geist für jedes edle Gefühl tötenden Kleinhandel verdammt hat und verdammt wird“ (Fichte 1793: 114). Zur Untermauerung seiner Forderung der Nicht-Vergabe von Bürgerrechten an Jüdinnen und Juden halluziniert er die Angst, dass „der erste Jude, dem es gefällt, mich ungestraft ausplündert“ und so den Deutschen die „bürgerliche Ehre und mit Würde verdientes Brot“ (ebd.) genommen wird. Fichte sieht die deutsche Nation vom Judentum bedroht und will deswegen verhindern, dass Jüdinnen und Juden Bürgerrechte verliehen werden:
„Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden, und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern und sie alle dahin zu schicken.“ (Fichte 1793: 115)
Hier geht es nicht in erster Linie um die physische Liquidierung einer Menschengruppe, sondern um „deren gewaltsame Assimilation“ (Hentges 1999: 119). Einerseits wird so eine unumstößliche Differenz behauptet, die nur durch Vernichtung aufgehoben werden könne und andererseits auch eine vollständige Veränderbarkeit unterstellt, die auf die Assimilation zielte. Nur wenn die Juden ihr Jüdisch-Sein abgelegt hätten, dürften sie zu Bürgern des Nationalstaats werden
14 (Rommelspacher 2009: 35). Das Problem, das Fichte im Judentum – dem „Staat im Staate“ (Fichte 1793: 115) – sieht, ist also ihr vermeintlicher Unwillen zur Assimilation bzw. Integration.
Der Hauptvorwurf Fichtes in den übrigen Textpassagen ist die vermeintliche Nicht-Akzeptanz der Menschenrechte durch das Judentum (ebd.: 114 ff.). Und genau die Achtung „republikanischer“ Werte, wie der Menschenrechte – um wieder zurück auf unseren Ausgangstext, die Reden zu kommen – ist ein mit der Präsenz der lebendigen Sprache korrelierendes Attribut, das Fichte insbesondere den Deutschen zuschreibt: „Die deutsche Nation ist die einzige unter den neueuropäischen Nationen, die es an ihrem Bürgerstande schon seit Jahrhunderten durch die That gezeigt hat, daß sie die republikanische Verfassung zu ertragen vermöge.“ (Fichte 1808: 94) Für diese ‚universelle Mission‘ Deutschlands führt Fichte nicht etwa irgendwelche Prädestinationen oder natürliche Überlegenheiten, sondern die spezifische historische Konstellation an. Sein Geschichtsbild lässt sich leicht zusammenfassen: Vom römischen Imperialismus über seine Fortsetzung im Mittelalter mit dem Traum einer universellen Monarchie, in der sich die römische Staatsauffassung mit der kirchlichen Autorität verbindet, werden die nationalen Besonderheiten negiert. In Bezug auf Tacitus behauptet Fichte, dass diese Herrschaft von Anfang an im Widerstand der Germanen ihre Grenze fand (ebd.: 205). Der Imperialismus wollte alle sich gleich machen und hinterließ dabei „nur eine leere Stätte […], in der sie nur immer die eigene Gestalt wiederholen können; selbst ihr anfängliches scheinbares Hineingehen in fremde Sitte ist nur die gutmütige Herablassung des Erziehers zum jetzt noch schwachen […] Lehrlinge“ (ebd.: 204). Für Fichte findet bei Völkern, die „selbst ihre Eigenthümlichkeit beibehalten und dieselbe geehrt wissen wollen“ und „auch den anderen Völkern die ihrige zugestehen, und sie ihnen gönnen und verstatten“ (ebd.: 203), eine „höchst wohltätige Wechselwirkung der gegenseitigen Bildung und Erziehung statt, und eine Durchdringung, bei welcher dennoch jeder, mit dem guten Willen des andern, sich selbst gleich bleibt“ (ebd.: 204). Von der natürlichen Unabhängigkeit schreitet ein solches Volk zum Selbstbewusstsein voran, das heißt zum „Bewusstsein des ‚Selbst‘ in Kultur und Erziehung“ (Balibar 1997: 130).
Neue historische Subjekte treten nun gegen die staatliche und kirchliche Uniformität auf, die sich aus den Fürsten und ihrer Völker ergeben – „die einen herrschend, aber getrieben von partikularen Interessen, die anderen Untertan, aber Vertreter von allgemeinen Interessen, also in Wahrheit aktiv“ (ebd.: 132, Herv. i. O.). Wenn sich diese Interessen verbinden, schreitet die Menschheit voran, wie zum Beispiel in der Reformation (Fichte 1808: 86 ff.). Die damit beginnende neue Epoche ist nach Fichte gekennzeichnet durch die Selbstsucht der Völker. Sie gehorchen nun dem „Trieb zur Selbstbehauptung auf Kosten der anderen; sie werden zum Werkzeug ehrgeiziger Dynastien“ (Balibar 1997: 132). Diese Situation nimmt – untermauert durch den Westfälischen Friedens – die Form eines europäischen „Gleichgewichts“ (Fichte 1808: 195) an. Das Problem dieses Gleichgewichts und der Grund warum es niemals zu wahrem Frieden führen kann, lägen aber darin, dass es auf Selbst- und Habsucht aufbaut und dies keine Grundlage zur inneren und äußeren Befriedung darstellen kann. Die einzelnen Teile des „christlichen Europas“ buhlten um eine „gemeinschaftliche Beute […] nach der jeder auf die gleiche Weise begehrte, weil alle sie auf die gleiche Weise gebrauchen konnten, und die jeder mit Eifersucht in den Händen des anderen erblickte“ (ebd.: 194). Dies stellt den Grund für die „geheime Feindschaft und Kriegslust aller gegen alle dar“ (ebd.). Fichte plädiert nun dafür, dass Deutschland sich nicht „die entbehrlichen Waaren, die in fremden Welten erzeugt werden, zum Bedürfnisse“ (ebd.: 198) mache, wie es die anderen Völker getan haben. Deutschland habe nach Fichte Glück gehabt, keine Kolonialmacht gewesen sei bzw. in seinen Worten „keinen unmittelbaren Antheile am Raube der anderen Welten“ (ebd.: 194) gehabt zu haben, und solle „lieber unserm freien Mitbürger erträgliche Bedingungen“ machen, „als von dem Schweiße und Blute eines armen Sklaven jenseits der Meere Gewinn ziehen zu wollen“ (ebd.: 199). Dies hätte die anderen Nationen zu einem „Marktplatz […] zu Grunde gerichtet“ (ebd.).
Fichte bezieht sich hier explizit auf ein anderes Werk von ihm, den Geschloßnen Handelsstaat von 1800, aus dem ich im Folgenden für die Nachvollziehbarkeit seiner Argumentation in den Reden kurze Auszüge darstellen werden. Dieser war ein extrem umstrittener Text, der Ironie und Gespött von Hegel und anderen Liberalen seiner Zeit auf sich zog und später als egalitaristische Utopie, Neuformulierung eines archaistischen Merkantilismus, Vorwegnahme sozialistischer Planwirtschaft oder im Sinne eines ökonomischen Nationalismus gedeutet wurde (Balibar 1997: 133). Von seinen Spöttern am stärksten hervorgehoben werden dabei vermutlich die Forderung nach der Abschaffung des Rechts auf Grundbesitz im Namen des Rechts auf Arbeit sowie die Schließung der Grenzen für jeden Güter- und Personenverkehr mit Ausnahme von Gelehrten und Künstlern, die dem Kulturaustausch dienen (ebd.). Das Ziel des von Fichte favorisierten geschlossenen Handelsstaates besteht dabei sowohl in der Herstellung des sozialen Friedens im Innern als auch des allgemeinen Friedenszustands nach außen. Beides scheitert insbesondere an einem: der Macht des Geldes. Im geschlossenen Handelsstaat oder auch dem „Vernunftstaate“ (Fichte 1800: 11), in dem die „Bürger mit dem Ausländer keinen unmittelbaren Handel treibt“ (ebd.: 47), soll es zwar auch Geld geben. Der Wert des Geldes ist dabei aber nicht dem Weltmarkt überlassen, sondern wird zum einen den ‚vernünftigen‘ Entscheidungen des Staates und zum anderen der tatsächlich innerhalb einer Nation existierenden Menge an Waren angepasst (ebd.: 45 ff.). Das Geld wird also komplett nationalisiert und jede Beziehung zum Weltmarkt gekappt. Der Überschuss des „inneren Reichtumes der Nation“ wird dann für den „Gebrauch des Volkes in Anspruch genommen“ (ebd.: 46).
In impliziter, aber eindeutiger Kritik an Kant, welcher seinen Begriff des Kosmopolitismus und Weltbürgertums immer als die grenzüberschreitende Zirkulation sowohl von Ideen als auch von Waren gesehen hat, sieht Fichte im Kosmopolitismus eine Diskrepanz zwischen dem, was er sagt und dem was in seinem Namen tatsächlich geschieht. Kosmopolitismus ist keineswegs die Auflösung der nationalen Rivalitäten, sondern Ausdruck derselben. Nach Balibar sind für Fichte der moderne Imperialismus napoleonischer Prägung und der wirtschaftliche Liberalismus die „‚französische‘ und ‚englische‘ Variante des Weltbürgertums“ (Balibar 1997: 135), die beide beanspruchen das europäische Gleichgewicht zu ihren Gunsten aufzuheben. Sie sind insofern gleich, als dass sie ein Ungleichgewicht etablieren und den Grund für die Kriege und für die Aufrechterhaltung des Gegensatzes zwischen dem ‚einfachen Volk‘ und den Gebildeten aller Nationen darstellen. Beide Formen sind „Veräußerlichungen des sozialen ‚Bandes‘, in der das ‚Selbst‘ sich verliert, indem es sich (im ‚Fremden‘, dem ‚Auslande‘) vergeblich außerhalb seiner selbst sucht“ (ebd.).
Deutschland – um auf das Geschichtsbild aus den Reden zurückzukommen – habe nach Fichte hier das ‚Privileg‘, dass es als nicht-staatliches Gebilde solche Dynamiken nicht entfalten konnte. Fichte sieht in diesem Nicht-Staat „im Mittelpunkte von Europa“ (Fichte 1808: 195) die Möglichkeit das unheilbringende Gleichgewicht aufzulösen. „In der Mitte von Europa hätte der feste Wall der Deutschen“ (ebd.: 196) der Rivalität und den Kriegen trotzen können. Aber nach Fichte war es „das Ausland“, das mit „ausländischer Schlauheit“ die „deutsche Unbefangenheit und Verdachtslosigkeit“ ausnutzte und aus der vereinigten „gemeinschaftlichen Kraft“ eine zerteilte Vielheit werden ließ – im Sinne von Kleinstaaterei und dem Auseinanderklaffen des gemeinen Volks und der Gebildeten –, um das vermeintliche Gleichgewicht zu erhalten und Deutschland selbst zur Beute zu machen. Aufgrund dieser historischen Konstellation komme nach Fichte Deutschland die Bürde zu, die gegenwärtige Situation aufzulösen. Die Unabhängigkeit und nationale Vereinigung Deutschlands ist aus diesen Gründen also nicht nur im Interesse des deutschen Volks, sondern ganz Europas, wenn nicht der ganzen Welt.
Wie aber stellt sich Fichte nun die Herstellung dieser Einheit vor? Wir haben bereits gesehen, dass die Herstellung der Ursprache nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft liegt. Fichte ist dabei die Notwendigkeit des staatlich induzierten Prozesses des Nation-Buildings mehr als präsent: „Der vernunftgemäße Staat läßt sich nicht durch künstliche Vorkehrungen aus jedem vorhandenen Stoffe aufbauen, sondern die Nation muß zu demselben erst gebildet und herausgezogen werden.“ (Fichte 1808: 91) Dementsprechend sind die
Reden auch die Grundlegung eines Programm zur „deutschen Nationalerziehung“ (ebd.: 147). Es ist „diejenige bestimmte Erziehung, von der wir uns die Rettung der deutschen Nation versprechen“ (ebd.: 136). Charakterisiert wird diese Nationalerziehung insbesondere durch die Aufhebung des Unterschieds der sozialen Stände, die die Bedingung für die Herstellung eines tatsächlichen einheitlichen Willens der Nation darstellt:
„Wir wollen durch die neue Erziehung die Deutschen zu einer Gesammtheit bilden, die in allen ihren einzelnen Gliedern getrieben und belebt sei durch dieselbe Eine Angelegenheit; so wir aber etwa hierbei abermals einen gebildeten Stand, der etwa durch den neu entwickelten Antrieb der sittlichen Billigung belebt würde, absondern wollten von einem ungebildeten, so würde dieser letzte, da Hoffnung und Furcht, durch welche allein noch auf ihn gewirkt werden könnte, nicht mehr für uns, sondern gegen uns dienen, von uns abfallen, und uns verloren gehen. Es bleibt sonach uns nichts übrig, als schlechthin an alles ohne Ausnahme, was deutsch ist, die neue Bildung zu bringen, so daß dieselbe nicht Bildung eines besonderen Standes, sondern daß sie Bildung der Nation schlechthin als solcher, und ohne alle Ausnahme einzelner Glieder derselben, werde, in welcher, in der Bildung zum innigen Wohlgefallen am Rechten nämlich, aller Unterschied der Stände, der in andern Zweigen der Entwicklung auch fernerhin stattfinden mag, völlig aufgehoben sei, und verschwinde; und daß auf diese Weise unter uns keineswegs Volks-Erziehung, sondern eigenthümliche deutsche National-Erziehung entstehe.“ (ebd.: 17)
Das Ziel der Nivellierung der sozialen Unterschiede lässt sich auch als Demokratisierung bezeichnen. Es geht Fichte dabei nicht um Volks-Erziehung, wo auch den unteren Schichten etwas beigebracht wird, was diese zur Ausführung einfacher Arbeiten befähigt oder zu gefügigen Untergebenen macht, sondern um eine Nationalerziehung, die eine gleichberechtigte Teilhabe aller Staatsbürger (zu Frauen äußert er sich hier nicht) am geistigen Leben der Nation gewährleistet; für „jedweden Zögling, auch aus dem niedrigsten Stande geboren, indem der Stand der Geburt wahrhaftig keinen Unterschied in den Anlagen macht“ (ebd.: 147). Hier scheint der intrinsische Zusammenhang von Nationalisierung und Demokratisierung auf.
Da bei Fichte die Einheit der Nation und ihr geistiges Leben in der in der Zukunft liegenden Ursprünglichkeit der ‚eigenen‘ Sprache begründet ist, wendet sich die Nationalerziehung gegen die Französierung, aber auch gegen regionale Dialekte. Diese Vorstellung hat seinen Niederschlag auch in der teils gewaltvollen Durchsetzung und Herstellung der vereinheitlichten Nationalsprache gefunden. Dafür spielen insbesondere die National-Erziehung und das damit in Verbindung stehende allgemeine und allgemein verpflichtende Schulsystem eine zentrale Rolle. Balibar zufolge besteht eine „enge historische Korrelation zwischen der nationalen Formation und der Entwicklung der Schule als ‚volksnaher‘ Institution“ (Balibar 1988b: 120). Die Institution Schule ist dabei eben nicht auf die Vermittlung von Spezialausbildungen oder auf die Kultur der Eliten beschränkt, sondern greift in die gesamte Sozialisation aller Individuen innerhalb einer vorgestellten nationalen Gemeinschaft ein. Die primäre Aufgabe, die die Institution Schule für die Bildung des Nationalstaats spielt, ist die Einübung der Nationalsprache. Hier setzt sich Balibar implizit mit der Ideologietheorie Louis Althussers und seinem Begriff des ideologischen Staatsapparates auseinander. Balibar hebt an dieser Stelle hervor, dass die Schule zwar ein Ort ist, an dem eine „nationalistische Ideologie verbreitet – mitunter auch in Frage gestellt wird“ (ebd.). Dies sei jedoch ein „abgeleitetes Phänomen“ (ebd.). Balibar sieht – eben aufgrund der Einübung der Nationalsprache – im allgemeinen Schulbesuch, „die wichtigste Einrichtung zur Konstituierung der Ethnizität als Sprachgemeinschaft“ (ebd.). Wobei die Schule nicht der einzige Ort ist, an dem diese Nationalsprache vermittelt wird. Es sind auch die staatlichen Verwaltungseinrichtungen, der Wirtschaftsverkehr, die Familien, Vereine usw., die „Organe der idealen Nation“ darstellen und die an „einer ‚gemeinsamen‘, ihr ‚wesenseigenen‘ Sprache erkennbar ist“ (ebd.). Dabei muss die ‚Muttersprache‘ nicht unbedingt die Sprache der ‚realen‘ Mutter sein, wie anhand von sogenannten ‚Einwanderern der zweiten Generation‘ oder auch die zugunsten der Nationalsprache Dialekte hinter sich lassende Nachkommen von Menschen, die schon seit mehr als einer Generation an einem Ort leben, vorstellbar wäre. Am Bild der ‚Muttersprache‘ wird hier deutlich, wie die Nationalsprache eine Verbundenheit erzeugt, die der imaginierten Sprachgemeinschaft eine familiale Dimension zuschreibt, die aber nicht auf Abstammung zu reduzieren ist. Denn: „Die sprachliche Gemeinschaft ist eine aktuelle Gemeinschaft, die das Gefühl vermittelt, daß sie immer existiert hat, die für die aufeinanderfolgenden Generationen jedoch nicht schicksalsbestimmend ist.“ (ebd., Herv. i. O.)
