1 Einleitung
Das prädestinierte Objekt wirtschaftswissenschaftlicher, aber auch wirtschaftssoziologischer Forschung sind marktbasierte Allokationsprozesse. Demgegenüber werden staatliche Haushalte nach- und untergeordnet behandelt. Selbst die Neue Fiskalsoziologie (Martin et al.
2009), die an die kontinentaleuropäische Tradition der Finanzsoziologie (Goldscheid
1976 [1926]; Mann
1933; Schumpeter
1976 [1918]) anschließt, hat sich bisher auf die Einnahmeseite konzentriert und die Ausgabenseite vernachlässigt. Dabei steht die Relevanz des Gegenstandes außer Frage: Staatliche Ausgaben machen in vielen reichen Ökonomien ca. die Hälfte der Wirtschaftsleistung aus. Sie beeinflussen sozioökonomische Verteilungsmuster, Formen und Grade der „Dekommodifizierung“ (Esping-Andersen
1990) sowie die Stabilität und Entwicklung von Wirtschaftssystemen. Haushaltspolitische Entscheidungen haben darüber hinaus auch „symptomatische“ Bedeutung (Padgett
1981; Schumpeter
1976 [1918]), denn sie zeigen an, wie in einem spezifischen Kontext Ansprüche und Verpflichtungen zwischen Bürgern und Staat durch demokratische Politik artikuliert und ausgehandelt werden (Martin
2020) und wie staatliche Strukturen und Institutionen die Verfügbarkeit und Verteilung öffentlicher Gelder beeinflussen.
Die deutsche Ausgabenpolitik ist nicht nur aufgrund der wirtschaftlichen Bedeutung des Landes von besonderem Interesse für die Forschung. Deutschland gilt seit langem auch als paradigmatischer Fall für strukturkonservative Haushaltspolitik. Schon früh diskutierte die Literatur die Schwäche keynesianischer Nachfragepolitik (Allen
1989; James
1989) oder genereller politischer Planung in der Bundesrepublik im Vergleich zu Volkswirtschaften ähnlicher Dimension (Mayntz und Scharpf
1975; Zunker
1972). Nach einer Expansionsphase in den späten 1960ern und frühen 1970ern (Ullmann
2017) dominierte angesichts strukturell steigenden Drucks der Pflichtausgaben, insbesondere zur Stabilisierung der Sozialversicherungen, und abnehmender Wachstumsraten ab den 1980er-Jahren das Spardiktat. Die wirtschaftliche Prosperitätsphase der 2010er-Jahre war dann gekennzeichnet durch ausgeglichene Haushalte im Inland („Schwarze Null“) und die Staatsschuldenkrise insbesondere in Südeuropa. Das Eintreten der Bundesregierung unter Angela Merkel für strenge Fiskalregeln verschaffte Deutschland in diesen Jahren den Ruf als „Sparmeister Europas“ (Blyth
2013; Haffert
2016; Klein und Pettis
2020; Matthijs
2016). Zugleich kritisierten relevante Teile der deutschen Öffentlichkeit die geringen öffentlichen Investitionen in einer Phase sehr günstiger fiskalischer Bedingungen, unter anderem in Digitalisierung, Bildung und Forschung sowie nicht zuletzt in die Energieinfrastruktur (Rixen
2019). Dies gilt vielen heute als
das negative haushaltspolitische Vermächtnis der Regierungen Merkel I bis IV.
Doch wie erklärt sich der Strukturkonservatismus deutscher Haushaltspolitik, wie er sich in dieser unzureichenden Nutzung von Investitionsspielräumen manifestiert, im Detail? Aktuelle Diskussionen dazu fokussieren unter anderem den tradierten Einfluss ordoliberaler Ideologie auf das deutsche Haushaltsregime. Diese Ideologie betont die Norm vom Haushaltsausgleich zum Zwecke makroökonomisch „neutraler“ Staatstätigkeit und schreibt regelorientierte Haushaltsplanung vor (Blyth
2013; Petzold
2018). Dieser Position steht ein Feld politikwissenschaftlicher Forschung gegenüber, das die spezifischen Interessenkoalitionen in Deutschland analysiert. So betonten einige Arbeiten die elektorale Bedeutung von Arbeitsmarkt-Insidern als gesellschaftliche Basis für einen konservativen Transferstaat (Beramendi et al.
