1 Hintergrund der Fragestellung und Zielsetzung des Beitrags
Mit dem Ziel Produktivität, kund*innenbezogene Flexibilität und Innovationsfähigkeit zu erhöhen, nutzen Unternehmen heute unterschiedliche Orientierungen und Vorgehensweisen bei der Arbeits- und Organisationsgestaltung: In der aktuellen Diskussion dominieren agile und Lean-Production-orientierte Ansätze; daneben wird eher punktuell in der Informatik (u. a. Herrmann
2012; Herrmann und Nierhoff
2019) und der Industriesoziologie (u. a. Hirsch-Kreinsen und ten Hompel
2017) an soziotechnischen (ST) Gestaltungskonzepten angeknüpft (vgl. Mohr und van Amelsvoort
2016). In der Praxis ist eine große Vielfalt von unterschiedlichen Vorgehensweisen und Varianten der genannten Konzepte zu beobachten, denn Spannbreite und Ausprägung der Nutzung sind ausdifferenzierter und hybrider als es in den z. T. zahlreichen Konzepttexten nahegelegt wird. Zudem lassen sich selbst auf konzeptioneller Ebene nicht immer eindeutige Unterschiede zwischen leanen, agilen und ST-Prinzipien der Arbeits- und Organisationsgestaltung ausmachen (vgl. van Amelsvoort und van Hootegem
2017).
Nach unserem Verständnis vermitteln die angesprochenen Konzepte ein Orientierungswissen für die betrieblichen Akteur*innen, das diese für die Lösung komplexer Gestaltungsanforderungen in den aktuellen Digitalisierungsprozessen nutzen können; sie bieten eine Art „Landkarte“ für ein unbekanntes Gelände – die zukünftige Organisation der digitalisierten Arbeit – und helfen mit ihren Prinzipien und konkreten Tools diese zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund gehen wir im Beitrag der Frage nach, welche praktischen Lösungsangebote bzw. -potenziale die drei genannten Ansätze für Digitalisierungsprozesse bieten und welche grundsätzlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede leane, agile und ST-Arbeits- und Organisationsgestaltungsansätze besitzen. Hierfür sollen die Ansätze zunächst auf konzeptioneller Ebene und in ihrer Entwicklung skizziert werden. Für diesen Vergleich leiten wir auf Grundlage einer Literaturrecherche zur soziotechnischen Systemgestaltung sowie auf Basis von Erfahrungen in interventionsorientieren Fallstudien zu betrieblichen Digitalisierungsprozessen
1 und den Ergebnissen von zwei Expert*innenworkshops zu soziotechnischen Arbeits- und Organisationsgestaltungsansätzen
2 Vergleichsdimensionen ab.
Der Anspruch des Textes ist dabei explorativ, da angesichts der Fülle des publizierten Materials komplexitätsreduzierende Darstellungen unumgänglich sind; schon eine detaillierte, theoretisch fundierte Auseinandersetzung mit den von uns ausgewählten „kanonischen“ Texten würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Zudem sind die vorgestellten Konzepte und ihre Weiterentwicklungen nicht homogen, sondern bildeten jeweils ein eigenes Spektrum an Positionen aus. Dennoch werden durch den heuristischen Vergleich Positionen und Argumente deutlich, die sowohl konzeptionell wie praktisch einen weiterführenden Beitrag zur arbeitspolitischen Debatte um die Gestaltung der digitalisierten Arbeit leisten können.
2 Vom Nutzen der Konzepte: Orientierungswissen in Digitalisierungsprozessen
Orientierungswissen ist für die betrieblichen Akteur*innen unter den Bedingungen zunehmender Digitalisierung von Produktion und Dienstleistungen notwendiger denn je, da „Megatrends“ wie Internationalisierung der Produktion, Ausweitung des internationalen Handels, Finanzialisierung (u. a. Haipeter et al.
2016), demografischer Wandel und Diversity (u. a. Hentrich und Latniak
2013), die Konkurrenzbedingungen und die Ressourcenverfügbarkeit bzw. -nutzung der Unternehmen in den vergangenen Jahren drastisch verändert haben.