Da Sprache erlernbar ist, ist die nationale Sprachgemeinschaft – im Gegensatz zur Abstammungsgemeinschaft – ideell offen für jede_n. Ideell; denn tatsächlich wird Exklusion über die Nation als Sprachgemeinschaft ebenso betrieben wie über andere Formen. Dies wird nicht zuletzt an der Rolle der Sprache in den gegenwärtig in Deutschland hegemonialen Diskursen um ‚Integration‘ oder den als Disziplinierungsinstrument fungierenden Integrationskursen (Ha/Schmitz 2006) deutlich. Hier wird deutlich, wie Nationalsprache als Ausschluss-, Distinktions- und Hierarchisierungsinstrument wirkt (
4.2.3.2; Ha 2007a). Die ausschließende Funktion der Sprachgemeinschaft rekurriert immer auch auf andere Formen der nationalen Gemeinschaft (Balibar 1988b: 126), wie etwa Abstammung. Auch Fichte – bekannt für seine begriffliche Schärfe und stringente Argumentation – streut in seine Herleitung der Nation als Sprachgemeinschaft immer wieder Anteile eines auf Abstammung basierenden Nationsverständnis ein. In der Verwendung von Begriffen wie „Ausländer“ oder „wahre Deutsche“ (Fichte 1808: 64) schillern immer wieder Andeutungen auf, die die (Nicht-)Zugehörigkeit unabhängig von der Sprache und in Bezug auf Abstammung oder ‚Rasse‘ zu deuten meint. Zwar behauptet Fichte – um bei diesem Beispiel zu bleiben –, dass „der Ausländer ohne eine höchst mühsame Erlernung der deutschen Sprache den wahren Deutschen niemals verstehen kann“ (ebd.). Es ist dem „Ausländer“ also möglich den „wahren Deutschen“ verstehen zu lernen. Nichtsdestotrotz rekurriert die kategoriale Ausgangsunterscheidung bereits auf eine Herkunftszuschreibung; Fichte scheint mit dieser Mehrdeutigkeit zu spielen. Und genau diese Ambiguität in der Konstruktion nationaler (Nicht-)Zugehörigkeit ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Kommt ein Diskurs nationaler In- und Exklusion in einem Moment nur mit sprachlichen Argumenten aus, bezieht er sich im nächsten Moment doch auf eine Abstammung, nur um dann wieder den Schwenk zu den Bewohner_innen eines Territoriums und ihrer politischen Selbstbestimmung zu nehmen. Oder anders ausgedrückt: In der Unschärfe oder Brüchigkeit der Konstruktion nationaler (Nicht-)Zugehörigkeit in Fichtes Reden manifestiert sich die Flexibilität dieser Konstruktion, die dem Umstand geschuldet ist, dauerhaft dadurch infrage gestellt zu werden, dass Menschen ihre gesellschaftliche Teilhabe einfordern und damit die Grenzen von (Nicht-)Zugehörigkeit verschieben.
4.2.3.3.3 Herder: Die Nation als Kulturgemeinschaft
Johann Gottfried Herder (1744–1803) war ein früher Schüler Kants. Doch bereits in den 1770er Jahren deutete sich ein Konflikt an, der dazu führte, dass beide sich in den 1780er Jahren endgültig zerstritten (Kühn 2003: 343). Im Zentrum des Konflikts stand dabei insbesondere die Frage der Existenz von ‚Rassen‘, die auch mit einem anderen Verständnis der Wissenschaft und Erkenntnistheorie verknüpft war. Kant schrieb eine Reihe seiner rassetheoretischen Texte als direkte Replik auf Herder. Herder hatte nämlich in seinen Texten die Existenz von ‚Rassen‘ grundlegend bestritten, was Kant dazu bewog, seine Rassentheorie zu verteidigen und wissenschaftlich zu fundieren. Nachdem Herder in den 1770er Jahren insbesondere seinen Text
Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) vorgelegt hatte, führte er dieses Projekt in den 1780er Jahren fort. Zwischen 1784 und 1791 veröffentlichte er nach und nach die verschiedenen Teile seiner
Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Nach der Veröffentlichung des ersten Teils 1784 schrieb Kant eine vernichtende Rezension. Im zweiten Teil bezog Herder dann erneut Stellung in Bezug auf die Frage der ‚Rassen‘:
„Endlich wünschte ich auch die Unterscheidungen, die man aus rühmlichem Eifer für die überschauende Wissenschaft dem Menschengeschlecht zwischengeschoben hat, nicht über die Grenzen erweitert. So haben einige z.B. vier oder fünf Abteilungen desselben, die ursprünglich nach Gegenden oder gar nach Farben gemacht waren, Rassen zu nennen gewaget; ich sehe keine Ursache dieser Benennung. Rasse leitet auf eine Verschiedenheit der Abstammung, die hier entweder gar nicht stattfindet oder in jedem dieser Weltstriche unter jeder dieser Farben die verschiedensten Rassen begreift. Denn jedes Volk ist Volk: es hat seine Nationalbildung wie seine Sprache. Zwar hat der Himmelsstrich über alle bald ein Gepräge, bald nur einen linden Schleier gebreitet, der aber das ursprüngliche Stammgebilde der Nation nicht zerstöret. Bis auf Familien sogar verbreitet sich dieses, und seine Übergänge sind so wandelbar als unmerklich. Kurz, weder vier oder fünf Rassen noch ausschließende Varietäten gibt es auf der Erde. Die Farben verlieren sich ineinander, die Bildungen dienen dem genetischen Charakter, und im ganzen wird zuletzt alles nur Schattierung eines und desselben großen Gemäldes, das sich durch alle Räume und Zeiten der Erde verbreitet.“ (Herder 1785: 255)
Vor diesem Hintergrund wundert es umso mehr, dass Herder ebenso wie Fichte stark von den rechtsnationalen Kräften in Deutschland vereinnahmt wurde. Aber warum verwundert es? Es verwundert nur dann, wenn der Rassismusbegriff und die Kritik am Verständnis nationaler Exklusionsmechanismen auf die biologische Abstammung begrenzt bleibt, wie es oft in liberal-humanistischen Ansätzen der Fall ist, die die Lösung des Problems von nationaler (Nicht-)Zugehörigkeit in der Stärkung eines ‚rein‘ republikanischen, nicht auf biologischer Abstammung basierenden Verständnisses sehen. Herder bezieht sich – wie im Folgenden gezeigt werden wird – insbesondere auf die Kategorie der ‚Kultur‘ als Bestimmungsmerkmal der (Nicht-)Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft.
Herders Verständnis einer Nation basiert auf dem Begriff einer ‚Kultur‘. Eine Nation hat bei Herder eine ‚Kultur‘; und eine ‚Kultur‘ ist einer Nation eigen. Um eine Nation zu verstehen, muss man Herder zufolge das „ganze lebendige Gemälde von Lebensart, Gewohnheiten, Bedürfnissen, Landes- und Himmelseigenheiten“ (Herder 1774: 29) verstehen. Auffällig ist hier, dass Herders Verständnis keineswegs eines von sogenannter ‚Hochkultur‘ ist, sondern die Art und Weise der Menschen, den Alltag zu bewältigen – wozu dann auch wieder die Gelehrten gehören. Eine solche ‚Kultur‘ wird aber als national gedacht, sodass er zu der Behauptung kommt, dass eine solche ‚Kultur‘ Ausdruck des spezifischen „Charakter[s] einer Nation“ (ebd.) sei. Er behauptet, es läge eine „Tiefe in dem Charakter nur einer Nation“ (ebd.: 28), wobei wir wieder beim Topos der Innerlichkeit wären. Mit einer solchen nationalisierten Auffassung von ‚Kultur‘ knüpfte er an eine Tradition an und brachte sie in eine für viele Fortschreibungen dieser Tradition „für die Folgezeit verbindliche Form“ (Welsch 1995: 1). So wurde ‚Kultur‘ schon bei Pufendorf von einem auf einzelne Praktiken beschränkten Begriff auf sämtliche menschliche Lebensäußerungen ausgeweitet und zu einem „autonomen Begriff, zu einem Kollektivsingular, der nun – in einer kühnen Vereinheitlichung – sämtliche Tätigkeiten eines Volkes, einer Gesellschaft oder einer Nation zu umfassen beanspruchte“ (ebd.).
Ich werde meine weitere Lesart von Herders Nationsverständnis aus folgendem Zitat entwickeln: „jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!“ (Herder 1774: 35) Im Folgenden werde ich zwei Facetten herausarbeiten, die sich aus dieser Kugelanalogie ergeben: (1) Erstens die Analogie von Natur und Gesellschaft, um Herders erkenntnistheoretischen und kulturanthropologische Prämissen für seinen Begriff der Nation herauszustellen, und (2) zweitens seinen politischen Begriff der Nation bzw. der ‚Kultur’ als ein Kugelmodell. Für letzteres werde ich mich maßgeblich auch mit dem Ansatz der Transkulturalität von Wolfgang Welsch befassen.
1) Analogie von Natur und Gesellschaft
Die Analogie von Naturwissenschaft und dem Verständnis von Gesellschaft ist keineswegs ein rein rhetorischer Zug, sondern ein inhaltliches Argument Herders. Die Unterschiede erklärt er damit, dass die „Natur die Gaben unterschiedlich ausgeteilt“ habe: „Die Natur hat ihre Gaben verschieden ausgeteilt; auf unterschiedlichen Stämmen, nach Klima und Pflege, wachsen verschiedne Früchte.“ (Herder 1793–1797: 225) Klima als durch die Natur gesetztes und auf ein Territorium bezogenes Element und die Pflege als die menschliche Einflussnahme auf diese Anlage sieht er als die beiden Faktoren, die eine national verstandene ‚Kultur‘ prägen würden. Die Pflege – um in dem Bild zu bleiben – ist nötig, da keine Nation von sich aus ihre Anlagen entfaltet: „Was ist eine Nation? Ein großer, ungejäteter Garten voll Kraut und Unkraut.“ (ebd.) Weiterhin sei die Nation ein Sammelplatz „von Torheiten und Fehlern sowie von Vortrefflichkeiten und Tugenden“ (ebd.). Stolz auf ihre Nation könnten also nur Narren sein: „Unter allen Stolzen halte ich den Nationalstolzen sowie den Geburts- und Adelstolzen für den größesten Narren.“ (ebd.) Es ginge darum, was eine Nation erschaffen würde, nicht was sie von sich aus sei.
Den Grund für die unterschiedlichen Anlagen der Nationen durch die Natur sieht Herder in ihrer Produktionsweise – um einen Begriff aus dem erst später entstehenden Marxismus zu übernehmen. In diesem Sinne schreibt Herder
Auch eine Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774), in der er eine Art Stufenmodell entwickelt, das in jener Zeit und bis in die Gegenwart hinein in ähnlicher Form Anwendung findet. Die Stufe des Kindes wird hier durch „Morgenlande“ bzw. den „Orient“ (Herder 1774: 11) repräsentiert. Es zeichne sich durch das nomadische Wander- und Hirtenleben aus. Darauf folgt das „Knabenalter“ (ebd.: 14), wofür das alte Ägypten figuriert. Das Wanderleben sei hier zu Ende gewesen und das Leben sei bestimmt durch Ackerbau. Damit habe sich auch die ‚Kultur‘ geändert. Das Zeitalter des „Jüngling[s]“ stellt das antike Griechenland dar. Das Leben der Menschen im antiken Griechenland sei nicht mehr in erster Linie durch die „Arbeitskünste“, sondern durch die „schönen Künste“ (ebd.: 22) bestimmt gewesen. Mit Rom sei das „Mannesalter“ erreicht worden. Hier seien die Künste durch den männlichen Aufbau eines Imperiums, dem „Weltbau“ (ebd.: 28) abgelöst worden. In klassischen eurozentrisch-kolonialen Geschichtsschreibungen der Aufklärung würde nun Europa als die höchste Stufe erfolgen (Kleinschmidt 2013). Implizit schwingt dies auch bei Herder mit, aber er sträubt sich dagegen, da der Kern seines Kultur- und Nationenbegriffs auf etwas anderes zielt. So relativiert er die Gültigkeit seines Stufenmodells unter anderem in den zehn Jahre später erscheinenden
Ideen:
„und doch war es mir nie eingefallen, mit den wenigen allegorischen Worten, Kindheit, Jugend, das männliche, das hohe Alter unseres Geschlechts, deren Verfolg nur auf wenige Völker der Erde angewandt und anwendbar war, eine Heerstraße auszuzeichnen, auf der man auch nur die Geschichte der Kultur, geschweige die Philosophie der ganzen Menschengeschichte mit sicherm Fuß ausmessen könnte.“ (Herder 1784: 11)
Er betont an gleicher Stelle, dass in der Rezeption seines Werks von 1774, also Auch eine Geschichte zur Bildung der Menschheit, in der Regel das „Auch“ nicht beachtet wurde. Dabei ist es ihm gerade wichtig, den universalistischen Erkenntnisanspruch der Aufklärung durch eine kulturrelativistische Perspektive infrage zu stellen: „Wir Deutschen wollten uns mit den Griechen vergleichen? Und welches wäre der genau bestimmte, der unverfälschbare Maßstab? Und wer wäre der unparteiische Richter?“ (Herder 1793–1797: 225) Dies ist eine rhetorische Frage, denn es gibt nach Herder keinen universellen Richter; und hier kommt wieder das Kugelmodell ins Spiel. Für ihn ist der Maßstab nicht eine globale Erkenntnis, die nach ihm eben nicht tatsächlich universell wäre, sondern die Überhöhung einer partikularen Perspektive. Dies unterscheidet ihn grundlegend von Kant, für den Wahrheit oder Vernunft nicht kulturabhängig ist. Das heißt, Herder führt hier das erkenntnistheoretische Prinzip der Perspektivität ein. Diese Perspektivität ist aber an eine ‚Nationalkultur‘ gebunden und kann insofern als essenzialisierender Kulturrelativismus bewertet werden. Eine weitere Unterscheidung zu Kant stellt auch das der Glückseligkeit dar. Es geht Herder nicht um ein Fortschreiten der Menschheit als solcher, sondern um die Glückseligkeit, die innerhalb einer Nation sowohl definiert als auch realisiert wird.