2015). Andere Autoren
1 stellen die ökonomische Macht von Produzentenkoalitionen im Exportsektor heraus (Baccaro und Pontusson
2019; Haffert und Mertens
2021), dessen Wettbewerbsvorteil an unterdrückter Nachfrage im Inland hängt.
Mein Aufsatz offeriert stattdessen einen Erklärungsansatz, der Strukturkonservativismus als Eigenschaft haushaltspolitischer Entscheidungsmuster interpretiert und ihre institutionellen Fundamente ins Visier nimmt. Mit Rekurs auf fiskalsoziologische Literatur und historisch-institutionalistische Ansätze betrachte ich Haushaltsverfahren als Entscheidungsvorgänge, in denen die
Beziehungsmuster zwischen Parlament, Regierung und Verwaltung zur Geltung kommen. Im Hintergrund steht die Beobachtung, dass moderne Haushaltsplanung und -führung mehr oder weniger gleichzeitig mit einer neuen Verknüpfung zwischen modernem Parlamentarismus und Leistungsbürokratien entstand (Waldhoff
2018; Wehner
2010). Bis heute bedeutet Haushaltspolitik, dass die polititischen Entscheidungsträger den staatlichen Verwaltungsapparat als Instrument zur Realisierung kollektiver Entscheidungen finanzieren, damit aber auch existierende staatliche Institutionen und Organisationen reproduzieren, die die Möglichkeiten politischen Handelns konditionieren. Wie eine lange Tradition fiskalsoziologischer und institutionell-historischer Arbeiten zeigt, variieren diese Relationen zwischen Politik, Regierung und Verwaltung in den jeweiligen nationalen Kontexten (für Besteuerung siehe Morgan und Prasad
2009; Steinmo
1993).
Die politikwissenschaftliche Literatur hat drei institutionelle Merkmale ausgemacht, die den bundesrepublikanischen Staat charakterisieren und seinen fiskalpolitischen Strukturkonservatismus strukturell befördern: den Föderalismus, die relative Entkopplung sozialer Ausgaben von der generellen Haushaltspolitik und das Verhältniswahlrecht sowie die daraus resultierenden Koalitionsregierungen. Alle drei Faktoren schränken die diskretionäre Macht einzelner politischer Akteure stark ein. Meine Analyse ergänzt diese Arbeiten und hebt einen in seiner haushaltspolitischen Bedeutung vernachlässigten Aspekt hervor: In der Bundespolitik sind Minister die
focal actors, denn sie agieren als relativ eigenständige Verwaltungsspitzen (von Beyme
2010, S. 328) und sind als Kabinettsmitglieder in Koalitionsregierungen mit der Kompromissfindung betraut. Zudem stützen sie sich als Mandatsträger im parlamentarischen Regierungssystem (Meinel
2020, S. 17) auf eine eigene Machtbasis im Bundestag. Als primus inter pares fungiert seit jeher der deutsche Finanzminister, der bereits in der Weimarer Republik eine herausgehobene Stellung im Kabinett und gegenüber dem Parlament einnahm und sich bis heute auf einen ministeriellen Apparat mit besonders persistenten Arbeitsroutinen zur Sicherung von Haushaltsdisziplin stützen kann.