Was zeichnet die aktuellen betrieblichen Digitalisierungsprozesse aus? Betriebliche Digitalisierung verstehen wir als zunehmende Nutzung von technischen Hilfsmitteln (vgl. Latniak und Gerlmaier
2019), die immer mehr Aufgaben übernehmen, die bisher menschliche Tätigkeiten waren, bzw. Kommunikation und Interaktion unterstützen und formen. Dies geschieht aufbauend auf digitaler Datenverarbeitung und -übertragung sowie auf einer ausgebauten technischen Infrastruktur (u. a. Festnetz, Mobilfunk und WLAN). Neu ist aus unserer Sicht vor allem, dass sich ein großer Teil der Kommunikation zwischen den an der Produktion oder Dienstleistungserstellung Beteiligten über unterschiedlichste digitale Medien vermittelt abspielt, was die unterstützenden Technologien zunehmend in den Fokus rückt (vgl. Pasmore et al.
2018, S. 11). Diese Entwicklung ermöglicht neben einer höheren Interaktionsgeschwindigkeit zwischen den Beteiligten auch die zeitliche und räumliche Entkoppelung von Tätigkeiten, die früher notwendig an einem Ort stattfanden.
Angesichts dieser Situation verändern sich auch die Bedingungen für die Arbeit und deren Gestaltung grundlegend (vgl. Korunka und Hoonakker
2014; Korunka und Kubicek
2017): Einerseits ist die technische Infrastruktur und die genutzte Software vielfach nicht mehr vom Arbeitsprozess trennbar. Andererseits überschreitet die Kommunikation der Beschäftigten häufig die räumlichen und rechtlichen Grenzen des Betriebs und führt zu veränderten fachlichen und organisatorischen Anforderungen an die so Arbeitenden (u. a. Büchner
2018, S. 341 ff.). Dabei ist die Vorstellung zu überwinden, dass sich das zu gestaltende Arbeitssystem im Unternehmen in einem quasi abgeschlossenen „
container“ (Winter et al.
2014, S. 255) befinde, in dem alle wesentlichen Informationen und Ressourcen für die Planung und Gestaltung gegeben sind. Stattdessen sind Informationssysteme unternehmensübergreifend, mehrfach ineinander verschachtelt und entwickeln sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten weiter. Man könnte deshalb von einem „System von Arbeitssystemen“ bzw. einem „
ecosystem“ (Pasmore et al.
2018) sprechen. Weiterführend ist es in diesem Zusammenhang, betriebliche IT-Systeme als Infrastruktur zu begreifen, die selbst wiederum in andere Systeme (z. B. in das „Internet“) eingebettet ist (vgl. Pipek und Wulf
2009, S. 14 ff.). Diese Infrastruktur wirkt auf die soziale (Arbeits‑)Praxis der Beschäftigten ein, die durch Regeln, Routinen und Gewohnheiten gekennzeichnet ist; sie bietet den Nutzenden die Möglichkeit, ihre Praxis weiterzuentwickeln und sich neue Handlungsmöglichkeiten zu erschließen (vgl. Herrmann
2012, S. 72–75). Die daraus entstehenden Abhängigkeiten sind Faktoren, die bei der Gestaltung der Arbeitssysteme zu berücksichtigen sind.
Zunächst folgt aus diesen Tendenzen, dass durch die zunehmende Zahl der in und mit dem System Arbeitenden sowie deren unterschiedlichen Aufgaben und Ziele die Komplexität der Gestaltung insgesamt zunimmt. Mit den Digitalisierungsprozessen verbunden ist also vielfach ein Überschreiten der räumlichen wie organisatorischen Grenzen des Betriebs. Gestaltende sollten deshalb zunächst einen möglichst ganzheitlichen Überblick über die konkrete Anforderungs- bzw. Problemsituation, die Betroffenen/Beteiligten und deren Aufgaben und Verflechtungszusammenhänge haben. Diese Analyse bzw. Klärung sollte von den Gestaltungskonzepten unterstützt werden (Vergleichsebene „Ganzheitlichkeit“).
Zudem sind die Konzepte hinsichtlich ihres Lösungspotenzials nicht beliebig oder unbegrenzt, sondern sind durch ihren Entstehungskontext geprägt und auf spezifische Zielperspektiven gerichtet. Die Ziele und Zwecke der Veränderungen sind dabei nicht homogen: Nach unserer Auffassung sind dies Aushandlungsprozesse, und die organisatorischen Lösungen sind Outputs dieser Interaktion, in der Interessen, Rahmenbedingungen und Kompetenzen der Beteiligten zusammenwirken. Insofern sind Gestaltungsprozesse nur auf Grundlage eines arbeitspolitischen Grundverständnisses zu begreifen (vgl. Lehndorff
2006). Eine weitere Vergleichsebene basiert deshalb auf der Frage, ob bzw. wie durch die Konzepte die zielgerichtete Fokussierung der Arbeits- und Organisationsgestaltung in Digitalisierungsprozessen initiiert und unterstützt wird (
Vergleichsebene „Zielkriterien“).