Dementsprechend lehnt Herder auch die Universalgeschichte anderer Aufklärer ab. Es gehöre zur menschlichen Natur, dass sie sich unterschiedlich organisiere: „zur Vollkommenheit der menschlichen Natur gehört, daß sie unter jedem Himmel, nach jeder Zeit und Lebensweise sich neu organisiere und gestalte“ (Herder 1783: 471). Dementsprechend ergäbe sich aus der Natur, dass es verschiedene Nationen gäbe, die sich durch unterschiedliche ‚Kulturen‘ auszeichneten. Diese ‚Kulturen‘ basieren – wie aufgezeigt – nicht auf Abstammung, sondern auf der gelebten ‚Kultur‘ eines Volkes, einer Lebensweise, die ein Volk vor dem Hintergrund einer Klimazone und der damit im Zusammenhang stehenden Produktionsweise entwickelt hat. Die Ablehnung des Universalismus hindert ihn keineswegs daran, wie etwa im folgenden Zitat aus seinen
Briefen zur Beförderung der Humanität an einem universellen Humanismus festzuhalten:
„Du aber, Mensch, ehre dich selbst. Weder der Pongo noch der Longimanus ist dein Bruder; aber wohl der Amerikaner, der N[*]. Ihn also sollst du nicht unterdrücken, nicht morden, nicht stehlen; denn er ist ein Mensch, wie du bist; mit dem Affen darfst du keine Brüderschaft eingehn.“ (Herder 1785: 255)
Der Kolonialismus erscheint aus der Sicht seines Humanismus als falsch – allerdings aus den falschen Gründen und mit den falschen Schlüssen, wie ich im folgenden Abschnitt darstellen werde.
2) Zu den Implikationen der Nation/Kultur als Kugelmodell
Wenn Herder sich eine Nation als Kugel vorstellt – „jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!“ (Herder 1774: 35) – ergeben sich daraus zahleiche Konsequenzen für die ‚Pflege‘ einer Nation. Hier begegnen wir wiederum dem Ideologem der ‚Reinheit‘, wenn auch in anderer Form. Nach Herder würde die Abgrenzung eines Volkes gegen andere dieses stärken: „Das Vorurteil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich. Es drängt Völker zu ihrem Mittelpunkte zusammen, macht sie fester auf ihrem Stamme, blühender in ihrer Art, brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigungen und Zwecken.“ (ebd.: 36) Mit dem Kugelmodell werden (nationale) ‚Kulturen‘ als klar voneinander abgegrenzte Entitäten imaginiert. Eine ‚kulturelle‘ Vermischung würde – um das Bildhafte dieses Modells zu thematisieren – nur die figürliche Harmonie der Kugel mit ihrem Schwerpunkt stören. Herders Kugelmodell zeichnet sich dementsprechend durch ein „internes Homogenitätsgebot und ein externes Abgrenzungsgebot“ (Welsch 2010: 40) aus. ‚Kulturelle‘ Praktiken werden damit von ‚unschuldigen‘ Praktiken der Alltagsbewältigung zu Symbolen und Ausdrucksweisen einer nationalen und inkludierend-exkludierenden Gemeinschaft. Der Lesart von Welsch zufolge soll die ‚Kultur‘ im Kugelmodell „das Leben der jeweiligen Gesellschaft im ganzen wie im einzelnen prägen, sie soll jede Handlung und jeden Gegenstand zu einem unverwechselbaren Bestandteil gerade dieser Kultur machen“ (Welsch 1995: 1).
Wolfgang Welsch sieht einen solchen Kulturbegriff auch in Ansätzen der Interkulturalität und Multikulturalität am Werk. Die „Misere“ dieser Konzepte komme daher, dass sie die „Prämisse des traditionellen Kulturbegriffs unverändert mit sich“ fortschleppen würden, also „noch immer von einer insel- bzw. kugelartigen Verfassung der Kulturen“ (ebd.: 2) ausgeht. Beide Konzepte erschaffen sich ihr Problem selbst, indem sie davon ausgehen, dass die als separiert und jeweils tendenziell homogenen ‚Kulturen‘ – wenn sie aufeinandertreffen – in einem schwierigen Verhältnis zueinander stehen. Beide Konzepte suchen vor diesem Hintergrund nach Möglichkeiten, wie sich die Mitglieder der ‚verschiedenen‘ ‚Kulturen‘ trotzdem (sic!) verstehen können. Sie suchen dazu nach „Chancen der Toleranz, Verständigung, Akzeptanz und Konfliktvermeidung oder Konflikttherapie“ (ebd.). Wolfgang Welsch qualifiziert diese Ansätze deswegen als „gut gemeint, aber ergebnislos“ und „bloß kosmetisch“ (ebd.). Ich werde an dieser Stelle auf eine Diskussion darüber verzichten, inwiefern sich einige Diskurse in den interkulturellen Ansätzen hin zu einem weniger essenzialistischen Kulturbegriff verschoben haben. Worum es an dieser Stelle geht, ist dass der Herdersche Kulturbegriff in seiner nationalisierten und ethnisierten Form auch in der Gegenwart eine zentrale Stellung einnimmt.
Welsch schlägt ein alternatives Konzept vor: Transkulturalität. Mit dem Ansatz der Transkulturalität würde ‚Kultur’ „nicht mehr nach dem alten Modell klar gegeneinander abgegrenzter Kulturen, sondern nach dem Modell von Durchdringungen und Verflechtungen“ (Welsch 2010: 1) verstanden werden. Welsch führt als Grund gesellschaftliche, insbesondere mit Migration verknüpfte Prozesse an. Er argumentiert hier also nicht – zumindest nicht in erster Linie – normativ, indem er den Herderschen Kulturbegriff aufgrund seiner problematischen, exkludierenden Effekte ablehnt. Stattdessen stellt er dem Kugelmodell das empirische Argument entgegen, dass „Kultur heute […] de facto derart permeativ und nicht separatistisch“ (ebd.) strukturiert sei. Die Annahmen des traditionellen Kulturkonzepts seien „heute unhaltbar geworden“; von einer „Einheitlichkeit der Lebensformen“ könne heute „nicht mehr die Rede“ (Welsch 1995: 1) sein. Dieses auf dem „nicht mehr“ basierende Argument stellt einen Kernpunkt der Argumentation dar. Dies ist aber deswegen problematisch, da das nicht-mehr-Argument suggeriert, dass es an einem Zeitpunkt der Vergangenheit einen Zustand gegeben habe, wo es tatsächlich Homogenität und Separiertheit der ‚Kulturen‘ gegeben habe, ‚Kulturen‘ also zurecht als Kugeln betrachtet wurden oder zumindest legitimerweise als solche hätten betrachtet werden können. Leider führt Welsch nicht aus, auf welchen Zeitraum er sich hier bezieht. Falls ‚Kulturen‘ als an nationale Gebilde gekoppelt betrachtet würden, läge das 19. Jahrhundert als Referenzrahmen nahe, da hier in einigen westeuropäischen Territorien die Prozesse des nation-building eine intensive Phase durchliefen. Der Bezug zu Herder würde eher auf das 18. Jahrhundert als derjenigen Epoche verweisen, in der das Kugelmodell tendenziell der Realität entsprochen hätte. Oder aber es geht um einen Bezug auf eine Zeit, lange bevor es große Herrschaftsreiche gegeben hätte und es referiert auf eine Art separiert voneinander wohnender, indigener Volksgruppen, die im Sinne der kolonialen Sprache als ‚Stämme‘ bezeichnet werden würden. Ohne lange historische Forschungen aufzuarbeiten, sollte offensichtlich sein, dass auf alle diese ‚Epochen‘ das Kugelmodell nicht zutrifft. Schließlich ist das Kugelmodell – mit den Imaginationen eines Zentrums und der Abgrenzung voneinander, der Homogenität und der Separiertheit – nicht Analyse vom Prozess der Nationalisierung und der Durchsetzung der Nation als Episteme, sondern vielmehr selbst Praxis innerhalb des Konstruktionsprozesses. In der Kritik des Kugelmodells geht es also nicht um ein „nicht mehr“, sondern vielmehr um die Analyse des Kugelmodells als eine Form der Konstruktion von Ethnizität und nationalistischer Erzählung.
Auch wenn Herder unter anderem von den Nazis affirmativ verwendet wurde, spricht vieles dafür, ihn – und auch seine Mitstreiter, wie beispielsweise Georg Forster – eher als frühe Formen eines multikulturellen Humanismus zu sehen. Balibar sieht in Herders Werk die „egalitäre Vielfalt der ethnisch-nationalen Kulturquellen“ (Balibar 1997: 138) als zentrales Theorem des Nationsbegriffes. Die Nation als Kulturgemeinschaft wird so – wenn auch vor grundlegend anderen normativen Vorzeichen – in Geschichte und Gegenwart von ganz unterschiedlichen politischen Gruppierungen verwendet. Während die normativen Ausrichtungen liberaler Multikulturalismen und – ebenfalls in der EU der Gegenwart sehr weit verbreiteten – rechtspopulistischen Ethnopluralismen differieren, teilen sie weitgehend erkenntnistheoretische Prämissen. Sabine Hess stellt heraus, dass „differenzkulturalistische-ethnizistische Argumentationsweisen nicht als die andere, bessere Seite von Rassifizierungspraktiken und rassistischem Wissen“ (Hess 2014: 213) gelesen werden dürfen. Der „essentialisierende Kulturbegriffs in der Migrationsdebatte“ funktioniere ähnlich „wie ‚Rasse‘ im kolonialen Rassismus, indem er Kultur naturalisiert und als ‚zweite Haut‘ bzw. als ‚Schicksal‘ betrachtet“ (ebd.). Die Wirkmächtigkeit weist sie für den gegenwärtigen Diskurs um die Frage des ‚Islams‘ und der „‚Nichtintegrationsfähigkeit‘ bzw. ‚-willigkeit‘ muslimischer Migrantinnen und Migranten“ nach, in dem sie über die „Religionisierung der Einwanderungsthematik“ hinaus in der forcierten „Koppelung zwischen Rassismus und Migrationsfragen“ (ebd.) einen wirkmächtigen antimuslimischen Rassismus analysiert.
4.2.3.3.4 Renan: Nation als Wertegemeinschaft
Auf den ersten Blick scheint die Religion keine konstitutive Rolle für den Prozess der Nationalisierung zu haben. Der Prozess der Nationalisierung, des nation-building, geht vielmehr mit einer Veränderung der gesellschaftlichen Rolle der Religion einher. Während vorher in der christlichen Welt ein Monismus der Religion und ein Pluralismus der Sprachen praktiziert wurden, war es in den entstehenden nationalen Formationen, die sich als liberal verstanden, genau umgekehrt. Aus der Indifferenz gegenüber der Sprache wurde eine Verpflichtung, Sprache wurde zum Zugehörigkeitsmarker, und die Religion wurde zweitrangig; sie wurde zur Privatsache erklärt, gegenüber der der Staat sich zumindest dem theoretischen Anspruch nach neutral zu verhalten hat (Brubaker 2015: 95). Sprachtests zur Einbürgerung gehören heute zur Routine, während ein Religionstest in einer sich als liberal deklarierenden Gesellschaft als unpassend empfunden würde (ebd.). Die Hegemonie der nationalen Form hat zu einer Säkularisierung geführt (ebd.: 103, 116). Auch wenn das Konzept der Nation als Säkularisierung, im Sinne eines Modernisierungsprozesses, zu recht stark kritisiert wurde (ebd.: 116), halte ich die These einer spezifischen Form der Säkularisierung aufrecht. Das bedeutet nicht, dass die Religion keine Rolle in nationalen Formationen spielen würde. So gibt es zahlreiche Verschränkungen im Bereich der Rhetorik, der Legitimationsfiguren, der Symboliken, der Konstruktion von Zugehörigkeit oder institutioneller Verschränkungen von Kirche und Nationalstaat. Einige Nationalstaaten haben die religiöse Identität zu einem offiziellen Kernelement ihres Selbstverständnisses gemacht. Doch sehe ich insgesamt im Anschluss an Rogers Brubaker den Kern nationaler Gesellschaftsformationen in der Nation: „Nations are seen as legitimately entitled to ‚their own‘ polities and as ‚owning‘ those polities once they are established; authority is seen as legitimate only if it arises from ‚the nation‘.“ (ebd.: 117) Ich werde modellhaft an Ernest Renan im Folgenden versuchen, dieses – aus meiner Sicht komplexe – Verhältnis von Nation und Religion analytisch zu fassen zu bekommen.
Ernst Renan (1823–1892) ist bekannt für seine Rede von 1882 in der Sorbonne Qu’est-ce qu’une nation? (Was ist eine Nation?), darin insbesondere für den Ausspruch, dass eine Nation ein „tägliches Plebiszit“ (1882) sei. In populären Darstellungen wird Renan als ‚modernes‘, prototypisches Gegenbild zu essenzialistischen Definitionen, wie etwa von Fichte herangezogen (siehe beispielsweise die Wikipedia-Einträge zu Nation auf Deutsch, Englisch und Französisch). Von einigen Autor_innen in der gegenwärtigen Theorie zur Nation und Nationalismus wird er sogar als intellektueller Vorläufer der Theorie der ‚imagined communities‘ von Benedict Anderson und einem konstruktivistischen Nationsverständnis angesehen (so zu finden z. B. in Eley/Suny 1996: 41). Ich werde im Folgenden die Argumentation von Renan nachzeichnen und zeigen, dass diese Interpretationen nicht nur einfach zu kurz greift, sondern konstitutive Elemente von Renans Nationsverständnis auslässt und so entscheidende Machtwirkungen seines Verständnisses unangesprochen und ausgeblendet bleiben. Dafür werde ich die Rede von 1882 in seinem Werk kontextualisieren. Ich werde zeigen, wie der hauptsächlich als Orientalist arbeitende Renan die Haltung zur Religion zum Bestimmungsmerkmal einer Nation macht – eine spezifische Haltung, die aus der Abkehr von der Religion, aber nicht von irgendeiner, sondern von dem Christentum besteht. Renan steht an dieser Stelle dann als Prototyp für ein Nationsverständnis, das auf dem Prozess der christlichen Säkularisierung als nationales Distinktionsmerkmal und der Abgrenzung zum anderen, insbesondere ‚dem Islam‘, basiert. Dafür werde ich seine Kontroverse mit dem muslimischen Gelehrten Jamāl al-Dīn al-Afghānī thematisieren. Die Weiterführung dieser Debatte, insbesondere in nicht-westlichen Kontexten werde ich hier nicht weiterverfolgen (vgl. dazu Schäbler 2016). Doch zunächst komme ich zu seiner berühmten Rede, die ich aufgrund seiner zentralen Rolle in der ideengeschichtlichen Entwicklung bis heute ausführlich darstellen werde.
Renan stellt also 1882 an der Sorbonne die Frage danach, was eine Nation sei. Er zeichnet zunächst ein Bild der Entstehung der Nationen in Westeuropa. Ausgangspunkt dieses Bildes ist das Frankenreich, das durch seine Eroberung West-, Mittel- und Südeuropas „für einen Augenblick die Einheit des Abendlandes wieder“ (Renan 1882) hergestellt hätte. Auf das für Renans Werk zentrale Sujet des Abendlandes, das hier den Ausgangspunkt seiner Geschichtsschreibung der Nationen bildet, werde ich weiter unten zu sprechen kommen. Der Vertrag von Verdun, unterzeichnet im Jahr 843, steht symbolisch für den Zerfall dieses Reiches sowie die Entstehung der Nationen:
„Der Vertrag von Verdun zeichnet die letztlich unabänderlichen Grenzen vor, und seitdem sind Frankreich, Deutschland, England, Italien, Spanien auf vielen Umwegen und unter unzähligen Abenteuern zu ihre vollen nationalen Existenz aufgebrochen, wie wir sie heute vor uns haben.“ (Renan 1882)
Renan fährt fort und stellt fest, dass die Nationen sich durch „die Verschmelzung der Bevölkerungen, die sie bewohnen“ (ebd.), auszeichnen. Er kontrastiert die Entwicklung in den westeuropäischen Nationen mit der der Türkei. Während in der Türkei, „wo der Türke, der Slawe, der Grieche, der Armenier, der Araber, der Syrer, der Kurde auch heute noch so verschieden sind wie am Tag der Eroberung“, die „Menschen nach ihrer Religion“ (ebd.) scheide, haben die westeuropäischen Staaten eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Religion angenommen. Im Folgenden begründet er dann in fünf Unterpunkten, warum die Konzepte von ‚Rasse‘, Sprache, Religion, Interessen und Geographie kein Fundament für die Nationen darstellen.