Wie ich in diesem Aufsatz zeigen werde, wirken diese strategische Stellung der Minister sowie die Sonderstellung der Finanzminister strukturierend auf die bundesdeutsche Haushaltspolitik. So nutzt der Finanzminister seine Machtposition bei gegebener Ressort- und Organisationsstruktur primär zur Profilierung als „Sparsamkeitsminister“. In dieser Rolle tritt er den Fachministern gegenüber, deren Verhandlungsmacht davon abhängt, ob und wie es ihnen gelingt, das Gewicht und die Interessen ihrer Häuser mit ihrem Einfluss im Kabinett zu verbinden. Der Bundestag ist nur in zweiter Instanz von Bedeutung für diese Kompromisssuche. Die Minister sind auf Rückhalt in ihren eigenen Fraktionen angewiesen, denn über Befragungen im Haushaltsausschuss und symbolische Kürzungen von Einzelplänen können Parlamentarier ihre Missbilligung für die Fachminister gegenüber relevanten Öffentlichkeiten kommunizieren – darunter nicht zuletzt die Binnenöffentlichkeiten des Regierungsviertels. Je nach fiskalischen Umständen bzw. den wahrgenommenen Ausgabenspielräumen ergibt sich aus dieser Konstellation ein expansiver oder restriktiver Inkrementalismus.
Mit dieser Perspektive verneine ich nicht die Bedeutung ökonomischer und elektoraler Interessen oder der ordoliberalen Tradition, sondern werbe für ein fallbasiertes Verständnis der Machtbeziehungen und Entscheidungsroutinen innerhalb des politischen Systems, die den Einfluss der entsprechenden Kräfte vermitteln. Die Soziologie kann bisherige politikwissenschaftliche Ansätze zur Analyse von Institutionen in der Haushaltspolitik erweitern, indem sie organisationale Strukturen (Skocpol
1985), temporalsoziale Mechanismen von Verfahren (Luhmann
1983 [1969]) und kontextspezifische Strategien der beteiligten Akteure in den Blick nimmt (Wildavsky
1964; Wildavsky und Caiden
1992). Ein solcher Beitrag ist m. E. auch hilfreich in der Diskussion rund um die Veränderbarkeit von haushaltspolitischen Mustern in Deutschland, die bisher genauso wenig wie der Großteil der Fachliteratur ausreichend zur Kenntnis nimmt, wie stark diese Muster in den Routinen und informellen Institutionen des politischen Systems verankert sind.
Ich entwickle mein empirisches Argument auf Basis unterschiedlicher Quellen. Neben „grauer“ Literatur wie Regierungs- und OECD-Berichten sowie juristischen und historischen Arbeiten zur deutschen Finanzverfassung rekurriere ich auf 16 Interviews, die ich im Zeitraum 2019 bis 2023 geführt habe. Hiervon erfolgten elf mit amtierenden wie ehemaligen Beamten des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) und fünf mit amtierenden wie ehemaligen Mitgliedern des Haushaltsauschusses des Bundestags. Der folgende Abschnitt (2) beschreibt die groben Züge deutscher Haushaltspolitik und positioniert den hier verfolgten Ansatz in einer breiteren Literatur. Die daran anschließende empirische Analyse gliedert sich in zwei Abschnitte. Im ersten Teil (3) zeige ich, wie die Rolle des Finanzministers als herausgehobenes Kabinettsmitglied und Sparsamkeitsminister historisch entstanden ist. Im zweiten Teil (4) beschreibe ich das Haushaltsverfahren als Handlungssystem (Luhmann
1983 [1969]), in dem die zentrale Bedeutung von Ministern innerhalb von Koalitionsregierungen sowie eines parlamentarischen Regierungssystems zur Geltung kommt. Im darauffolgenden Diskussionskapitel (5) diskutiere ich die Persistenz strukturkonservativer Haushaltspolitik im Lichte existierender Forschung zur „new politics of budgeting“ in den USA und vermuteter Paradigmenwechsel nach der Corona-Pandemie (Seelkopf und Haffert
2023). Der knappe Schlussteil (6) rekapituliert die Ergebnisse hinsichtlich der Implikationen für die weitere Forschung.