Die konkrete Vorgehensweise bei Digitalisierungs- bzw. Gestaltungsprozessen (d. h. Hinweise zu den Gestaltungsprozessen selbst) wäre eine weitere, relevante Ebene eines Vergleichs, denn angesichts des tendenziell erweiterten Kreises der Beteiligten/Betroffenen ist die praktische Frage zu beantworten, wer wie in diesen Veränderungsprozess eingebunden wird bzw. werden sollte. Ob die Konzepte hierzu Hilfen oder Orientierung bereitstellen, wäre zu prüfen (Vergleichsebene „Veränderungsprozess“).
Digitalisierungsprozesse führen arbeitsplatzbezogen in der Regel schließlich zu einer veränderten Teilung der Arbeit zwischen den technischen Systemen, die definierte Funktionalitäten bereitstellen, und den Beschäftigten, die mit veränderten Anforderungen und Rollen am Arbeitsplatz konfrontiert werden (vgl. Latniak und Gerlmaier
2019). Wie weit die Konzepte diesen technischen Aspekt explizit berücksichtigen und bearbeitbar machen, wäre zu vergleichen (
Vergleichsebene „Techniknutzung“).
Um unter den genannten Bedingungen dem Anspruch gerecht werden zu können, den Handelnden eine Orientierung in Digitalisierungsprozessen zu geben, sollten die Gestaltungskonzepte damit in der Lage sein, (1) sie bei der Klärung der Bedingungen und dem Überblicken des zu gestaltenden Arbeitssystems zu unterstützen (Vergleichsebene „Ganzheitlichkeit“), (2) für sie Leitprinzipien für die Lösungssuche bereitzustellen, d. h. die Entwicklung von Lösungsalternativen und deren Bewertung anzuleiten, und durch plausible Kriterien für die Auswahl von Lösungen Entscheidungssituationen im Gestaltungsprozess zu unterstützen (Vergleichsebene „Zielkriterien“). Relevant ist weiterhin, (3) ob es Hinweise zur Strukturierung der Veränderungsprozesse selbst gibt (Vergleichsebene „Veränderungsprozess“) und schließlich (4) die Frage, inwiefern sie die (maschinen- bzw. IT-) technische Seite der Systemgestaltung thematisieren bzw. unterstützen.
Anhand dieser Ebenen werden die Konzepte in Abschn. 4 miteinander vergleichen. Als Grundlage dafür skizzieren wir zunächst die zentralen Konzeptinhalte auf der Grundlage von Basistexten. Dabei wird neben dem Entstehungskontext (d. h. dem Gegenstandsbereich auf den bezogen das Konzept entstand) auch berücksichtigt, wogegen sich das Konzept richtet(e), was mögliche Grenzen der Lösungsperspektiven aufzeigen kann. Weiter wird herausgearbeitet, welches die zentralen Bausteine und Grundprinzipien der Konzepte sind, die bei der Gestaltung berücksichtigt werden sollten, und welche Weiterentwicklungen die Konzepte jeweils erfahren haben.
4 Die drei Arbeitsgestaltungskonzepte im Vergleich
Aufbauend auf den skizzierten Grundbausteinen der drei Gestaltungskonzepte werden im Folgenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet. Hierfür werden die in Abschn. 2 vorgestellten Vergleichsdimensionen genutzt. Die vorgestellten Befunde basieren auf Interpretationen der Konzepttexte sowie auf Erfahrungen aus den angesprochenen Fallstudien und den beiden Expert*innenworkshops.