Die Ablehnung des Konzepts der ‚Rasse‘ für sein Nationsverständnis ist vielleicht am überraschendsten. Immerhin ist das Konzept der ‚Rasse‘ im Werk von Renan von entscheidender Bedeutung, das er zu einer zentralen Kategorie sozialer und historischer Analyse erhob (Brubaker 1992: 140). Djamel Kouloughli zeigt auf, wie das Werk Renans, als einer Figur des intellektuellen Pantheons Frankreichs (2007: 91), von einem systematischen Rassismus und Antisemitismus durchzogen ist (ebd.: 95). Kouloughli wählt den Ausdruck des ‚gelehrten Antisemiten‘, da Renan oft nicht offensichtlich (ab-)wertend, sondern vielmehr wissenschaftlich vorgeht. Sein Verhältnis zum ‚Rasse‘-Konzept ist aber immer von Spannungen geprägt. Kurt Weinberg hat hierfür den treffenden Ausdruck der Heimsuchung gewählt: „Die Werke von Ernest Renan erscheinen wie vom Gespenst der ‚Rasse‘ heimgesucht.“
15 (Weinberg 1958: 129) Zum Verständnis der Gründe für die Ablehnung des ‘Rasse’-Konzepts für das Nationsverständnis in seiner Rede von 1882 führen Autor_innen an, dass sich Renans Grundhaltung stark durch die politischen Geschehnisse der 1870er Jahre verändert habe. Kouloughli führt insbesondere „Schock“ durch den deutsch-französischen Krieg und die Erfahrungen der
Commune an, aus denen Renan die Forderung nach einer nach dem Vorbild der siegreichen Deutschen erschaffene quasi-aristokratische Demokratie ableitete, die die gesellschaftliche Führung einer gebildeten Elite überlässt, die das Volk vor den Versuchungen fernhält (Kouloughli 2007: 94).
Zu nennen ist auch die erbitterte öffentliche Debatte mit dem deutschen Intellektuellen David Friedrich Strauss, der – wie Renan – über die Verweltlichung der Bibel und insbesondere der Person Jesus seine Posten verloren hatte, in der gesellschaftlichen Stimmung des aggressiven Nationalismus der 1870er aber dennoch keinen Verbündeten Renans abgab, sondern vielmehr zu einem ‚Blut und Eisen‘-Mann geworden war. Renan hatte lange von der deutsch-französischen Verständigung geträumt und bewunderte das deutsche System, in dem er durch den Kulturprotestantismus eine harmonische Balance zwischen Religion und Wissenschaft geschaffen sah (Schäbler 2007). Möglicherweise sind es diese Impulse, die Renan zu einem anderen Nationsverständnis bewogen, da ‚Rasse‘ für diese ihn in Widersprüche stürzenden Entwicklungen keine gangbaren Erklärungsmuster anbot. Letztlich macht sich hier aber das spannungsgeladene, heimsuchende Verhältnis zur ‚Rasse‘ bemerkbar, das im nicht aufrecht zu erhaltenen Widerspruch zwischen einer Affirmation als historische Analysekategorie und einer Ablehnung für die Analyse zeitgenössischer Entwicklungen fluktuiert.
So kritisiert er den Zeitgeist für den „schwerwiegenden Irrtum“, an „die Stelle des Prinzips der Nation“ das der „Ethnographie“ (Renan 1882) zu setzen. Dabei verwendet er ein normatives und ein empirisches Argument. Zunächst zum normativen: „Während das Prinzip der Nationen gerecht und legitim ist, ist das Urrecht der Rassen eng und voller Gefahren für den wahrhaften Fortschritt.“ (ebd.) Die Verwendung einer ethnographischen Analyse führt in die Irre, da es keine „reine Rasse“ gäbe: „Die Wahrheit ist, dass es keine reine Rasse gibt und dass man die Politik auf eine Chimäre bezieht, wenn man sie auf die ethnographische Analyse gründet.“ (ebd.) Dass es – zumindest in Westeuropa – keine ‚reinen Rassen‘ gibt, zeigt er anhand der Geschichte der ‚Bevölkerungsmischungen‘ – oder nach Renan treffender ‚Rassenmischungen‘ – durch Eroberungen, aber auch durch die Geschichte der Regierungsweise in Westeuropa. Das Bündnis des „uneingeschränkten Universalismus“ des Christentums mit dem römischen Reich habe dafür gesorgt, dass die „ethnographische Vernunft von der Regierung der menschlichen Dinge für Jahrhunderte ferngehalten“ (ebd.) worden sei. Eine ‚Blutsmischung‘ ist nach seinem Nationsverständnis nichts negatives, sondern ist ganz im Gegenteil Charakteristikum der „edelsten“ und „fortschrittlichsten“ (ebd.) Nationen. „Die edelsten sind jene Länder – England, Frankreich, Italien –, bei denen das Blut am stärksten gemischt ist.“ (ebd.) Eine Nationalität hat also nach Renan keinen ‚rassischen‘ Ursprung, gründet sie sich doch aus verschiedensten ‚Mischungen‘ der ‚Rassen‘. So seien die „ersten Nationen Europas […] Nationen von gemischtem Blut“ (ebd.). „Der Franzose ist weder Gallier noch Franke noch Burgunder. Er ist aus dem großen Brutkasten hervorgegangen, in dem, unter dem Vorsitz des Königs von Frankreich, die verschiedensten Elemente gärten.“ (ebd.) Es ist also nicht die ‚Rasse‘, sondern vielmehr – um im Bild zu bleiben – der Gärungsprozess unter einer staatlichen Souveränität, der zur Entstehung einer Nation führen kann. Interessanterweise sieht Renan die ‚Rassen‘ als etwas an, das historisch vergänglich ist: „Die Rasse ist also in unserem Verständnis etwas, was entsteht und wieder vergeht.“ (ebd.) Zentral ist dabei aber seine Unterscheidung zwischen ‚Rasse‘ als Analysekategorie und Faktor in der Politik: „Ihr Studium ist für den Gelehrten, der sich mit der Geschichte der Menschheit beschäftigt, von größter Bedeutung. Aber in der Politik hat die Rasse nichts zu suchen.“ (ebd.)
Ebenso strikt lehnt er die Sprache als Grundlage der Nation ab. Auch hier bringt er, analog zur ‚Rasse‘, ein normativ-empirisches Argument. Diese lassen sich als zwei verschiedene, wenn auch verbundene Argumententeile darstellen. Er zeigt auf, dass es mehrsprachige Länder gibt (Schweiz), in einigen Ländern bis vor einigen Jahrhunderten noch andere Sprachen gesprochen wurden (‚Slawisch‘ in Preußen), einige Sprachen in vielen Nationen und Regionen gesprochen werden und deswegen noch keine Nation sind (Spanisch, Englisch). Er folgert daraus, dass die Sprache nicht als Grundlage zur Bestimmung einer Nation taugt und führt hier bereits in sein Nationsverständnis der
Rede ein: „Beim Menschen gibt es etwas, was der Sprache übergeordnet ist: den Willen.“ (ebd.) Der zweite Teil des Arguments bezieht eine andere Ebene mit ein. Sie stellt Fortschritt und Vernunft über die Sprache: „Geben wir das Grundprinzip nicht auf, dass der Mensch ein vernünftiges und moralisches Wesen ist, ehe er sich in diese oder jene Sprache einpfercht, ein Angehöriger dieser oder jener Rasse, ein Mitglied dieser oder jener Kultur.“ (ebd.) Bevor es die eine „französische, deutsche, italienische Kultur“ gegeben hätte, hätte es eine „menschliche Kultur“ (ebd.) gegeben. „Menschlich“; spätestens seit Fanon, Althusser und Foucault lässt dieses – scheinbar so unschuldige und universalistische – Wort hellhörig werden. Wer ist der Mensch, auf den sich Renan hier bezieht bzw. was macht das allgemein Menschliche aus, das diesem Ausdruck zugrunde liegt? Er gibt direkt die Antwort:
„Die großen Menschen der Renaissance waren weder Franzosen noch Italiener noch Deutsche. Durch ihren Umgang mit der Antike hatten sie das wahre Geheimnis des menschlichen Geistes wiedergefunden, und ihm gaben sie sich mit Leib und Seele hin. Wie gut sie daran taten.“ (ebd.)
Es ist eine bestimmte Traditionslinie, nämlich die des klassischen Eurozentrismus, die das Menschliche – oder zumindest den Teil dieser, der die Menschheit fortschreiten lasse – als eine Geschichte von der Antike (Griechenland) über die Renaissance (Westeuropa) bis in die Gegenwart erzählt. Der Mensch, für den die Sprache also nicht das zentrale Merkmal seiner Nationszugehörigkeit ist, da er Anteil an der menschlichen Kultur hat, ist also ein Westeuropäer (ohne weibliche Form).
Ebenso wenig wie die ‚Rasse‘ und Sprache stelle die Religion keine Grundlage der Nation dar, da sie „eine individuelle Angelegenheit geworden“ sei, die „nur das Gewissen eines jeden“ (ebd.) angeht. Auch sein vierter Punkt, die Gemeinschaft der Interessen, sei als Prinzip einer Nation unzureichend. Eine Gemeinschaft der Interessen könne Handelsverträge schließen, die jedoch niemals die „Gefühlsseite“ einer Nationalität – sie sei „Seele und Körper“ zugleich – hervorbringen könne. Um ein weiteres, viel zitiertes Bonmot von Renan in Erinnerung zu rufen: „Ein ‚Zollverein‘ ist kein Vaterland.“ (ebd.)
Auch die Geographie liefert keinen hinreichenden Grund für eine Nationalität, denn bei der „Formung dieser geheiligten Sache, die man ein Volk nennt, ist der Mensch alles“ (ebd.). In Abgrenzung zur Geographie beginnt er die Darstellung seiner eigenen Konzeption: „Eine Nation ist ein geistiges Prinzip, das aus tiefen Verwicklungen der Geschichte resultiert, eine spirituelle Familie, nicht eine von Gestaltungen des Bodens bestimmte Gruppe.“ (ebd.) Renan fasst seine negative Bestimmung der Nation folgendermaßen zusammen:
„Ich fasse zusammen. Der Mensch ist weder der Sklave seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Religion noch des Laufs der Flüsse oder der Richtung der Gebirgsketten. Eine große Ansammlung von Menschen, gesunden Geistes und warmen Herzens, erschafft ein Moralbewusstsein, welches sich eine Nation nennt. In dem Maße, wie dieses Moralbewusstsein seine Kraft beweist durch die Opfer, die der Verzicht des einzelnen zugunsten der Gemeinschaft fordert, ist die Nation legitim, hat sie ein Recht zu existieren.“ (ebd.)
Renan führt auch an, dass die Nationen „nichts Ewiges“ seien; sie „haben einmal angefangen, sie werden enden. Die europäische Konföderation wird sie wahrscheinlich ablösen“ (ebd.). Renans Konzeption der Nation rekurriert also auf den Konstruktionsprozess der Nationen, die als Entitäten nichts Überhistorisches sind. Auf seine Vision einer post- oder neonationalen, europäischen Konföderation werde ich weiter unten zu sprechen kommen. Hat Renan also tatsächlich eine nicht-essenzialistische Konzeption der Nation, eine ‚rein‘ republikanische, die kein dem Prozess der nationalen Willensgemeinschaft zugrundeliegendes Prinzip hat? Am Ende der folgenden Auseinandersetzung mit Renans Konzeption wird hoffentlich einleuchten, warum dies die falsche Frage ist und das Konzept eines ‚rein‘ republikanischen Nationsverständnis, das meint ethnos und demos durch die reine Proklamation der Trennung tatsächlich getrennt zu haben, problematisch ist.
Für Renan macht die Nation als „Seele“ und „geistiges Prinzip“ zwei Dinge aus: „Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat.“ (ebd.) Es ist also der Besitz eines nationalen Erbes und dem Willen der Bürger der Nation, dieses Erbe hochzuhalten. Renans Begriff des Erbes schwankt zwischen einem substanzialistischen – „das man ungeteilt empfangen hat“ – und einem konstruktivistischen – „der
Wille, das Erbe hochzuhalten“:
„Der Mensch improvisiert sich nicht. Wie der einzelne ist die Nation der Endpunkt einer langen Vergangenheit von Anstrengungen, von Opfern und von Hingabe. Der Kult der Ahnen ist von allen am legitimsten; die Ahnen haben uns zu dem gemacht, was wir sind, eine heroische Vergangenheit, große Männer, Ruhm (ich meine den wahren) – das ist das soziale Kapital, worauf man eine nationale Idee gründet. Gemeinsamer Ruhm in der Vergangenheit, ein gemeinsames Wollen in der Gegenwart, gemeinsam Großes vollbracht zu haben und es noch vollbringen wollen – das sind die wesentlichen Voraussetzungen, um ein Volk zu sein. Man liebt – im rechten Verhältnis – Opfer, in welche man eingewilligt, Übel, die man erlitten hat. Man liebt das Haus, das man gebaut hat und das man vererbt. Das spartanische Lied: ‚Wir sind, was ihr gewesen seid; wir werden sein, was ihr seid‘, ist in seiner Einfachheit die abgekürzte Hymne jedes Vaterlandes.“ (ebd.)
In diesem Kontext ist auch sein berühmtes Zitat des täglichen Plebiszits platziert:
„Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem fasst sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Das Dasein einer Nation ist – erlauben Sie mir dieses Bild – ein tägliches Plebiszit, wie das Dasein des einzelnen eine andauernde Behauptung des Lebens ist.“ (ebd.)
Dieses „tägliche Plebiszit“ ist also keineswegs als eine Assoziation freier Individuen zu verstehen, bezieht seinen Gehalt also nicht ‚einfach‘ durch den Willen frei in der Welt flottierender Individuen, die – einer Kommune ähnlich – entscheiden zusammen wohnen zu wollen. Die Grundlage dieser Gemeinschaft ist das geteilte Erbe. Die Frage, die sich dann stellt, ist, ob dieses Erbe angenommen und fortgeführt wird. Was ist aber ein solches Erbe, das abgelehnt oder fortgeführt werden kann? Und – um mit Stuart Hall (1999) zu sprechen – wessen Erbe ist es? Wer ist die Erbengemeinschaft, die Renan als „spirituelle Familie“ oder auch „geheiligte Sache, die man ein Volk nennt“ (1882), bezeichnet?
Zur Annäherung an diese Fragen werde ich ein Jahr in die Zukunft blicken und Renans Rede von 1883 untersuchen, die er ebenfalls an der Sorbonne gehalten hat. Sie wurde im Nachhinein unter dem Titel
Der Islam und die Wissenschaften publiziert. Selbsterklärtes Ziel der Rede ist die Auflösung von Missverständnissen, der durch einen „Mangel an Genauigkeit bei Anwendung von Wörtern, welche Nationen und Rassen“ (Renan 1883a) bezeichnen, entsteht. Er knüpft an zentrale Ideen seiner Rede aus dem Vorjahr an und kritisiert, dass von „Griechen, Römern und Arabern“ gesprochen werden, „als ob diese Wörter Menschengruppen bezeichneten, die immer mit sich selber identisch gewesen“ (ebd.). Die Wirklichkeit – gekennzeichnet durch Eroberungen, Moden und vielfältige andere geschichtliche Faktoren – sei hingegen sehr viel komplexer. So seien „wir Franzosen“ unter anderem „Römer der Sprache, Griechen der Civilisation, Juden der Religion nach“ (ebd.). Die Kategorie der ‚Rasse‘ stellt nach wie vor einen Nebenschauplatz für das Verständnis der Nationen dar bzw. seine Bedeutung liegt in der Vergangenheit:
„Die Rasse als solche, von höchster Wichtigkeit für den Beginn der Geschichte einer Nation, verliert ihre Bedeutung in dem Maasse als die grossen universalgeschichtlichen Thatsachen: griechische Civilisation römische Eroberung, germanische Eroberung, Christenthum, Islam, Renaissance, Philosophie, Revolution gleich zermalmenden Walzen über die frühesten Varietäten der Menschenfamilie hinweggehen und sie in mehr oder minder homogene Massen zusammendrängen.“ (ebd.)
Nationen sind also nicht die Fortführung irgendwelcher Abstammungsgemeinschaften, sondern durch weltgeschichtliche Entwicklungen entstanden und bestimmt. Dafür malt er ein Bild, das zumindest die grobe Struktur der Nationen, ihre weltgeschichtlichen Bedeutung und ihre dadurch bestimmte innere Verfasstheit berücksichtigt. Dieses Bild teilt die Welt in „mehr oder minder homogene Massen“ und ordnet diese Massen anhand einer teleologischen Weltgeschichte ein. Ähnlich wie Hegel geht es Renan dabei um die vermeintliche Nähe bzw. Ferne der Völker zur Vernunft (Kleinschmidt 2013).