3 Der Bundesminister der Finanzen als mächtiger Sparsamkeitsminister
Verhandlungen zur Aufstellung des Haushalts finden im Bund bilateral zwischen dem Bundesministerium der Finanzen und den Fachressorts statt. Der Kanzler beziehungsweise das Kabinett oder die Koalitionsausschüsse haben lediglich eine bestätigende, und nur in extremen Fällen eine konfliktmoderierende Rolle. Trotz seiner „Budgethoheit“ (Waldhoff
2018) beschränkt sich der Bundestag darauf, Regierungsentwürfe punktuell anzupassen. Die bilateralen Verhandlungen zwischen Finanz- und Ausgabenministerien sind demnach der entscheidende Kontext, in dem über diskretionäre Ausgaben, und hier unter anderem auch Investitionen, entschieden wird. Während ich im kommenden Abschnitt die Verhandlungen selbst in den Blick nehme, gehe ich nun zunächst auf die Identität und Machtstellung des zentralen Akteurs im Geschehen ein: dem Bundesminister der Finanzen und seinem Ministerium.
Zentralistische Finanz- und Haushaltspolitik erlangte erst mit und nach dem Ersten Weltkrieg ihre heutige Bedeutung. Mit dem Gesetz über die Reichsfinanzverwaltung von 1919 wurde ein Reichsfinanzministerium gegründet, das als oberste Behörde für die wachsenden Einnahmen nach den Erzbergerschen Reformen (Buggeln
2022, S. 292 ff.) und die rasant ansteigenden Reichsausgaben verantwortlich war. Der Finanzminister erlangte in der Weimarer Republik eine Sonderstellung, da er nicht nur sein Ressort selbstständig gegenüber dem Parlament vertrat, sondern auch im Kabinett bei Etatfragen nur durch eine qualifizierte Mehrheit überstimmt werden konnte (Klein
1970, S. 26). Reichsfinanzminister Joseph Wirth gelang es, einen entsprechenden Kabinettsbeschluss zur Eindämmung der Finanzprobleme 1922 in eine gesetzlich verankerte Vetomacht umzuwandeln. In der Reichshaushaltsordnung erhielt er ein Widerspruchsrecht über alle Kabinettsbeschlüsse mit haushaltspolitischen Implikationen. Auch auf Verwaltungsebene etablierten sich Vetoroutinen für die Ausgabenwünsche der Fachministerien, worin sich ein tiefes Misstrauen „gegenüber der ‚Geschenk‘-Wirtschaft des parlamentarischen Regierungssystems“ in der jungen Republik niederschlug (Witt
1975, S. 40). Manche Beamte forderten gar eine „diktatorische Sonderstellung“ (ebd., S. 36) für den Reichsfinanzminister zur Stärkung seiner „Ablehnungsmaschinerie“ (ebd., S. 38) gegenüber Ausgabenwünschen. Dieses diktatorische Element realisierte sich allerdings nur in krisenhafter Form. Sich vertiefende Konflikte in der Weimarer Republik und im Kontext der Großen Depression führten dazu, dass das Reichsfinanzministerium auf Basis vorläufiger Haushaltsführung und Notverordnungen zum Teil drastische Sparmaßnahmen durchsetzte. So summierten sich die realen Ausgabenkürzungen unter Reichskanzler Brüning zwischen 1930 und 1932 auf etwa 11 Prozent des Gesamthaushalts (Buggeln
2022, S. 358; Middendorf
2015, S. 150).
