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09-08-2022 | Unternehmenskultur | Schwerpunkt | Article

Rebellen: Helden oder gepamperte Regelbrecher?

Author: Michaela Paefgen-Laß

4:30 min reading time

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Als besonders zeitgeistige Erscheinung spuken Organisationsrebellen durch die Managementliteratur. Was dahinter steckt und ob die Begriffe "Rebellion" und "ziviler Ungehorsam" überhaupt passend oder reiner Marketing-Buzz sind.

Angeblich fehlt es deutschen Unternehmen an übermütigen, kühnen Denkern. Was gemeint ist, wenn zu mehr Rebellion im Unternehmenskontext aufgerufen wird, ist klar: Der Mut, ausgefallene Möglichkeiten jenseits des Tellerrandes nicht nur zu erkennen, sondern auch auszuprobieren und durchzuboxen. Neue Perspektiven zu wagen. Gegen den Strom zu schwimmen und Organisationsangehörige mit gewagten Ideen zu begeistern. 

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Innovationskultur

Über Innovationen zu sprechen ist wieder modern. Angesichts von Digitalisierung und auch Start-ups mit möglicherweise disruptiven Produkten und Prozessen erheben immer mehr Manager und auch Politiker die Forderung nach mehr Innovationen.

Kurzum, Rebellion ausgelöst von innovativen Weiterdenkern gilt als der goldene Weg zu mehr Innovation. Führungskräfte sollten also zu Recht an einem keimenden Rebellentum in ihren Etagen interessiert sein. Auf der anderen Seite rangiert ein Verständnis von Rebellion als kuscheliges Synonym für Quertreiberei, Regelbruch, Ruhestörung und der durch Corona-Protestierer in Verruf geratenen Querdenkerei.

Von Rebellen profitieren?

Mit Rebellen und Rebellinnen im Unternehmen hat sich der Hernsteinreport 20 beschäftigt. Liefern Störenfriede ihren Unternehmen neue Impulse oder stiften sie Unruhe im Team und wie gut gelingt Chefs der Umgang mit ihnen, das wollten die Studienautoren von rund 1.500 deutschen und österreichischen Führungskräften im Mai 2020 während des ersten Corona-Shutdowns wissen. Die Studienautoren verstehen unter Rebellen Mitarbeitende mit stark ausgeprägter Meinung, die diese offen vertreten. Sechs von zehn Führungskräfte konnten solches Verhalten in ihren Unternehmen identifizieren. Das Abwägen der Vor- und Nachteile fällt allerdings noch recht unentschieden aus.

Die meisten Rebellen gibt es in den Branchen IT/Telekommunikation (70 Prozent), Gesundheit/Soziales (66 Prozent) und Finanzwesen (53 Prozent). Dort verbessern sie die Arbeitsergebnisse, was 57 Prozent der befragten Führungskräfte zu schätzen wissen. Außerdem findet jeder zweite Chef (49 Prozent), dass Rebellen die Unternehmensziele positiv beeinflussen, nur 29 Prozent nehmen einen negativen Einfluss wahr. In Sachen Teamfähigkeit herrscht zwischen der positiven (46 Prozent) und negativen (44 Prozent) Einschätzung allerdings Gleichstand. In Summe würden 64,6 Prozent der Befragten ihren Rebellen und Rebellinnen nachtrauern oder sie sogar vermissen. Je höher die Führungsebene, umso stärker fällt die Bindung zu den Unruhestiftern aus. Und welche Vorteile bringt Rebellentum einem Unternehmen, wo wirkt es sich nachteilig aus?