4.1 Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten der Konzepte
Eine erste grundlegende Gemeinsamkeit der drei Konzepte liegt in ihrer Abkehr vom Fokus auf den individuellen Arbeitsplatz und der Betonung der Teamarbeit: Im Gegensatz zu einer Optimierung individueller Leistung bzw. der Leistungssteigerung an Einzelarbeitsplätzen unterstützen die Konzepte eine Arbeit in Teams, in denen die Beschäftigten ihre Tätigkeiten und deren Abfolge selbst planen, kooperieren und dabei über einen vergleichsweise großen Handlungsspielraum verfügen. Die Abkehr von tayloristisch organisierter Detailplanung und -kontrolle der Ausführung (durch team-externe Planer*innen und „Terminjäger*innen“) führt organisatorisch tendenziell zu flacheren Hierarchien. Zudem sehen die drei Konzepte einerseits ein Feedback an die Beschäftigten zu den Arbeitsergebnissen sowie andererseits ein von den Beschäftigten kommendes Feedback zum Arbeitsprozess vor.
Aus unserer Sicht sind dabei die organisatorischen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen von Arbeit in der Studie von Womack et al. (
1990), jenseits des wertschöpfenden Produzierens und des KVP, im Gegensatz zu den agilen und soziotechnischen Ansätzen allerdings nicht klar umrissen. Deutlich wird dies u. a. an dem nicht systematisch entwickelten Team- bzw. Gruppenkonzept (ebd., S. 90, 99 f., 113 ff. und 199 f.): Teams sind hier lediglich die Beschäftigten, die in einem bestimmten Fertigungsbereich arbeiten. Zwar wird den Teams eine zentrale Rolle für die Fertigung zugesprochen, was allerdings deren spezifische (über-individuelle) Leistung zum Unternehmenserfolg sein könnte, bleibt konzeptionell offen.
4.2 Vergleichsebenen: „Ganzheitlichkeit“
Unterschiede zwischen den drei Konzepten bestehen hinsichtlich der Reichweite im Betrieb und der Skalierbarkeit ihres Gestaltungsfokus: Während Lean-Ansätze dezidiert die gesamte Wertschöpfungskette, die Werkstätten oder den Einzelbetrieb tendenziell überschreitet, in den Blick nehmen, beziehen sich agile Methoden primär auf die Arbeit einzelner Teams. Zwar werden mittlerweile Versuche unternommen, agile Prinzipien unternehmensweit anzuwenden (vgl. Abschn. 3.2.3); doch scheinen sich die Entwickler*innen solcher Schemata eher an Lean-Prinzipien zu orientieren als eigenständige agile Lösungen hervorzubringen. Bei soziotechnischen Konzepten lässt sich hier feststellen, dass die Interaktion unterschiedlicher Teilsysteme – und deren Synergie oder Reibung – fokussiert wird: Bei Ulich (
2013) bzw. Strohm und Ulich (
1997) werden sowohl Einzelaufgaben und Teams, als auch der gesamte Betrieb in den Blick der Arbeits- und Organisationsgestaltung genommen. In der neueren soziotechnischen Diskussion werden auch die betrieblichen Umwelten, also z. B. Kund*innen- oder Nutzende, in die Gestaltung der Arbeitssysteme einbezogen (u. a. bei Winby und Mohrman
2018).
Die Kund*innenperspektive als relevanter Faktor für die
Gestaltung des Arbeitssystems ist an dieser Stelle zu unterscheiden von der Relevanz der Kund*innenperspektive für den
Output des Arbeitssystems, also das Produkt bzw. die Dienstleistung. Obwohl mittlerweile in allen drei Konzepten die Bedarfe der Kund*innen thematisiert werden, unterscheidet sich der Grad der gezielten Kundeneinbindung bzw. deren konkrete Auswirkung: Während Lean-Konzepte Kund*innenanforderungen zwar aufnehmen (und explizit darauf gerichtet sind, z. B. deren Zeit- und Qualitätsansprüchen gerecht zu werden), ist eine Beteiligung von Kund*innen oder Nutzenden an der Produktentwicklung in den ursprünglichen Konzeptvarianten nicht intendiert. Anders bei agilen Instrumenten wie
scrum (u. a. Bahlow und Kullmann
2018; Gloger und Margetich
2018), bei dem in Form des
product owners eine Person vorgesehen ist, die die Interessen der Auftraggeber*innen repräsentieren und in kurzen Zyklen immer wieder kund*innenseitige Anpassungswünsche kommunizieren soll.