Bis zur Machtergreifung Hitlers war der Reichsfinanzminister somit zwar kein Schattendiktator, jedoch ein mächtiger Vetospieler im Sinne seines kabinettsinternen Rollenverständnisses und der haushaltspolitischen Auffassungen, die in seinem Ministerium vorherrschten. Der Haushalt sollte die Einheitlichkeit, Transparenz und Ausgeglichenheit staatlicher Finanzen als „Symbol des Für-sich-stehens des Staates“ (Mann zit. n. Middendorf
2015, S. 163) zur Geltung bringen – eines Staates, der in der deutschen Tradition ohnehin als wesentlich abgeschlosseneres Gebilde gedacht wurde als in der angelsächsischen oder selbst französischen Tradition (Buggeln
2022, S. 40). Entsprechend „wurde der Finanzminister zwar mit Vetorechten eines kameralistischen ‚Sparsamkeitsministers‘ ausgestattet, den Erfordernissen einer zentralen politischen Finanz- und Wirtschaftsplanung […] wurde aber […] institutionell kaum Rechnung getragen“ (Hirsch zit. n. Zunker
1972, S. 57). Bereits 1927 schrieb ein ehemaliger Beamter von der „rein juristischen Einstellung des Reichsfinanzministeriums“ (Ball
1927, S. 35) und vermisste sowohl ein volkswirtschaftliches als auch ein statistisches Referat. Auch nach der „Keynesianischen Revolution“ seit den 1930er-Jahren (Hall
1989) gewann das Ministerium keine Zuständigkeiten für makroökonomische Politik.
7
Die Stellung des BMF nach 1945 steht in erstaunlicher Kontinuität mit diesen Gründungsakten reichsdeutscher Finanzverfassung. Die Reichshaushaltsordnung von 1922 galt bis 1969 und wurde anschließend durch Regelungen ersetzt, die die Verfahrens- und Sanktionsmächte des Finanzministers erhielten. Auch die Geschäftsordnung der Bundesregierung von 1951 bestätigt, dass der Finanzminister ein Widerspruchsrecht gegenüber allen Kabinettsentscheidungen mit finanzieller Tragweite hat (§ 16 Abs 1). Ferner sind zentrale Aufgaben des Ministers bei der Aufstellung des Haushalts und Rechnungslegung im Grundgesetz festgeschrieben, sodass der Bundeskanzler die Rolle des BMF nicht durch Organisationserlasse oder -gesetze umdefinieren kann.
In der Nachkriegszeit bestätigte sich auch die noch aus kameralistischen Traditionen hervorgegangene Arbeitsteilung zwischen Finanz‑, Industrie- und Arbeitsmarktpolitik, die keine Stelle mit Zuständigkeit für fiskalpolitische Nachfragesteuerung vorsah. Im Wirtschaftsministerium, nicht im BMF, wurden ökonomische Grundsatzfragen behandelt und makroökonomische Prognosen erstellt. Allerdings nutzte das Wirtschaftsministerium diese Expertise nicht für Konjunktursteuerung oder Investitionsplanung, sondern primär zur Artikulation angebotsseitiger Interessen. Der Finanzminister hingegen blieb primär auf die Durchsetzung ordnungsgemäßer Haushaltsführung fokussiert. „[D]as Denken in ökonomischen Kategorien mit längerfristigen Bedürfnis- und Dringlichkeitsvorstellungen“ stieß damit, so Ullmann (
2017, S. 39), „auf fast unüberwindliche Schwierigkeiten“. Erst 1966 führte das BMF eine Abteilung für Grundsatzfragen ein (Klein
1970, S. 55), die stärker an makroökonomischer Expertise orientiert war, wie sie auch der wissenschaftliche Beirat vertrat (Ullmann
2017, S. 58 f.).
8 Schließlich führte die Einführung der Schuldenbremse 2011, die in der Grundsatzabteilung des Bundesfinanzministeriums entwickelt worden war, dazu, dass sich deren operative Bedeutung erhöhte. Seit 2010 prognostiziert die Grundsatzabteilung die zentralen Variablen zur Definition des fiskalischen Spielraums, wie etwa das Potenzialwachstum oder die Steuerelastizität (OECD
2015, S. 10). Diese Voraussagen sind jedoch nicht Teil makroökonomischer Planung von ausgabenseitiger Fiskalpolitik. Ebenso wie jene des wissenschaftlichen Beirats bleibt die Bedeutung der Grundsatzabteilung im BMF im Prinzip prekär und variiert stark in verschiedenen Regierungskonstellationen (Ullmann 2017, S. 59).