Diese Beziehung zur Vernunft wird bei Renan allerdings durch die jeweils gesellschaftliche Rolle von Wissenschaft und Religion definiert. Biographisch spielt sein Verhältnis zum Christentum eine zentrale Rolle; hatte er doch nach einer erfolgreichen Ausbildung zum Priester mit der Kirche gebrochen. Im Zentrum seiner historisch-kritischen Bibellektüre stand sein Werk
Leben Jesu von 1863, das als eines der berühmtesten Bücher des 19. Jahrhunderts in Frankreich gilt (Schäbler 2007). Er propagierte ein Modell, das eine auf Wissenschaft begründete Religion vorsah, da so eine Balance zwischen Wissenschaft und Religion hergestellt werden könnte. Genau diesen Prozess der Abkehr von der Religion durch eine Zuwendung zur Wissenschaft sah er in der christlichen Tradition, den ‚christlichen Gesellschaften‘ gegeben. Das Gegenstück, der Andere, dieser Geschichtsschreibung und Weltsicht stellt der Islam dar. Dementsprechend pejorativ beschreibt der Orientalist und Semitist Renan die „mahomedanischen Länder“:
„Jede Person, die nur einigermassen an dem Geistesleben unserer Zeit theilnimmt, erkennt deutlich die, gegenwärtige Inferiorität der mahomedanischen Länder, den Niedergang der vom Islam beherrschten Staaten, die geistige Nichtigkeit der Rassen, die einzig und allein ihre Kultur und ihre Erziehung jener Religion verdanken.“ (Renan 1883a)
Die Dominanz des Islam habe also den Niedergang der „Staaten“ und „Rassen“ bewirkt. „Rasse“ ist an dieser Stelle nicht Ursache, sondern vielmehr das Material, dessen Entwicklung der Islam verhindern würde. Nach Renan verhindere der Islam in all seinen Formen zu den verschiedenen Zeitpunkten jede Modernisierung. Er malt ein aberwitziges Bild von Muslim_innen, an deren Ende die vermeintliche Einsicht steht, dass der Islam alle anderen Unterschiede einebnen würde:
„Wer immer im Orient oder in Afrika gereist ist, dem musste die Wahrnehmung sich aufdrängen von der thatsächlichen Geistes-Beschränktheit eines wahrhaft Gläubigen, von jener Art eisernen Reifens, der um sein Haupt geschlagen ist und dasselbe der Wissenschaft geradezu verschliesst, es unfähig macht, irgend etwas zu lernen, irgend eine neue Idee in sich aufzunehmen. So wie es in seine Religion eingeweiht ist, um das zehnte bis zwölfte Lebensjahr, wird das muselmännische Kind, das bis dahin zuweilen noch ziemlich geweckt war, plötzlich fanatisch, von jenem Dünkel gesättigt, es besitze Alles, was ihm als die absolute Wahrheit gilt, wie über ein Vorrecht über das glücklich, was gerade seine geistige Inferiorität ausmacht. Dieser dumme Hochmuth ist das Laster, welches das ganze Sein des Muselmanns bestimmt. Die scheinbare Einfachheit seines Gottesdienstes flösst ihm eine wenig gerechtfertigte Verachtung vor den andern Religionen ein. Ueberzeugt, dass Gott Glück und Macht nach seinen unergründlichen Rathschlägen austheilt, ohne auf Kenntnisse noch auf persönliches Verdienst einen Werth zu legen, hat der Muselmann die tiefste Verachtung vor der Bildung, der Wissenschaft, vor Allem, was wir das europäische Geistesleben nennen. Dieses durch den mahomedanischen Glauben ihm eingeprägte Vorurtheil ist so mächtig, dass alle Unterschiede der Rasse und der Nationalität durch die einzige Thatsache der Bekehrung zum Islam verschwinden.“ (ebd.)
Alle ‚Völker‘, ‚Nationen‘ oder ‚Rassen‘ würden so gleich gemacht: „Die Berbern, die Bewohner des Sudan, die Tscherkessen, die Afghanen, die Malaien, die Egypter, die Nubier, welche Muselmänner geworden, sind keine Berbern, keine Afghanen, keine Egypter u. s. w. mehr, es sind Muselmänner.“ (ebd.)
Dabei gibt es eine Ausnahme. Renan lernte im Jahr vor seiner Rede von 1883 den muslimischen und aus Persien stammenden Gelehrten Jamāl al-Dīn al-Afghānī kennen und schätzen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund erfand er eine Ausnahme der alles gleichmachenden Islamisierung: „Persien allein macht eine Ausnahme, es hat seinen eigenen Genius sich zu erhalten gewusst; denn Persien hat innerhalb des Islam sich seinen besondern Platz gewahrt, es ist im Grunde viel mehr schiitisch als muselmännisch.“ (ebd.) Al-Afghānī antwortete Renan öffentlich. Neben viel Zustimmung zu Renan hob er unter anderem die Verfolgung des freien Gebrauchs der Vernunft sowohl im Islam als auch im Christentum hervor und begründete so die Möglichkeit, dass es Hoffnung für die „muselmännische Gesellschaft“ gäbe, „ihre Fesseln zu brechen und entschlossen auf der Bahn der Civilisation fortzuschreiten nach dem Beispiel der abendländischen Gesellschaft“ (al-Afghānī 1883). Renan stellte in seiner Replik daraufhin noch mal seine Bewunderung für al-Afghānī heraus; und hier begründet er auch die vermeintliche Ausnahmestellung der persischen Muslime. Der Grund für die Ausnahmestellung al-Afghānīs sei, dass er „jenen kräftigen Rassen des oberen, an Indien grenzenden Iran an[gehöre], in denen der arische Geist noch so energisch unter der dünnen Hülle des officiellen Islam fortlebt“ (Renan 1883b). Für Renan ist al-Afghānī „selber der beste Beweis jenes großen Axioms, das wir so oft proklamirt haben – nämlich dass Religionen das werth sind, was die Rassen werth sind, die sich zu ihnen bekennen“ (ebd.). Birgit Schäbler meint in ihrer Analyse hier den Kern von Renans Denken gefunden zu haben. Letztlich, so Schäbler, basiert Renans Denken doch wieder auf der Kategorie der ‚Rasse‘. „Die ‚Rasse‘ kann Europa nicht erklären, aber sie erklärt den Orient. In Europa versucht Renan Religion und Wissenschaft miteinander zu verbinden, für den Orient schließt er dies kategorisch aus.“ (Schäbler 2007).
So sehr ich mich prinzipiell dieser Einschätzung anschließe, dass ‚ethnisch‘, ‚rassisch‘ usw. in kolonialen und heute vorherrschenden neokolonialen Denkmustern immer nur die anderen sind, so wenig teile ich ihre Problemanalyse. In ihrer Analyse erscheint der Befund wie die Entdeckung eines Geheimnisses; in Wirklichkeit denke er doch in der Kategorie der ‚Rasse‘, auch wenn er anderes behauptet. Damit wiederholt sie meiner Meinung nach eine Geste der liberalen Rassismuskritik, die Rassismus nur dann als problematisch oder überhaupt als solchen ansieht, wenn darin ein Bezug zu biologistisch verstandenen ‚Rassen‘ enthalten ist. Ich sehe in diesen Ausführungen vielmehr ein Symptom von der Konstruktionsweise des Volkes, das immer als Assemblage, im Ensemble, mit Bezugnahmen, Adaptionen, Andeutungen und Querverweisen zu anderen Elementen der Konstruktion arbeitet. So gilt Renan beispielsweise auch als ‚Erfinder‘ der binären Opposition von Semiten und Ariern; trotz vieler Bezüge dieser Kategorien zu biologischen Rassen, stellte er doch immer wieder klar, dass diese Unterscheidung rein philologische und keine physiognomischen Bezüge habe (Simon-Nahum 2008).
Die Dominante in Renans Konstruktion der Nationen stellt jedoch aus meiner Sicht der Bezug zu Fortschritt und Freiheit vor dem Hintergrund des Widerspruchs von ‚Abendland‘ und ‚Orient‘ dar. Für ihn ist die Wissenschaft die „die Seele einer Gesellschaft; denn die Wissenschaft ist die Vernunft“ (Renan 1883a). Der Islam repräsentiert für ihn die Anti-Wissenschaft. Das, was oft als arabische Wissenschaft bezeichnet worden sei, sei in Wirklichkeit von anderen Völkern innerhalb muslimisch beeinflussten Territorien hervorgebracht. Hier zeigt sich die orientalistische Bewegung, die ständig – in einer Art systematischen Unschärfe – zwischen Muslim_innen und Araber_innen flottiert. Am Ende seiner Rede proklamiert er das ihm zufolge notwendige und zu erhoffende Ende des Islams. Die Wissenschaftsfeindlichkeit des Islams wird nach Renan zur weiteren „militärischen und gewerblichen Überlegenheit“ (ebd.) des ‚Westens‘ beitragen. Diese Entwicklung denkt er in Bildern der militärischer Eroberungen:
„Das Wissen stellt die Kraft in den Dienst der Vernunft. Es gibt in Asien Elemente der Barbarei, denjenigen ähnlich, welche die ersten muselmännischen Heere und jene grossen Völkerstürme eines Attila oder Dschingis-Khan erzeugten. Die Wissenschaft versperrt ihnen den Weg. Wenn Omar, wenn Dschingis-Khan auf eine gute Artillerie gestossen wären, so hätten sie den Saum ihrer Wüste gewiss nicht überschritten.“ (ebd.)
Dieses militärische Vorgehen gegen den Islam bzw. die Unvernunft oder die Barbarei stellt er in einen breiteren Kontext des kolonialen Projektes der zivilisatorischen Mission:
„Man muss sich bei momentanen Verirrungen nicht aufhalten. Was ist nicht bei ihrem ersten Auftreten gegen die Schusswaffen gesagt worden? Und doch haben sie Vieles zum Siege der Civilisation beigetragen. Was mich betrifft, ich habe die Ueberzeugung, dass die Wissenschaft gut ist, dass sie allein Waffen gegen das Böse liefert, welches man mit ihnen vollbringen kann, dass die Wissenschaft nur dem Fortschritt dient, ich habe hier den wahren Fortschritt im Auge, denjenigen, der unzertrennlich ist von der Menschenliebe und der Freiheit.“ (ebd.)
Hier ließen sich Parallelen zu diskursiven Legitimationsfiguren aktueller Kriege ziehen. Mein Fokus liegt aber an dieser Stelle auf etwas anderem.
Laut Renan hat es im Islam niemals eine „schöne wissenschaftliche Bewegung gegeben“ (ebd.). Vielmehr habe der Islam „in der That die exakte Wissenschaft, und die Philosophie stets verfolgt; er hat sie schliesslich erstickt“ (ebd.). Aus dieser grundsätzlichen Unvereinbarkeit zwischen Islam und Wissenschaft – Wissenschaft kann hier als Platzhalter für eurozentrisch verstandene Begriffe wie Moderne, Freiheit, Humanität, Vernunft usw. gelesen werden – wird einerseits der Islam abgewertet und andererseits auch das ‚Abendland‘ als Entität und Identität konstruiert. Edward Said hat in seiner Studie zum Orientalismus gezeigt, wie die Wissenschaftsdisziplin des Orientalismus seit dem 19. Jahrhundert im Allgemeinen und Ernest Renan als einer seiner entscheidenden Vertreter im Besonderen den ‚Orient‘ erschaffen, ihn orientalisiert, haben (Said 1978). Said zeigt, wie die diskursive Struktur des Orientalismus eine Realität hervorbringt, die konstitutiver Bestandteil des kolonialen und imperialen Projekts Europas ist und weit über die Wissenschaft hinaus hegemonial geworden ist. Der ‚Orient‘ fungiert in diesem Dispositiv als das Andere ‚Europas‘, des ‚Westens‘ und – was hier gleichgesetzt wird – der ‚Moderne‘. Das Konstrukt des ‚Orients‘ wird so konstitutiv für die Identität der kolonisierenden Nationen. In politikwissenschaftlichen Diskurs findet dies wohl am augenscheinlichsten Ausdruck in Werken, wie Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1918), Samuel Huntingtons Clash of Civilizations (1992/1996) oder Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab (2010). Während in vielen ehemals kolonisierten Ländern andere Bezugspunkte gewählt werden oder Momente des Orientalismus auf eine andere Weise angeeignet werden – man denke beispielsweise an das Modernisierungsimperativ des nation-building-Prozesses in Indien – ist im sogenannten ‚Westen‘ orientalistische Ideologie in zahllosen gesellschaftlichen Feldern virulent – und spielt eben auch eine zentrale Rolle für die Konstruktion nationaler Identitäten.
Auch wenn das Land des ‚Abendlandes‘ nicht auf das Territorium eines Nationalstaates beschränkt ist, ist es doch konstitutiver Bestandteil nationaler Identitätskonstruktionen. Das Erbe, das für Renan die Grundlage der Nationsbildung darstellt, ist eng mit der binären Opposition des ‚Orients‘ und des ‚Okzidents‘ verbunden. Dieses Erbe konstruiert Renan als ein eindeutig christliches (sprich: nicht-muslimisches). Allerdings stehen sich hier nicht einfach Christentum und Islam gegenüber. Das Erbe ist nicht einfach ein christliches, sondern es ist die ‚Moderne‘ selbst, die sich ausgehend von christlichen Wurzeln säkularisiert habe. Diese Konstruktion des Prozesses der Säkularisierung vom Christentum – also eine christliche bzw. christlich-jüdische Säkularisierung – ist die Figur, auf die sich dieses Erbe bezieht. Heutzutage ist es in Deutschland en vogue nicht mehr nur von der christlichen Tradition, sondern immer wieder auch von der christlich-jüdischen Tradition zu sprechen. Zu Recht wurde die Vereinnahmung der jüdischen Tradition problematisiert, in deren Zuge die gewaltvolle und mörderische Geschichte des Antisemitismus dethematisiert und instrumentalisiert wurde (Czollek 2018). Doch unabhängig davon, ob das ideologische Konstrukt des ‚Abendland‘ nun mit seinen christlichen oder christlich-jüdischen Wurzeln als „Grundlage unseres Zusammenlebens“ (Rößler 2016) charakterisiert wird, wie es exemplarisch in einem Strategiepapier der CDU/CSU von 2016 heißt, wird hier die okzidentalistische Figur der Wertegemeinschaft geschaffen. Diese Figur der – gleichzeitig transnationalen und nationalisierenden – Wertegemeinschaft ist konstitutiver Bestandteil der je spezifischen nationalen Identitätskonstruktion und fungiert als entscheidender Baustein auf dem Feld der Auseinandersetzungen um die Frage der (Nicht-)Zugehörigkeit.
Diese Wertegemeinschaft zeichnet sich durch etwas Doppeltes aus: Die beschworene Wertegemeinschaft ist säkular und (post-)christlich bzw. ‚christlich-jüdisch‘ zugleich. Mit dieser Wertgemeinschaft wird auf den Rechtsstaat, das Grundgesetz, die freiheitlichen Werte, die Meinungsfreiheit, die Gleichstellung der Geschlechter usw. rekurriert und gleichzeitig zu verstehen gegeben, wessen Erbe diese Merkmale der Demokratie zugehören. Es findet hier eine spezifische Aneignung des Erbes der Menschenrechte, der Demokratie etc. statt; im eurozentrischen Diskurs erscheint dieses Erbe als ein ‚westliches‘ (
4.2.2.4). Diese Aneignung ist aus zahlreichen Gründen problematisch. Sie ist nicht nur historisch falsch und unterschlägt die Verwobenheit mit transnationalen Prozessen und Kämpfen in der Geschichte der Entwicklung von Demokratie. Diese Aneignung ist zentraler Bestandteil des kolonialen und neokolonialen Gestus der ‚zivilisatorischen Mission‘, die meint, dieses Erbe auf quasi pädagogische und paternalistische Weis exportieren zu müssen. Die vermeintlich christliche bzw. jüdisch-christliche Säkularität bringt die/den diese Perspektive Repräsentierende in die Position über den Dingen zu stehen, also vermeintlich objektiv zu sein, im Gegensatz zum Rest der Welt also keine Wurzeln zu haben bzw. nicht durch diese in der Perspektive eingeschränkt zu sein. Das Gegenbild der Wertegemeinschaft ist notwendiger Bestandteil dieser ideologischen Konstruktion, also der Vernunft vs. Unvernunft, Universalität vs. Partikularität usw. Schließlich basiert diese Konstruktion ja nicht darauf, dass es tatsächlich demokratische, menschenrechtlich angemessene, auf Gleichheit basierende, ‚moderne‘ usw. gesellschaftliche Zustände und Ideen in den Nationen des Globalen Nordens gäbe. Dies wird wohl am deutlichsten – um es durch ein Bild unter vielen zu veranschaulichen – in dem Umstand, dass beispielsweise in Deutschland selbst die konservativsten gesellschaftlichen Gruppierungen bis über die CSU hinaus, die als Bewahrerinnen patriarchaler und heteronormativer und patriarchaler Ordnung bezeichnet werden können, plötzlich zu Vorkämpferinnen geschlechtlicher Gleichstellung werden – zumindest wenn es dabei um die Beschwörung der nationalen Wertegemeinschaft und die Abwertung des Anderen, des Islam, geht.