Allerdings garantiert die Berücksichtigung der Kund*innenperspektive im Prozess der Produkterstellung allein noch kein Produkt, das sich in der späteren Praxis als userfreundlich (im Sinne einer menschengerechten Gestaltung der Arbeitsplätze der Nutzenden) erweist. Dazu wären Kriterien nötig, die eine Beurteilung der Nutzer*innenfreundlichkeit ermöglichen. Während leane Konzepte hier quasi einen blinden Fleck zu haben scheinen, würden Vertreter*innen agiler Methoden argumentieren, dass dies prozessual durch den
product owner garantiert sei. Allerdings existieren an dieser Stelle keine inhaltlichen bzw. materiellen Leitlinien, die nahelegen, wie konkret sicherzustellen ist, dass der
product owner spätere Nutzer*innen und deren Bedarfe auch wirklich repräsentiert; er oder sie handelt lediglich stellvertretend für die Auftraggeber*innen, die wiederum nicht kongruent mit den Nutzer*innen sein müssen. Darüber hinaus existieren im leanen und agilen Methodenkanon keine Kriterien zur Evaluation des Endproduktes. Soziotechnische Leitlinien hingegen, wie z. B. bei Cherns (
1987) oder Herrmann und Nierhoff (
2019), liefern solche Kriterien, wodurch sowohl ganze Arbeitssysteme als auch einzelne Arbeitsmittel im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen beurteilt werden können.
4.3 „Zielkriterien“
Die drei Arbeitsgestaltungsansätze weisen bereits hinsichtlich ihrer ursprünglichen Ziele und ihrer normativen Begründung Differenzen auf, was sich wiederum in der Ein- bzw. Ausblendung bestimmter Gestaltungsaspekte äußert:
-
So zielen Lean-Konzepte insbesondere auf möglichst effiziente Prozesse ab, bei denen nicht-wertschöpfende Aspekte maximal reduziert werden; handlungsleitend sind dabei Anforderungen der Kund*innen und des Marktes insbesondere hinsichtlich der Liefertermine und der Qualität des Produkts.
-
Diese Anforderungen werden auch im Rahmen agiler Methoden betont; gleichzeitig werden dort aber die Bedürfnisse der Beschäftigten expliziter mitberücksichtigt. Dies äußert sich z. B. in der Vorgabe bei scrum, individuelle Arbeitsaufwände im Team auszubalancieren.
-
Im Falle soziotechnischer Konzepte stehen, wie bereits dargelegt, insbesondere menschengerechte Arbeitsplätze im Blickpunkt. Gleichwohl soziotechnische Ansätze auf die Gestaltung menschengerechter Arbeit abzielen, wird mit ihnen gleichzeitig immer ein möglichst produktiver Wertschöpfungsprozess angestrebt.
Die unterschiedlichen Ziele der drei Konzepte schlagen sich schließlich in unterschiedlichen Operationalisierungen nieder. Während sich z. B. im Lean-Konzept keine gesundheitserhaltenden Komponenten finden lassen, sind in agilen Ansätzen Puffer- und Schutzelemente grundsätzlich enthalten: So ist etwa bei
scrum der
scrum master vorgesehen, dessen Aufgabe es u. a. ist, das Team von Störungen abzuschirmen. Zudem sollen die
sprints bei
scrum nicht durch weitere Anforderungen modifiziert werden. Auch in soziotechnischen Konzepten existieren Leitlinien, die explizit fordern, die Anstrengungen der Beschäftigten durch entsprechende Arbeitsgestaltung auszubalancieren (z. B. Eason
1988; Clegg
2000).
Im Hinblick auf konkrete Zielvariablen operieren LP-Ansätze vielfach mit Kennzahlen, die wertstrombasiert abgeleitet sind. So sind hier bspw. Kennzahlen zu Lagerbeständen, zu Durchlaufzeiten oder zu Störungen vorgesehen. In agilen Ansätzen wie
scrum sollen effiziente Prozesse z. B. durch einen täglichen Informationsaustausch (
daily scrum), durch die Person des
product owners oder durch das
product backlog (in dem die Produktanforderungen festgehalten sind) sichergestellt werden (u. a. Bahlow und Kullmann
2018; Gloger und Margetich
2018). Derartige Ziele werden im Rahmen soziotechnischer Ansätze etwa durch Prinzipien wie
resource flows (Arbeitsgestaltende sollen sicherstellen, dass Informationen dort zur Verfügung stehen, wo sie gebraucht werden) (Imanghaliyeva et al.