In der Kontinuität der Gründungsphase des Reichsministeriums in der Weimarer Republik findet sich die Kerneinheit des BMF, und damit sein eigentliches hauspolitisches Machtzentrum, vielmehr dort, wo die Aufstellung des jährlichen Haushalts erfolgt. Bis heute gelten intern und extern die „Haushälter“ in BMF-Abteilung II als die mächtigsten Karrierebeamten im eigenen Haus, wenn nicht gar in der Bundesverwaltung insgesamt. Diese Machtstellung spiegelt sich in der Tatsache relativer organisationaler Geschlossenheit und Beständigkeit wider. Die in die Abteilung rekrutierten Beamten verbleiben dort über viele Jahre und werden seltener nach Regierungswechseln ausgetauscht als in anderen Bereichen. Zunker (
1972, S. 70 f.) stellte fest, dass im Zeitraum 1959–1969 14 von 43 Einzelplänen über fünf und zum Teil zehn Jahre von denselben Referatsleitern betreut wurden. Eine Analyse der Fluktuationsraten des Abteilungspersonals seit der ersten Regierung Merkel bestätigt dieses Bild. Nur im Kabinett Merkel I lag die Rate des Personalwechsels vom Ende der letzten Legislaturperiode bis zum darauffolgenden Wahljahr in der Haushaltabteilung leicht über derjenigen der Grundsatzabteilung. Für alle anderen Perioden lag die Rate in der Haushaltsabteilung deutlich unter derjenigen der Abteilung I (siehe Tabelle
1). Der zuständige Staatssekretär für den Haushalt Werner Gatzer hielt von 2005 bis Ende 2023 unter wechselnden SPD-, CDU- und FDP-Ministern für 18 Jahre seinen Posten.
Tabelle 1
Personalfluktuationen im Bundesministerium der Finanzen; Fluktuationsrate = 1 − von Personen aus Vorperiode / alle Personen aus Vorperiode (Quelle: Eigene Darstellung)
Merkel I | Steinbrück | 0,22 | 0,29 |
Merkel II | Schäuble | 0,5 | 0,21 |
Merkel III | Schäuble, Altmaier | 0,33 | 0,21 |
Merkel IV | Scholz | 0,48 | 0,38 |
Scholz | Lindner | 0,5 | 0,24 |
Die Erklärung für dieses auffällig geringe Fluktuationsmuster liegt darin, dass die Haushaltsabteilung essentielles Wissen in der Aufstellung und Verhandlung des Haushalts monopolisiert hat. Dieses Wissen gründet nicht auf Makroökonomik oder etwaige Methoden der Kosten-Nutzen-Analyse, sondern auf Erfahrungswissen bezüglich der betreuten Fachressorts, des Haushaltsrechts und seiner Spielräume. Zudem kennen die in Spiegelreferate gegliederten Beamten ein Repertoire taktischer Optionen im Umgang mit den Fachressorts (Int. AH, RS [siehe Interviewverzeichnis]). Der Konservatismus dieser „Fiskaljuristen“ besteht demnach weniger in der Verfolgung ideologischer Positionen als in einer stark tradierten, umgrenzten Perspektive auf Spielräume, Handlungsoptionen und Ziele der Haushaltspolitik (Int. JW, LS).
Weil das BMF kaum über übergeordnete, direkt in die Haushaltsaufstellung eingreifende Planungskomponenten verfügt, ist der Konservativismus der Haushälter die Ausgangsbasis, von der aus der Finanzminister sich politisch zu profilieren versucht (Mayntz und Scharpf
1975, S. 66, 86). In diesem Sinne zeigte Wolfgang Schäubles Eintreten für die „Schwarze Null“ – sprich: für den Haushaltsausgleich ohne Neuverschuldung – weniger eine
Wende hin zu strikter Haushaltsdisziplin an, als seine Fähigkeiten zur Vermarktung von Ergebnismustern, die sich aus dem Zusammenspiel günstiger makroökonomischer Umstände und strukturkonservativer Entscheidungsroutinen ergaben. Wie ausgehend von diesen Eigenschaften des BMF das Haushaltsverfahren funktioniert und warum es ausgeprägte inkrementalistische Züge aufweist, diskutiere ich im folgenden Abschnitt.