In Gesellschaften des globalen Nordens bietet diese Konstruktion des Erbes und der dazugehörigen Wertegemeinschaft die Grundlage für die Konstruktion von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Vor diesem Hintergrund sind beispielsweise die Diskurse rund um die sogenannte ‚Flüchtlingskrise‘ – richtiger wäre wohl von Rassismus- oder Nationenkrise zu sprechen – zu sehen. Die vielbeschworene Angst vor ‚Überfremdung‘, vor einem Verlust der nationalen Identität oder vor der Unmöglichkeit der ‚Integration‘ der ‚Fremden‘ basiert auf dem Denken in ‚Kulturkreisen‘ – eingewanderte Spanier_innen wären mit gänzlich anderen Diskursen konfrontiert. Die Konstruktion der Wertegemeinschaft als Ursprung und Träger der ‚Moderne‘, der ‚Demokratie‘, der ‚Humanität‘ usw. basiert also auf dem orientalistischen und kolonialem Ideologem des ‚Orients‘. Wobei der ‚Orient‘ hier als Platzhalter fungiert – die Herstellung der ‚abendländischen‘ Wertegemeinschaft funktioniert oft auch in der Gegenüberstellung zu anderen vermeintlichen ‚Kulturkreisen‘, wie beispielsweise das subsaharische Afrika oder Südosteuropa. Allerdings nimmt der antimuslimische Rassismus (Attia 2009) in den letzten Jahren eine zentrale Stellung im Imaginären dieser Wertegemeinschaft ein, weswegen an dieser Stelle Renan und der Orientalismus als Zugang gewählt wurde.
4.2.3.3.5 Sieyès: Nation als Leistungsgemeinschaft
Emmanuel Joseph Sieyès (1748–1836) war eine entscheidende Figur im Vorlauf und Nachgang der Französischen Revolution. Im Januar 1789, ein halbes Jahr vor dem Sturm auf die Bastille, veröffentlicht Emmanuel Sieyès seine berühmte Flugschrift
Qu’est-ce que le tiers-état ? (Was ist der Dritte Stand?). Ausgehend von diesem Text werde ich sein Nationsverständnis rekonstruieren und in damit zusammenhängende konkurrierende oder daraus folgende Nationsverständnisse einbetten. Für die Kontextualisierung werde ich mich insbesondere auf
In Verteidigung der Gesellschaft (1976) von Michel Foucault beziehen. Sieyès argumentiert in seiner Flugschrift für die Abschaffung der aristokratischen Privilegien und die Etablierung einer bürgerlichen Ordnung. Die Privilegien verurteilt er: „Wir sind nicht frei durch die Privilegien, sondern durch die Bürgerrechte, Rechte die allen gehören.“
16 (Sieyès 1789: 43).
Mit seinem Begriff von Freiheit und Gleichheit stellt er sich in die Tradition, die als die liberale, vertragstheoretische Tradition bezeichnet werden könnte. Diese entwickelt sich ausgehend vom Denken von Hobbes, dessen Kernelemente Naturrecht und Vertragstheorie sind. In dieser Tradition wird ein Naturzustand konstruiert, in dem der Wilde als koloniale Figur konstruiert wird und entweder schlechte (Hobbes) oder gute, im Sinne von unschuldig (Rousseau), Eigenschaften verkörpert. Die koloniale Imagination des Wilden ist als Antipode zu den Subjekten der kolonisierenden Gesellschaften ein konstitutives Element zur Entwicklung der Begriffe Geschichte, Fortschritt, Vernunft etc., wie beispielsweise Gayatri Spivak anhand von Kant und Hegel nachweist (Spivak 1999: 6). Die Gesellschaft muss dann diesen Zustand des Chaos bändigen bzw. die Gesellschaft entsteht durch die Einhegung der Wildheit. Dies geschieht durch den Vertrag, durch die fiktive Zustimmung aller unter die Souveränität des Staates. Bei Hobbes wird die Souveränität durch den Leviathan und bei Rousseau durch den allgemeinen Willen (volonté générale) verkörpert. An der Imagination des ‚Wilden‘ werden bereits die Eigenschaften herausgearbeitet, die der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegen (sollen), wie nicht zuletzt Eigensinn statt Gemeinschaftlichkeit, Privateigentum statt Allmende und Tausch statt Kooperation. Sieyès nimmt durchaus Elemente dieser Tradition auf. Im Zentrum seines Nationsverständnis, das auf dieser Form der Gleichheit basiert, steht jedoch aus meiner Sicht etwas anderes. In Sieyès Diskurs zeichnet sich ein organischer Begriff von Gesellschaft ab, der die ‚wahre‘ Nation, ihre Substanz, in den gesellschaftlichen Leistungsträgern sieht, denen die der Gesellschaft unnützen Teile entgegenstehen.
Den ersten Teil seiner Flugschrift strukturiert er nach drei Fragen: „1. Was ist der Dritte Stand? ALLES. 2. Was ist der Dritte Stand bis jetzt in der politischen Ordnung gewesen? NICHTS. Was verlangt er? ETWAS ZU SEIN.“:
17 (ebd.: 31 f.) Für Sieyès kann die französische Nation nur der Dritte Stand sein, denn nur er stellt eine „vollständige Nation“
18 (ebd.: 37) dar. Der Dritte Stand ist also die Nation, während er in der politischen Ordnung keine Repräsentation erfährt. Die Aufhebung dieses Missverhältnisses ist dann das Programm der bürgerlichen Revolution. Doch was ist diese Nation, die er hier heraufbeschwört eigentlich? Wie ist ihr Verhältnis zum Staat zu denken?
Das Narrativ der Erzählung der Ursprünge
Zur Beantwortung dieser Fragen möchte ich kurz im Anschluss an Foucault auf die verschiedenen zu jener Zeit kursierenden Nations- und Staatsverständnisse Bezug nehmen. Foucault zeichnet nach, wie seit der Renaissance ein Staatsbegriff und eine Form der Herrschaftslegitimation dominant war, die ich als monarchisches Narrativ bezeichnen will. Dieses zeichnete sich durch eine „Erzählung von den Ursprüngen“ (Foucault 1976b: 139) und einer um den König zentrierten Form staatlicher Souveränität aus. Das monarchische Narrativ war keinesfalls einheitlich; die Machtkämpfe wurden innerhalb der Form der Erzählung der Ursprünge ausgetragen. Eine Erzählung war beispielsweise, Frankreich bzw. die Franken seien ein Nachfahre Roms, da beide Flüchtlinge aus Troja seien. Als Nachfahre Roms konnte die Monarchie im Frankreich der Renaissance das imperialen Erbe Roms für sich reklamieren. Das französische Königshaus begründete so den eigenen, universalen Machtanspruch, insbesondere gegenüber den Habsburger Monarchien und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen. Gleichzeitig wird mit der Bezugnahme auf das römische Imperium die Position des Königs gegenüber seinen Untertanen gesichert und in Form der kaiserlichen Souveränität legitimiert. Das römische Gallien, das die Vorfahren Frankreichs als koloniale Untertanen eines Reichs erscheinen lassen würde, musste zur Sicherung des imperialen Anspruchs unbedingt aus der Geschichte ausgespart bleiben; ebenso wie die Invasionen der Franken. Dies führte zu der paradoxen Situation, dass die Geschichtsschreibung zwar das Erbe Roms konstituieren musste, das Verhältnis Frankreichs zum historischen Rom aber nicht vorkommen durfte. Vor diesem Hintergrund wurde das Verhältnis der legitimen Erbschaft Roms komplexer konstruiert als in der Form der Nachkommenschaft. Frankreich wurde nicht als Nachfahre konstruiert, sondern vielmehr hatten Frankreich und Rom als Flüchtlinge Trojas den gleichen Ursprung. Frankreich beerbte Rom also nicht als Kind, sondern hatte als „Schwester oder Cousine Roms“ (ebd.: 141) gleiche Rechte wie Rom selbst, stammte also nicht von der universellen Monarchie ab, sondern ist von jeher schon selber eine Monarchie mit dem Anspruch einer universellen Monarchie gewesen.
Es gab jedoch auch andere, konkurrierende Erzählungen der Ursprünge, die auf je spezifische Weise darauf zielen, ein Recht auf Macht zu fundieren. Ein Beispiel unter vielen wäre François Hotman. Mit seinem Werk Franco-Gallia von 1573 führte er Elemente der germanischen Erzählung in Frankreich ein. Er behauptete, dass die Franken, die seinerzeit in Gallien eingefallen sind und eine neue Monarchie gegründet haben, keine Trojaner, sondern Germanen gewesen seien, die die Römer besiegt und verjagt hätten. Der entscheidende Unterschied zur germanischen Erzählung ist aber, dass die Franken nicht die Gallier, sondern die Römer besiegt hätten. Hotman erklärte die Franken und die Gallier so historisch zu einem „Brudervolk“ (ebd.: 146). Das historische Rom steht in seinem Diskurs stellvertretend für den zeitgenössischen Absolutismus und das zeitgenössische päpstliche Rom mit seinem Klerus, deren erklärter Feind Hotman ist. Er verfolgt mit dieser spezifischen Erzählung der Ursprünge, die eine „germanisch-französische, fränkisch-gallische Einheit“ (ebd.) begründen soll, mindestens zwei Ziele: (1) Er will die absolute Macht des Monarchen begrenzen, indem er ein Modell der Vergangenheit zeichnet, das bei den Germanen eine wechselseitige Verpflichtung zwischen König und Volk festgeschrieben habe. Der König sei in der germanischen Geschichte nicht durch Abstammung bestimmt, sondern gewählt worden. Wie viele protestantischen Zirkel zu jener Zeit fordert er eine konstitutionelle Monarchie. (2) Der Calvinist Hotman plädiert für Religionsfreiheit und das Ende der Protestant_innenverfolgung in Frankreich. Der aus Rom stammende Katholizismus sei aufoktroyiert und die „brüderlichen und befreienden Germanen“ stehen für die „reformierte Religion jenseits des Rheins“ (ebd.: 147). Diese germanische These wurde schnell auch in katholischen Kreisen übernommen und war bis ins 17. Jahrhundert sehr einflussreich.
Seit Ende des ersten Drittels des 17. Jahrhunderts versuchte die absolute Monarchie – verkörpert durch Ludwig XIV. und Kardinal Richelieu – die These des germanischen Ursprungs Frankreichs auszuschalten, da sie zum realen Problem für die Ausübung der innenpolitischen Macht und auch für die europäische Außenpolitik geworden war. Zum einen wurde der trojanische Mythos wieder verstärkt in Umlauf gebracht. Zum anderen kam aber hier ein grundlegend neues Muster auf, das Foucault als „Gallo-Zentrismus“ (ebd.: 148) bezeichnet. Hier nähern wir uns dem in unserer Gegenwart präsenten, ideologischen Bild des gallischen Dorfes von Asterix
19. Die Gallier, die Hotman als wichtige Partner in der Vorgeschichte der französischen Monarchie erschienen ließ, waren passiv; sie waren besiegt, besetzt und von außen befreit worden. Ab dem 17. Jahrhundert wurden diese Gallier jedoch zum führenden Prinzip der Geschichte. In vielen historischen Diskursen jener Zeit wird das Verhältnis umgekehrt und die Gallier werden zum „Motor“ (ebd.) der Geschichte und Ursprung der europäischen Nationen. Ein Narrativ einiger Historiker besagte beispielsweise, dass die Gallier „die Väter aller Völker Europas“ (ebd.) waren.
Der gallische König Ambigate habe das Problem der Überbevölkerung so gelöst, dass er einen seiner Neffen nach Italien und einen anderen nach Germanien schickte. So seien auch die Franken, die im 4. und 5. Jahrhundert in Gallien einfielen, nur die Nachkommen jenes „ursprünglichen Galliens“ (ebd.: 149) gewesen. Ihnen ging es allerdings keinesfalls darum, Gallien und ihre besiegten Brüder zu befreien, sondern die Sehnsucht in der eigentlichen Heimat von der „einst blühenden gallo-römischen Zivilisation zu profitieren“ (ebd.). Zwar mussten sich die Franken bei ihrer Rückkehr nach Gallien schlagen, allerdings nicht mit den Galliern und noch nicht mal mit den Römern, sondern mit den Burgunden und den Goten, die als Arianer ketzerisch gewesen seien, sowie mit den ‚ungläubigen‘ Sarazenen. Das in Gallien eingepflanzte römische Recht wurde durch die (gallischen) Franken allerdings keineswegs ins Wanken gebracht, sondern vielmehr übernommen. Hier wurde der Mythos der autochthonen gallischen Bevölkerung geschaffen oder zumindest maßgeblich bestärkt. Dieser Mythos diente auch zur Bestärkung jener vermeintlich natürlichen, von Cäsar beschriebenen Grenzen Galliens, deren Legitimation wichtiger Teil der Außenpolitik Richelieus und Ludwigs XIV. waren. Es diente aber auch dazu, die Einheit Frankreichs und die absolute Macht des Königs zu bestärken. In dieser Erzählung hatten die Krieger, die gegen die Burgunden, Goten und Sarazenen gekämpft hatten, vom König Lehensherrschaften zugeschrieben bekommen. Das Vorrecht der Aristokratie konnte also nicht aus irgendwelchen „fundamentalen und archaischen Rechten“ (ebd.: 150) des Adels hergeleitet werden, sondern entsprang bereits dem Willen des Königs, dessen Macht und Absolutismus der Organisation des Feudalismus selbst vorgängig erscheinen sollte – schließlich ging es in jener Zeit darum, dem Zentralstaat mehr Macht zu verleihen und den Absolutismus auszubauen.
Das Narrativ der rassisch-nationalen Kräfte
In dieser Zeit wird laut Foucault ein Diskurs entstehen, der mit anderen Operatoren verfährt. In meinen Worten: Das monarchische Narrativ wird vom Narrativ rassisch-nationaler Kräfte herausgefordert. Bislang war es ein Rekurs auf die Geschichte gewesen, in dem Fragen des Ursprungs und der Invasionen die Legitimität der absoluten Monarchie begründet haben oder aber eine andere Form der Monarchie erstritten werden sollte. Aus der Geschichte des Ursprungs und der Invasionen ergaben sich die Prinzipien des öffentlichen Rechts der absolutistischen Monarchie; aus ihnen wurden die Rechte und Grenzen der königlichen Macht, die Rolle der Versammlungen und Räte des Königs, die Rechte des Adels gegenüber dem König und das Verhältnis der Monarchie und der Aristokratie zum Volk abgeleitet. Als Reaktion auf die Einschränkungen der Macht der Aristokratie durch den Absolutismus und das Erstarken der bürgerlichen Klasse wehrte sich die Aristokratie und erschuf ein neues Denken der Nation. Als zentralen Text, der diese diskursive Formation prägte, sieht Foucault den Bericht über den Zustand Frankreichs von Boulainvilliers (1658–1722) an.