2020, S. 670) oder Evaluationsheuristiken wie „Effiziente Aufgabenverteilung für ganzheitliche Ziele“ (Herrmann und Nierhoff
2019, S. 12) operationalisiert.
Wie beschrieben werden die Produktanforderungen der Kund*innen zwar sowohl in LP- wie auch in agilen Ansätzen grundsätzlich adressiert, es existieren an dieser Stelle jedoch – anders als im Falle soziotechnischer Ansätze – kaum Operationalisierungen, die diese Anforderungen in den Erstellungsprozess integrieren (bei scrum lediglich indirekt über den product owner) oder konkrete Hinweise zur Beurteilung des Endproduktes im o. g. Sinn geben würden.
4.4 „Veränderungsprozess“
Die Ansätze geben Kriterien für die Gestaltung der fokussierten Wertschöpfungsprozesse vor. Anders verhält sich dies im Falle von (nicht wertschöpfenden) Veränderungsprozessen, d. h. konkret für die Frage, was aus Sicht des jeweiligen Ansatzes einen gelingenden Veränderungsprozess ausmacht:
-
Lean-Konzepte sehen i. d. R. Kontinuierliche Verbesserungsprozesse (KVP) als Möglichkeit vor, in lean-gestalteten Prozessen Veränderungen vorzunehmen: Lean Production ist damit Ergebnis eines ex-ante beschriebenen langfristigen Lernprozesses (vgl. Ōno
1993), der durch die alltägliche konsequente Anwendung von Ordnungsprinzipien auf unterschiedlichen Ebenen und KVP zur Leistungsfähigkeit der Gesamtorganisation führt. Ein spezifisches Veränderungsverständnis ist dabei jenseits von KVP nicht entwickelt – die Nutzung der LP-Prinzipien zu fördern, ist alltägliche Aufgabe der Führungskräfte. Für diese wiederum existieren mittlerweile zahlreiche Handreichungen zur Implementierung und Anwendung (u. a. VDI
2012; Zollondz
2013).
-
Im Fall agiler Ansätze ist ein Einführungs- oder Veränderungsprozess (soweit wir die Literatur dazu übersehen) bisher kaum thematisiert; stattdessen werden individuelle Haltung bzw. Haltung im Team fokussiert, die darauf gerichtet sein sollte, mit der Erarbeitung praktischer Lösungen zu starten, auch wenn das zunächst nur Teilergebnisse liefert. Festzuhalten ist, dass durch die genannten Maximen Kriterien bereitgestellt werden, um mit motivierten Leuten schneller zu für die Kund*innen nutzbaren Ergebnissen zu kommen. Zwar haben Beschäftigte, in diesem Kontext z. B. die Möglichkeit (retrospektiv) Arbeitsmenge und -inhalte zu reflektieren (
sprint reviews); die Arbeitsprozesse selbst bleiben aber unhinterfragt. Andererseits existieren in einzelnen Konzepttexten mittlerweile Verfahrensvorschläge zur Implementierung agiler Arbeit (u. a. Gloger und Margetich
2018, S. 121 ff.). Zudem werden agile Methoden neuerdings auch für die Gestaltung von Veränderungsprozessen jenseits der Wertschöpfung genutzt (ebd., S. 93 ff.).
-
Diesbezüglich scheinen soziotechnische Konzepte am umfassendsten ausgearbeitet: So existieren sowohl Leitlinien, die explizit die Weiterentwicklung des Arbeitssystems vorsehen (z. B. bei Herrmann und Nierhoff
2019), als auch Prozessmodelle, die Hinweise geben, wie ein Veränderungsprozess zu gestalten ist, wobei dieser Prozess in den neueren soziotechnischen Ansätzen nicht mehr als linear, sondern als zyklisch und reflexiv aufgefasst wird (u. a. Falck
1991; Kötter und Volpert
1993; Lange und Longmuß
2015; Winby und Mohrman
2018). Diese Überlegungen sind sowohl für Wertschöpfungs- als auch für Veränderungsprozesse anwendbar. Zudem liegen zahlreiche Kriterienkataloge vor, mit denen sich das Ergebnis eines etwaigen Veränderungsprozesses evaluieren lassen (u. a. Cherns
1987; Clegg
2000; Imanghaliyeva et al.
2020).