Vorteile

Nachteile

27 Prozent: andere Ansichten und Blickwinkel

26 Prozent: Unruhe und Störung

23 Prozent: Ehrlichkeit und Kritik

23 Prozent: demotivierend/ schlechte Stimmung

18 Prozent: unkonventionelle Ideen und Innovation

18 Prozent: anstrengend und schwierig im Umgang

14 Prozent: Hinterfragen wird angeregt

15 Prozent: Diskussionen und Auseinandersetzung

14 Prozent: Ansporn und Motivation für alle

14 Prozent: zeitintensiv, verzögernd / bremst aus

Querköpfe brauchen Freiraum und Führung

Die rosarote Brille mal beiseite gelegt, zeigt die Befragung auch, dass jeder Vorteil durch einen ebenso stark gewichteten Nachteil relativiert wird. Die direkte Antwort auf Ehrlichkeit und Kritik (23 Prozent) beispielsweise sind schlechte Stimmung und Demotivation (23 Prozent). Damit stellen Rebellinnen und Rebellen, die Führungskräfte, die sich zu ihnen bekennen und ihre Stärken bündeln wollen, vor eine gewaltige Aufgabe. Ihnen müssen Freiräume angeboten werden, in denen sie ihre Potenziale entfalten können. Gleichzeitig braucht es ein Management, das schwierige Mitarbeiter führen und mit jenen Konflikten umgehen kann, die entstehen, wenn Rebellen auf Kosten der übrigen Teammitglieder zwar umtriebig, aber nicht produktiv sind.

In seinem Buchkapitel Management von Regelabweichung und Regelkonformität, findet Springer-Autor Stefan Kühl, dass Heldenreisen von "Organisationsrebellen" und "Unternehmensrevolutionären" in der Managementliteratur legalistisch verklärt werden. "In Automobilkonzernen werden nicht die Geschichten erzählt, in denen aufgrund der sorgfältigen Planung des Vorstandes ein neues Auto entwickelt wurde, sondern wie Ingenieure ohne Wissen, teilweise sogar gegen die ausdrückliche Anweisung des Vorstandes ein Auto mit Vierrad-Antrieb entwickelt haben" (Seite 318). Dabei, so kritisiert der Autor, lösten die meisten dieser Musterbrecher – frei nach Lenin – vor der Revolution eine Bahnsteigkarte. Das heißt, Vorgehensweisen würden konsensual abgestimmt und überprüft, "sodass sich alle Musterbrecher, Rebellen und Revolutionäre sicher sein können, formal auf der richtigen Seite zu stehen" (Seite 318). 

Führung im Entscheidungsdilemma

Das Management wird durch die Musterbrüche zudem in ein Entscheidungsdilemma gezwungen, weil Entscheidungen über Regeleinhaltung oder Regelbruch immer auch beinhalten, die Vor- und Nachteile zu erkennen, abzuwägen und gegebenenfalls in Kauf zu nehmen. "Was in einem Moment als ein nützlicher Gesetzesbruch erscheint, kann zu einem anderen Zeitpunkt zu einer Krise führen" (Seite 320). Umgekehrt können funktionale Regelverletzungen durch Rebellen zu überraschenden und besseren Ergebnissen führen. Es gehöre damit zur Professionalität von Organisationen, mit diesem Spannungsfeld umzugehen und ein Gespür dafür zu entwickeln, wie weit Regeln gedehnt und welcher Grad an Überdehnung toleriert werden kann. "Die Beherrschung des permanenten Wechsels zwischen Formalität und Informalität ist letztlich das, was gute Organisationsmitglieder auszeichnet" (Seite 328).

"Daumenregeln zum Umgang mit brauchbarer und unbrauchbarer Illegalität" sollen Führungskräften das Manövrieren im Spannungsfeld zwischen Regelbefolgung und Regelverletzung erleichtern können (320 ff): 

  • Sachfragen: Bei Strukturentscheidungen bedenken, welche Reaktionen und Ausweichbewegungen dadurch produziert werden
  • Soziale Fragen: Keine Homogenität der Überzeugungen erzwingen, stattdessen Diversität und "zivilisierte Friedlichkeit" fördern
  • Zeitfragen: Laufende Neuverhandlungen darüber, ob Regelabweichungen als brauchbar und tolerierbar oder unbrauchbar angesehen werden

Übrigens: Noch ein Wort zum Selbstverständnis von Rebellen und Rebellinnen: Nicht jedes Teammitglied, das sich über geltende Regeln hinwegsetzt, ist eine Rosa Parks oder eine britische Suffragette. Der zivile Ungehorsam war für diese Menschen die Ultima Ratio. Sie haben vorab eine Reihe anderer Möglichkeiten ausprobiert, um auf einen Missstand oder eine Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen. Ziviler Ungehorsam und Rebellion unterscheiden zwischen legalen und legitimen Handlungen. Sie folgen dem, was Martin Luther King das friedliche Aufbegehren gegen moralisches Unrecht nannte.

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