Die Entstehungsgeschichte dieses Textes ist interessant. Ludwig der XIV. wies seine Verwalter an, einen umfassenden Bericht über den Zustand Frankreichs anzufertigen, der seinem Nachfolger in spe, dem Herzog von Burgund, die gesamten Kenntnisse über den Staat, die Regierung und das Land vermitteln sollte, die nötig sein werden, um zu regieren. Nachdem die Verwaltung diese Berichte erstellt und vereinheitlicht hat, beauftragt das Umfeld des Herzogs von Burgund Boulainvilliers, den sehr umfangreichen Bericht zu kürzen, zu erläutern und ihn zu interpretieren. Dieses Umfeld setzte sich insbesondere aus Adligen zusammen, die der Regierung Ludwigs XIV. vorwarfen, ihre ökonomische Potenz und politische Macht beschnitten zu haben. Boulainvilliers führte dieses Unterfangen durch, redigierte, interpretierte, systematisierte; und er fügte auch einen Diskurs als notwendige Ergänzung zu dieser riesigen administrativen Arbeit der Beschreibung und Analyse des Staates hinzu (ebd.: 155). In diesem Diskurs schreibt Boulainvilliers die Geschichte der Regierungen Frankreichs, ausgehend von Hugo dem Karpetinger im 7. Jahrhundert. In dieser Geschichte werden Thesen stark gemacht, die für den Adel günstig sind. Kritisiert wird die Käuflichkeit der Ämter, die für den verarmten Adel nachteilig ist; Boulainvilliers protestiert gegen die Enthebung des Rechts des Adels auf die Rechtsprechung und dem damit verbundenen Verlust an Vorteilen; er reklamiert einen rechtlich gesicherten Platz des Adels im Rat des Königs; er kritisiert die Rolle der Verwalter in der Provinzverwaltung.
Nach Foucault geht es Boulainvilliers in seinem Text und seiner Rekodierung der Beziehungen des Königs aber vor allem darum, dass das dem König und später dem Prinzen verliehene Wissen ein von der Verwaltungsmaschinerie bereitgestelltes Wissen ist. Diese Wissensform kann als der Hauptgrund des Machtverlustes des Adels gesehen werden. Es ging darum, welche Rolle und welche Beziehungen der König hat. Das Verwaltungswissen ist ein Wissen des Staates über den Staat. Boulainvilliers stellt die Frage danach, ob das Wissen des Königs über sein Königreich und seine Untertanen identisch mit dem Wissen des Staates über den Staat sein sollte. Der König und der Staat würden so eine Einheit, ein Körper. Foucault fasst diese Einheit so zusammen: „Die Verwaltung erlaubt dem König, über sein Land in grenzenloser Willkür zu herrschen. Umgekehrt regiert die Verwaltung über den König dank der Qualität und Art des Wissens, welches sie ihm auferlegt.“ (ebd.: 157) Der juridische und der administrative Apparat des Absolutismus hatte die Verminderung des Reichtums und der politischen Macht des Adels hervorgebracht.
Die adlige Reaktion wollte diesen Macht-Wissen-Komplex brechen und ein Verhältnis des Königs zum Adel etablieren, das auf der wechselseitigen Verpflichtung zwischen König und Adel basierte. Dafür erfand die adlige Reaktion eine neue Art Geschichte zu erzählen. Bis dahin war die Geschichte nicht nur einfach die Geschichte gewesen, die sich die Macht über sich selbst erzählte bzw. erzählen ließ. „Es war die Geschichte der Macht durch die Macht.“ (ebd.: 162) Foucault zufolge löst sich in diesem neuen Diskurs das „Zusammenspiel der historischen Erzählung mit der Ausübung der Macht, ihrer rituellen Bestätigung und ihrer imaginierten Formulierung des öffentlichen Rechts auf“ (ebd.). Es entsteht ein neues Subjekt, das spricht:
„Jemand anderer übernimmt das Wort in der Geschichte und wird die Geschichte erzählen, jemand anders wird ‚ich‘ und ‚wir‘ sagen, wenn er die Geschichte erzählt; jemand anderer wird die Erzählung seiner eigenen Geschichte liefern; jemand anderer wird die Vergangenheit, die Ereignisse, die rechte, Ungerechtigkeiten, Niederlagen und Siege um sich und sein eigenes Schicksal herum gruppieren.“ (ebd.: 163)
Dieses andere Subjekt ist das, „was im Vokabular der Epoche mit dem Wort ‚Nation‘ bezeichnet wird“ (ebd.). Die Nation lässt sich zu jener Zeit nicht durch ein „abgestecktes Territorium, eine bestimmte politische Morphologie oder ein System der Unterwerfung unter ein beliebiges Imperium“ (ebd.) charakterisieren. Die Nation zu jener Zeit ist „grenzenlos“, hat „kein bestimmtes Machtsystem“. Die Nation ist für Boulainvilliers „staatenlos“ (ebd.).
„Die Nation zirkuliert hinter den Grenzen und Institutionen oder vielmehr ‚die‘ Nationen, die Gesamtheiten, Gesellschaften, Gruppierungen der Leute, Personen, Individuen, die ein Statut, Sitten, Bräuche, ein bestimmtes Gesetz gemeinsam haben – Gesetz, verstanden freilich eher im Sinne von statutenhafter Regelhaftigkeit als von staatlichem Gesetz.“ (ebd.: 164)
Staatenlos bedeutet dabei nicht, keine Beziehung zum Staat zu haben. Allerdings macht sich eine Nation nicht durch den Staat aus, sondern ringt unterhalb des Staates um die Macht im selbigen. Die in der Geschichte ausgemachten Wendepunkte werden sich auf einer „Ebene weit unterhalb des Staates ereignen, das Recht durchziehen und zugleich älter und tiefer […] als die Institutionen“ (ebd.: 163) erscheinen. Der Adel, das Volk, die Monarchie werden als Akteure in der Form von Kräften imaginiert, die Motor der Geschichte sind. „Der Adel ist eine Nation neben anderen Nationen, die alle im Staat zirkulieren und gegeneinander antreten.“ (ebd.: 164).
Boulainvilliers definierte dabei die Adligen als Français (Franken); als eine Nation, die den Galliern bzw. dem Dritten Stand gegenübersteht. Die Franken seien jedoch die zu Recht überlegenen, deren Entmachtung und Einschränkung ihrer Privilegien dementsprechend unrechtmäßig ist. Ihr Vorrecht gründet sich auf der Invasion Galliens und der Unterwerfung der Gallier_innen. Allerdings habe – und dieses Argument richtet sich auch insbesondere gegen den Absolutismus – auch vorher kein arkadisches Gallien bestanden, da die Römer die gallische Kriegerkaste ausgemerzt und durch einen falschen Verwaltungsadel und eine Söldnerarmee ersetzt hätten. Wenn sich nun der Absolutismus auf eine römische Tradition bezieht, erhebt er damit keinen „grundlegenden und entscheidenden Anspruch auf das Land Gallien“ (ebd.: 175), sondern steht mit der Politik der römischen Gleichmacherei und despotischen Herrschaft in einer wenig ehrenwerten Tradition der Unterdrückung. Die Franken seien freiheitsliebende Barbaren, blonde, nordische Barbaren, die aufgrund ihres Willens zur Macht den anderen überlegen seien.
Mit dem neuen Subjekt der Nation, um das herum sich die Geschichte spinnt, einem „in der Geschichte sprechenden und in der Geschichte besprochenen Subjekt“ (ebd.: 164), wird Geschichte nicht mehr als die „ruhmreiche Geschichte der Macht“ erzählt werden; es wird um die „Geschichte ihrer Untergründe, ihrer Boshaftigkeiten, ihrer Verrätereien“ (ebd.) gehen. Die Themen, die diese Geschichte bestimmen, sind die „dunklen Prozesse auf der Ebene von Gruppen, die unterhalb des Staates quer durch die Gesetze hindurch aufeinandertreffen“ (ebd.). Boulainvilliers beschreibt die Machtphänomene in der Geschichte nicht in den rechtlichen Begriffen der Souveränität, sondern in den „historischen Begriffen der Herrschaft und des Spiels zwischen Kräfteverhältnissen“ (ebd.: 201). Auch beispielsweise Machiavelli hatte Kräfteverhältnisse in seine Hinweise für den Fürsten beachtet. Boulainvilliers erhebt das Denken in Kräfteverhältnissen, „was bis dahin Rationalitätsprinzip der Staatslenkung“, gewesen war, zum „Erkenntnisprinzip der Geschichte“ (ebd.: 203). Für Boulainvilliers wird das „Kräfteverhältnis und das Machtspiel die Substanz der Geschichte selbst“ (ebd.: 202). Indem er das Rationalitätsmodell der Staatsführung als spekulatives Erkenntnisraster der Geschichte konstituiert, erschafft er ein „historisch-politisches Kontinuum“ (ebd.: 203).
Boulainvilliers schafft damit ein Analyseraster für die Gegenwart, das den Krieg verfeindeter Gruppen als die geheime „Substruktur des Staates“ (ebd.: 154) zum Grundmuster macht. Der Krieg ist im Denken Boulainvilliers nicht mehr Ausnahme, sondern der grundlegende Zustand von Gesellschaft. Die politische Macht – die Besetzung der Staatsmacht – wird als „Werkzeug, als Gewinnler, als destabilisierendes und parteiisches Element“ (ebd.) in diesem Krieg betrachtet. Damit wird die in den vorhergehenden Diskursen implizit immer vorhandene und als vollkommen selbstverständlich erscheinende These der Homogenität des Gesellschaftskörpers zerlegt. In den vorhergehenden Erzählungen der Macht durch die Macht, aber auch in oppositionellen Schriften, wie beispielsweise von Hotman, wurde zwar die Macht aufgrund der Geschichte von Erbfolge, Invasionen und ähnlichem legitimiert oder delegitimiert. Allerdings war es unvorstellbar, dass eine „Dualität – der Rasse, des Ursprungs, der Nation – die Monarchie spalten“ (ebd.: 144) könnte, das also der Gesellschaftskörper der Monarchie von historischen und versteckten Kräften durchzogen wird, die eigentlich über seine Zukunft entscheiden. Die Monarchie, die alle Untertanen in eine Beziehung zum König setzte und eine Einheitsreligion propagierte, funktionierte nach dem „Prinzip ‚ein Glaube, ein Gesetz, ein König‘“ (ebd.); und selbst bei Hotman kratzt die Forderung nach der Existenz zweier Religionen im Körper eines einzigen Staates nicht die Vorstellung der Einheit des Staates an. „Weder die Bürgerkriege noch die gesellschaftlichen Kämpfe, weder die religiösen Kämpfe der Renaissance noch die Konflikte der Fronde haben das Thema des nationalen Dualismus zur Reflexionsform gehabt oder zum Ausdruck gebracht.“ (ebd.: 154).
Dieser Diskurs der in der Geschichte ringenden nationalen Kräfte und die Theorie der franko-gallischen Dualität wurden sehr schnell in den Kreisen des Adels aufgenommen, weitergesponnen und in Auseinandersetzungen in Stellung gebracht (Franche 2004: 18). Ohne auf die verschiedensten Spielarten dieser Auseinandersetzungen eingehen zu können, soll hier aber nicht unerwähnt bleiben, dass auch die königliche Macht versucht hat, sich diesen Diskurs anzueignen oder ihn zu kontrollieren. So wurden seit den 1760er Jahren Institutionen geschaffen, die dazu beitragen sollten, den historischen Diskurs zu bändigen und in den Dienst der Monarchie zu stellen. Foucault bezeichnet diese verschiedenen Institutionen als „eine Art Ministerium der Geschichte“ (Foucault 1976b: 167). Es stellt den Versuch dar, den Keil des historischen Diskurses mit seinen unterhalb des Staates ringenden Kräfte, der sich in die Einheit von Staat und Macht treibt, wieder in das administrative Wissen einzufügen. Der Versuch der Rekuperation dieses Gegenwissens, der Eingliederung dieser Wissensmatrix in die Selbstlegitimierung des Staates, zeigt umso mehr, dass sich hier ein neuer Diskurstyp durchgesetzt hat, der nicht mehr nur die Geschichte der Macht, der ruhmreichen Eroberungen und Kämpfe verschiedener Königshäuser nachzeichnet, sondern den Kriegszustand der Nationen jenseits und unterhalb des Staates als Grundlage der Gesellschaft begreift.
„Aus dieser Vorstellung, aus diesem Begriff der Nation geht das berühmte revolutionäre Problem der Nation hervor, aus ihr gehen natürlich auch die fundamentalen Begriffe des Nationalismus des 19. Jahrhunderts hervor; aus ihr geht auch der Begriff der Rasse und schließlich der Begriff der Klasse hervor.“ (ebd.: 164)
Mit Boulainvilliers Begriffen der Nation und der Geschichte sind bereits wesentliche Kategorien eingeführt, die bis heute zu den wesentlichen Bestandteilen der rechten Ideologie gehören: Macht wird als eine Auseinandersetzung von Nationen bzw. ‚Rassen‘ gedacht; es gibt einzelnen Nationen zugeschriebene Wesensmerkmale, die deren Über- oder Unterlegenheit begründen; die Differenz der Nationen ist unaufhebbar, ihre Eigenschaften sind Teil ihres Wesens (unabhängig davon, ob sich das Bild der überlegenen Nation stark wandelte); es geht um die Aufdeckung des verborgenen Wissens über den Verrat und den Verlust, mit dem Ziel die ursprüngliche ‚Reinheit‘ und naturalisierte Hierarchie wieder herzustellen.
Die Nation als die Organizität der Bevölkerung
In den Kontext dieser beiden konkurrierenden Logiken der Machtlegitimierung interveniert nun der bürgerliche Diskurs, hier am Beispiel von Sieyès. Sieyès nimmt explizit Bezug auf den reaktionären Diskurs der Aristokratie und wendet den Diskurs des Rassenkrieges polemisch gegen diese selbst: „Warum schicken wir sie nicht zurück in die fränkischen Wälder, alle die Familien, die die wahnsinnige Anmaßung beibehalten, von der Rasse der Eroberer abzustammen und die
Eroberungsrechte geerbt zu haben?“
20 (Sieyès 1789: 44, Herv. i. O.) Auch in Abgrenzung gegenüber den aristokratischen Diskursen des Rassenkrieges macht er sich gleichzeitig auch über das monarchische Narrativ der Ursprünge lustig:
„Aber wenn die Rassen durchmischt sind, wenn das Blut der Franken, die sich nicht länger separieren können, durchmischt mit dem der Gallier fließt, wenn die Vorfahren des Dritten Standes die Väter der ganzen Nation darstellen, können wir erwarten, eines Tages diesen langen Vatermord enden zu sehen, in dem eine Klasse sich mit dessen Ausführung gegenüber allen anderen täglich ehrte?“
21 (Sieyès 1789: 44 f)
Weiterhin voller Polemik fährt er fort: „Die dann gereinigte Nation wird sich über den Verlust hinwegtrösten können, denke ich, nicht mehr in dem Glauben zu sein, sich ausschließlich aus den Nachkommen der Gallier und Römer zusammen zu setzen.“
22 (Sieyès 1789: 44) Explizit weist er in der Folge das Denken der nationalen Dualität bzw. Multipolarität zurück. Für ihn ist eine Trennung der Nationalitäten für die auf dem französischen Territorium wohnenden Menschen aufgrund der Bestimmung der Abstammung und der Ahnen empirisch überhaupt nicht möglich. Er brandmarkt die Ungerechtigkeit, die darin besteht, dass eine Gruppe sich selbst als solche von den anderen abzuheben meint und dann aufgrund eines Rechts durch Eroberung privilegiert zu sein meint. So geht es Sieyès nicht darum, dass nun der Dritte Stand zum Eroberer und also zur neuen Aristokratie werde – auch wenn die Idee einer von den Franken gereinigten Nation in jener Zeit eine durchaus verbreitete Idee darstellte (Franche 2004: 20). Die Ergreifung der Macht durch den Dritten Stand in Abgrenzung zu anderen Nationen, ist allein deswegen unmöglich, da sich der Dritte Stand nicht durch Abstammung oder Erbe definiert, sondern über ihre gesellschaftliche Rolle. So seien die Vorfahren des Dritten Standes die „Väter der ganzen Nation“ (Sieyès 1789: 45).