4.5 „Techniknutzung“
Die heterogenen soziotechnischen Ansätze eint der Grundgedanke: Arbeitssysteme setzen sich aus sozialem und technischem Subsystem zusammen, die in Wechselwirkung stehen (siehe Abschn. 3.3). Diese Berücksichtigung des technischen Systems fehlt bei leanen und agilen Konzepten im Ansatz – sie sind in diesem Sinn quasi „technikblind“. Beide Ansätze fokussieren ausschließlich die Organisation und blenden z. B. die technische Beschaffenheit der Arbeitsmittel aus. Für die Arbeitsbedingungen machen unterschiedliche Software, etwa für agile Teams, oder die technischen Medien des Shopfloor-Managements bei Lean Production substanzielle Unterschiede: In den technischen Arbeitsmitteln sind Möglichkeiten und Beschränkungen der Kooperation und des teil-autonomen Handelns angelegt (vgl. o. zu „infrastructuring“). Hinsichtlich komplexer werdender, vernetzter Arbeits- und Kommunikationsmittel müssen technische Aspekte für die Arbeitsgestaltung aus unserer Sicht zunehmend explizit in den Blick genommen werden.
Zwar ist bereits in der Darstellung der Entstehung der Konzepte deutlich geworden, dass bspw. agile Softwareentwicklung einen engen Bezug zu IT-Technik und Software-Entwicklung hat, diese Aspekte im Konzept selbst aber an keiner Stelle eine nennenswerte Rolle spielen. Während in zahlreichen soziotechnischen Ansätzen etwa Hinweise zur (ergonomischen) Gestaltung von Technik gegeben werden (u. a. bei Clegg
2000; Grote
2018; Herrmann und Nierhoff
2019), existieren derartige Leitlinien in agilen und leanen Konzepten nicht explizit.
4.6 Zusammenfassung
Die in den vorherigen Abschnitten skizzierten Ergebnisse des Vergleichs der drei Arbeits- und Organisationsgestaltungskonzepte sind in Tab.
1 im Überblick dargestellt.
Ganzheitlichkeit | 1. Fokus der Arbeitsgestaltung: Wertschöpfungskette | 1. Fokus der Arbeitsgestaltung: Teams, z. T. auch die Organisation (z. B. bei SAFe) | 1. Fokus der Arbeitsgestaltung: Aufgaben, Teams, Organisation, Ökosysteme |
2. Keine Kundenpartizipation | 2. Indirekte Kundenpartizipation (z. B. über product owner) | 2. z. T. direkte Kundenpartizipation (u. a. bei Winby und Mohrman 2018) |
3. Keine Evaluationskriterien für das Endprodukt entwickelt | 3. Keine Evaluationskriterien für das Endprodukt entwickelt | 3. Evaluationskriterien für das Endprodukt vorhanden (u. a. bei Cherns 1987) |
Zielkriterien | Markt- und Kundenbedürfnisse bei hoher Produktivität und geringem Material‑, Flächen- und Kapazitätseinsatz erfüllen | Markt- und Kundenbedürfnisse bei Berücksichtigung der Beschäftigtenbedürfnisse erfüllen | Menschengerechte Arbeit als explizites Ziel, dabei gleichzeitige Berücksichtigung von Markt- und Kundenbedürfnissen |
Veränderungsprozess | 1. Handreichungen zur Einführung des Konzeptes liegen vor | 1. Handreichungen zur Einführung des Konzeptes liegen vor | 1. Prozessmodelle zur Maßnahmenumsetzung (u. a. Herrmann 2012) liegen vor |
2. Kontinuierliche Optimierung des Konzepts in der Praxis vorgesehen (z. B. KVP) | 2. Kontinuierliche Optimierung des eingeführten Konzepts in der Praxis vorgesehen (z. B. sprint reviews) | 2. Kontinuierliche Evaluation möglich bzw. vorgesehen (u. a. bei Herrmann und Nierhoff 2019) |
3. Konzept zielt auf die Gestaltung von Wertschöpfungsprozessen ab | 3. Konzept zielt auf die Gestaltung von Wertschöpfungsprozessen ab, bietet z. T. aber auch Instrumente zur Gestaltung von Veränderungsprozessen (z. B. mit Hilfe von user stories) | 3. Konzept zielt sowohl auf wertschöpfende als auch auf Veränderungsprozesse ab |
Technikeinsatz | Nicht explizit thematisiert | Nicht explizit thematisiert | Systematisch thematisiert |
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.