Sieyès Begriff der Nation ist offensichtlich ein fundamental anderer als der der aristokratischen Reaktion. Unter der Monarchie bildete die Nation keinen Körper, der unabhängig vom König gedacht werden konnte. Die Aristokratie hatte demgegenüber angenommen, dass es mehrere Nationen gäbe, die sich gänzlich unabhängig vom König – und damit dem Staat – konstituieren. Die Nation war hier dem König logisch vorgängig; es war eine Gruppe von Individuen gleichen Blutes, Sitten und/oder gleichen Interessen, die sich einen König gab, um gegen andere Nationen Krieg zu führen bzw. die um die Vorherrschaft innerhalb eines Staates rangen. Bei Sieyès bestimmt sich die Nation wieder durch ein Verhältnis zum Staat bzw. zur Gesellschaft – allerdings auf eine gänzlich andere Weise als in der Monarchie. Sieyès sagt, dass es für eine Nation zwei Dinge braucht: Ein gemeinschaftliches Gesetz und eine gesetzgebende Versammlung, die für alle gelten. Allerdings bleibt er nicht bei dieser formalen Definition stehen; logisch geht diesem Argument die Feststellung der Substanz der Nation voraus. Für Sieyès kann die französische Nation nur der Dritte Stand sein, denn nur er stellt eine „vollständige Nation“
23 (ebd.: 37) dar.
Diese substanzielle Bestimmung der Nation nimmt Fragmente des historisch-politischen Diskurses Boulainvilliers auf, indem sie der Bestimmung der Nation durch den Bezug zum Staat (Monarchie) noch eine Ebene vorlagert. Sieyès unterteilt die substanzielle Bestimmung der Nation in zwei Gruppen: Zum einen basiert die Gesellschaft auf der Arbeit. Unter Arbeit versteht er erstens Landwirtschaft, zweitens Handwerk und Industrie, drittens Handel und viertens die freien Künste. Zum anderen basiert die Gesellschaft auf den Funktionen, womit er die Armee, die Justiz, die Kirche und die Verwaltung meint. Waren vorher die Arbeit und die Funktionen eine Folge der Existenz der Nation gewesen, kehrt er die Logik des Arguments um. Nach Sieyès wird eine Nation erst zu einer solchen, wenn sie zu Landwirtschaft, Handel, etc. in der Lage ist und über Individuen verfügt, die in der Lage sind, eine Arme, eine Kirche, eine Verwaltung, etc. ausbilden. Nicht der Vertrag oder das Gesetz sind Existenzbedingungen der Nation, sondern die historische Existenz macht in der Folge den rechtlichen Zusammenschluss möglich und bildet somit die Substanz der Nation.
Während in der Monarchie das Volk durch seine Unterwerfung unter den König definiert wurde, behauptete der Adel ein partikulares Recht bzw. Vorrecht, das „von Blut getränkt“ (Foucault 1976b: 263) war. Mit Sieyès und der bürgerlichen Revolution wird der Dritte Stand, also diejenigen, die die Gesellschaft mit ihrer Arbeit und ihren Funktionen ausmachen, zur einzig legitimen Nation erklärt, die den Staat führen sollte. Damit ist Sieyès Diskurs zutiefst demokratisch. Er ist quasi eine der Geburtsstunden der ‚modernen‘, bürgerlichen Demokratie selbst. In diesem Sinne heißt es im Artikel 3 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrecht von 1789, die bis heute gültiges Verfassungsrecht in Frankreich darstellt: „Der Ursprung jeder Souveränität ruht letztlich in der Nation. Keine Körperschaften, kein Individuum können eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihr ausgeht.“ Dies ist genau der Gedanke von Sieyès, der dafür eintritt, das Missverhältnis aufzulösen, das zwischen der Nation als Leistungs- und Funktionsträger der Gesellschaft auf der einen Seite und dem Ausschluss von der politischen Macht dieser durch die Privilegierung einer bestimmten Gruppe besteht.
Der Begriff der Nation funktioniert dabei totalisierend und ausschließend zugleich: „Der Dritte Stand umfasst also alles, was zur Nation gehört; und alles, was nicht der Dritte Stand ist, kann sich nicht als Bestandteil der Nation ansehen. Was also ist der Dritte Stand? ALLES.“
24 (ebd.: 41) Das konkrete Andere der Nation ist bei Sieyès die Aristokratie. Im Zuge der Konstruktion dieses konkreten Anderen erscheint jedoch strukturell das abstrakte Andere als alles, was der Nation im Sinne ihrer staatlichen und privatwirtschaftlichen Reproduktion unnütz erscheint. Dies werde ich im Folgenden anhand der Konstruktion des konkreten Anderen bei Sieyès zeigen.
„Es [der Adel] ist in Wahrheit ein Volk [
peuple] für sich, aber ein unechtes Volk, das aufgrund des Mangels an nützlichen Organen nicht durch sich selbst bestehen kann und sich an eine reale Nation anhängt, wie diese pflanzlichen Tumore, die nur mit dem Lebenssaft der Pflanzen leben können, was diese ermüdet und verdörren lässt.“
25 (ebd.: 39)
Hier bemüht Sieyès, wie mehrfach in seiner Flugschrift die biologische Metapher des Parasitentums zur Charakterisierung des Adels. Nützlichkeit scheint hier ein entscheidendes Kriterium für die Zugehörigkeit zu sein:
„Es reicht nicht, gezeigt zu haben, dass die Privilegierten, weit davon entfernt der Nation nützlich zu sein, nichts anderes können als diese zu schwächen [oder auch zu verwässern] und sie zu schädigen ; man muss noch beweisen, dass die Adelsordnung [
l’ordre noble] nicht Teil der sozialen Ordnung ist ; dass sie ebenso eine Belastung für die Nation sein kann, aber dass sie niemals Teil werden kann. Zunächst, es ist nicht möglich, die Adelskaste im Ausmaß aller elementaren Teile einer Nation zu finden oder sie dort zu platzieren. Ich weiß, dass es Individuen sind, die sich durch ihr Gebrechen [auch Behinderung oder Schwäche], ihre Unfähigkeit [auch Invalidität oder Behinderung], einer unheilbaren Faulheit oder des Flusses der schlechten Sitten [moralisch konnotiert] zum größten Teil zu Fremden [Ausländern] der Arbeit der Gesellschaft machen.“
26 (ebd.: 38 f)
Die nicht-nützlichen Teile, die als Nicht-Teil der Nation definiert sind, werden hier nicht nur als nicht zugehörig definiert, sondern auch als Bedrohung der „sozialen Ordnung“ – deutet sich in diesem Begriff die Überlagerung von Nation und Staatsbevölkerung an? –, da sie diese „schwächen“, „schädigen“ oder belasten könne. Auch wenn ich mir in der Konnotation der Begriffe, insbesondere angesichts der 230-jährigen kontextuellen Distanz unsicher bin, scheint in der Rhetorik des Ausschlusses durch die Darstellung ihrer Nicht-Nützlichkeit auf, dass aufgrund von Krankheit, Behinderung oder Einstellung als nicht leistungsfähig kategorisierte Menschen qua Zuschreibung von der Nation ausgeschlossen werden. Das von Sieyès am häufigsten genannte Distinktionsmerkmal ist hier Faulheit: „Eine solche Klasse ist aufgrund seiner Faulheit [auch Nichtstuerei] zweifellos der Nation fremd [Ausländer].“
27 (ebd.: 40).
Ich möchte zusätzlich kurz darauf verweisen, dass die von Sieyès kritisierte aristokratische Ordnung, in der die Nation nicht deckungsgleich mit der Kontrolle über den Staat ist, sondern die Regierung vielmehr nur eigenen Interessen dient, auch mit der Gleichsetzung und Abgrenzung von der im kolonialen Imaginären heute und damals virulenten Figur des orientalischen Despotismus unterfüttert wird. Die Legitimation der bürgerlichen Ordnung und die Inszenierung als überlegen wird hier auch in Abgrenzung zum kolonialen Anderen konstruiert:
„Ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass diese Ordnung der Dinge, grundlegend, und ich wage es zu sagen, schlecht von uns angesehen wird, wir finden dies, wenn wir die Geschichte des antiken Ägyptens oder die Verhältnisse der Reisen ins Großindien studieren, verachtenswert, monströs, destruktiv für die ganze Industrie, Feind des sozialen Fortschritts, insbesondere erniedrigend für die menschliche Spezies im Allgemeinen und unerträglich im Besonderen für die Europäer, etc.?“
28 (ebd.: 36)
Im Folgenden greife ich die Argumentation Foucaults wieder auf und stelle dar, wie Foucault das Nationsverständnis von Sieyès mit dem Begriff der Bio-Macht verknüpft.
Die argumentative Wende in Sieyès Diskurs bezeichnet Foucault als eine „Auto-Dialektisierung“ (Foucault 1976b: 256) des historisch-politischen Diskurses Boulainvilliers. Im Zuge der Verbürgerlichung des historischen Diskurses werden die Machtkämpfe von der Ebene unterhalb des Staates zur Aufgabe des Staates selbst gemacht. Mit Sieyès bezieht die Nation ihren Anspruch nicht mehr aus der Vergangenheit, es geht nicht mehr um vergangene Siege, Eroberungen oder erbliche Abstammung. Im Diskurs von Sieyès geht es vielmehr um die Zukunft, die in der Gegenwart insofern schon gegeben ist, als es bereits eine Nation gibt, die die staatliche Universalität zumindest virtuell schon repräsentiert, die die Institutionen und die Ökonomie faktisch am Laufen hält. Es geht also darum, die faktische Totalität der Nation in die Universalität des Staates zu überführen. Die eigentliche, komplette Nation steht also nicht horizontal anderen Nationen gegenüber, mit denen sie um die Macht im Staat ringt. Sie beherrscht nicht andere Nationen, sondern ihre Praxis besteht im Wesentlichen aus der Verwaltung der ‚eigenen‘ Bevölkerung und dem Funktionieren der staatlichen Macht. Staat und Nation sollen kohärent werden. Dieser neue, zum Ende des 18. Jahrhunderts erscheinende Typus der Macht nennt Foucault Bio-Macht. Nationalstaatlichem Handeln wird es darum gehen, die Bevölkerung zu verwalten, zu zählen, zu klassifizieren, zu vermessen, zu regulieren. Objekt der Bio-Macht ist nicht mehr das zu unterwerfende Individuum der Monarchie oder der zu disziplinierende Körper der Disziplinarmacht, sondern die Bevölkerung. Die Souveränität wird von nun an nicht mehr darin bestehen, dass der König die Macht hat, Leben zu lassen und sterben zu machen, sondern es ist der Staat der Bio-Macht, der die Souveränität ausüben sollte, indem er die Macht hat, leben zu machen und sterben zu lassen.
Ein wichtiger Baustein zur Entwicklung der Bio-Macht als Regierungstechnologie stellt die Entwicklung der Institution der Polizei dar. Die Institution der Polizei ist dabei nicht etwa auf die uniformierten Ordnungshüter_innen oder Aufstandsbekämpfung zu reduzieren. Das Ziel der Polizei in diesem Sinne ist der staatliche Zugriff auf das Leben selbst. In der Auseinandersetzung mit Theoretikern seit dem 17. Jahrhundert arbeitet Foucault das Ziel der Polizei heraus. Dieses besteht in der „Kontrolle und [der] Übernahme der Verantwortung für die Tätigkeit der Menschen, insofern diese Tätigkeit ein ausschlaggebendes Element in der Entwicklung der Kräfte des Staates darstellt“ (Foucault 1978a: 464). Dabei geht es „um die Tätigkeit des Menschen als konstitutives Element der Kraft des Staates“ (ebd.). Die Tätigkeit der Polizei umfasst also alles von der Gesundheitsversorgung über die Gebäudepflege, die Wissenschaften, das Theater, der Bildung und der Gewährleistung des freien Warenverkehrs bis zur Disziplinierung und Kontrolle der Armen, wobei es bei letzterem darum geht, den Ausschlusses jener zu realisieren, „die nicht arbeiten können, und die Verpflichtung zu arbeiten, für jene, die dazu wirklich in der Lage sind“ (ebd.: 480). Mit dem Liberalismus entwickelt sich eine – zumindest scheinbar konträre – Auffassung von Gesellschaft und Staat. Die hier entstehende Annahme einer „Naturalität“ (Foucault 1978a: 501) von Markt und Bevölkerung, die dann nicht durch Verordnungen und Maßnahmen neu gestaltet, sondern eher reguliert werden muss, wird zu einer bis heute virulenten Fluktuation zwischen den beiden Polen des Polizeistaates auf der einen und dem liberalen, marktfokussierten Staat auf der anderen Seite führen (Foucault 1979: 443). Diese beiden Pole und die ständigen Verschiebungen zwischen ihnen stellen jedoch genau den Rahmen dar, in dem die Regierungstechnologie der Bio-Macht gedacht wurde. Vom Standpunkt der Bio-Macht entsteht die Gesellschaft; die Gesellschaft als etwas Organisches und Biologisches, was es zu pflegen und zu reinigen gilt.
Dies wird besonders deutlich am Beispiel des nach den Funktionsweisen der Bio-Macht wirkenden Staatsrassismus. Diese Art des Rassismus übernimmt die Annahme Boulainvilliers von der Teilung der Menschheit in ‚Rassen‘, die dem Staat vorgeordnet sind, sieht diese jedoch nicht in erster Linie als äußere oder äußerliche Feinde, sondern als Möglichkeit der Klassifikation von Bevölkerungsgruppen, die es so zu stimulieren, zu trennen, zu reinigen oder im Zweifelsfall zu eliminieren gilt, da sie eine Bedrohung für die ‚Volksgesundheit‘ darstellen (Foucault 1976b: 302). Dies kann für ganze als ‚Rassen‘ klassifizierte Gruppen gelten, wie beispielsweise im Fall kolonialer, antiziganistischer oder antisemitischer Völkermorde, oder für Teile einer als ‚Rasse‘ bezeichneten Gruppe, die als ‚Degenerierte‘ die ‚Gesundheit‘ des gesellschaftlichen Körpers gefährdeten (ebd.: 302, 304). Die Bio-Macht, die auf die Verwaltung und Ausweitung des Lebens zielt, bedient sich den Mitteln des Tötens, um innerhalb dieser Beziehungen biologischen Typs das Leben des Staates oder der Rasse zu schützen und auszuweiten. Dabei ist diese Form des Rassismus, seine Spezifik, nicht in erster Linie an Mentalitäten, Ideologien und Lügen der Macht gebunden, sondern vielmehr als Technik der Macht zu verstehen. Ganz anders als die Logik des Rassenkrieges und der geschichtlichen Erkenntnis Boulainvilliers ist sie mit den Mechanismen der Bio-Macht verknüpft, wo sich der Staat „zum Zweck der Ausübung seiner souveränen Macht der Rasse, der Eliminierung der Rassen und der Reinigung der Rasse zu bedienen gezwungen sieht“ (ebd.: 305).
Das organizistische und biologistische Verständnis von Bevölkerung wird in diesen Fällen besonders deutlich, ist jedoch auch in anderen Kontexten virulent. Dies betrifft dabei keinesfalls nur Kontexte, die mit dem biologischen Begriff von ‚Rasse‘ operieren. Die Vorstellung eines totalitären Gesellschaftskörpers mit der dazugehörigen Bevölkerung als Objekt staatlicher Regulierung zur Verwaltung des Lebens und Vermehrung der Kräfte der Nation ist für Foucault die Voraussetzung für die Normalisierungsgesellschaft. Statt die „Grenzlinie zu ziehen, die die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Souveräns scheidet“ (Foucault 1976a: 162), richtet die Bio-Macht die Subjekte an einer Norm aus, um welche herum sie diese anordnet. Wenn – um ein paar ebenso plastische, wie willkürliche Beispiele zu geben – der Rassist Thilo Sarrazin sagt, Türk_innen und Araber_innen hätten „keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel“, wenn Panik vor der sogenannten ‚Armutsmigration‘ aus Südosteuropa oder juristisch das Aufenthaltsrecht oder der Zugang zu Sozialleistungen an den Arbeitnehmer_innenstatus geknüpft wird, scheint die biopolitische Vorstellung der Leistungsgesellschaft auf.