4 Inkrementalistische Haushaltsverhandlungen
Das Haushaltsverfahren gliedert sich in zwei wesentliche Abschnitte: Der erste Abschnitt umfasst die Verhandlungen der Regierung über die Eckwerte und den Regierungsentwurf; der zweite umfasst die Verhandlungen im Haushaltsauschuss des Bundestags nach der ersten bis zur dritten Lesung im Herbst, die üblicherweise über den Haushalt des Folgejahres entscheidet. Das Ziel meiner Analyse dieses wiederkehrenden Verfahrens ist, zu zeigen, dass die einzelnen Bundesminister in ihrer dreifachen Rolle als Spitzen der Ministerien, Mitglieder von Koalitionsregierungen und Führungspersonal ihrer Parteien im Zentrum der Verhandlungen stehen. In der Exekutive bringen sie die Machtbalancen zwischen Fachministerien und BMF sowie zwischen Koalitionspartnern zur Geltung. Dem Bundestag stehen sie hingegen als relativ eigenständige Regierungs- und Ressortrepräsentanten gegenüber, weshalb dortige Änderungs- und Kürzungswünsche an ihren Budgets vor allem als Zeichen mangelnder politischer Unterstützung gewertet werden. Die ineinandergreifenden Koordinationslogiken in der Exekutive und Legislative befördern mithin einen besonders hartnäckigen Inkrementalismus, der unter strukturell steigenden Sozialausgaben zur Verdrängung von Investitionsausgaben führt.
4.1 Eckwertebeschluss und Haushaltsentwurf der Regierung
Ein historisch äußerst stabiles Merkmal des deutschen Haushaltsverfahrens ist, dass es mit der Aufforderung des Finanzministers an die Fachressorts beginnt, ihre Finanzbedarfe für das zu verhandelnde Haushaltsjahr anzumelden. Seit Einführung der Schuldenbremse weist der Finanzminister in seinem Schreiben auf die prognostizierten Ausgabenspielräume unter Berücksichtigung der Neuverschuldungsgrenze von 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung hin, seit 1970 die „goldene Regel“ nach GG Art. 115. Allerdings war es auch schon vor 2011 üblich, dass Finanzminister diese grundgesetzliche Regelung anführten, um Ausgabenrestriktionen zu kommunizieren. Wesentlicher für den ersten Schritt im Haushaltsverfahren sind deshalb zwei Merkmale: Erstens setzt man die verfügbaren Haushaltsmittel als gegeben voraus. Verfügbare Einnahmen werden demnach als ein Datum und nicht als Gegenstand politischer Entscheidungen, etwa in Form von Steuerreformen, behandelt (Wehner
2001, S. 60). Und zweitens melden die Fachressorts ohne formale Bindung an Ausgabenlimits ihre Bedarfe an. Im Fachjargon beginnt die Aufstellung des Haushalts in Deutschland also „bottom up“, nicht „top down“ (OECD
2015).
Der nächste Schritt im Haushaltsverfahren besteht in der Prüfung der Anmeldungen durch die jeweiligen Spiegelreferate des BMF. Diese Prüfung sowie die anschließenden Verhandlungen konzentrieren sich auf wiederum zwei Aspekte der Einzelpläne: Erstens orientieren sich sowohl die Fachministerien bei der Formulierung ihrer Ansprüche als auch die Spiegelreferate bei ihrer Prüfung an den Vorjahresplafonds (Int. UR). Im strikten Wortsinn von Inkrementalismus werden also immer relative Veränderungen zum Status quo verhandelt – bei günstigen fiskalischen Lagen in Richtung relativer Steigerungen, bei schwierigen Lagen in Richtung Kürzungen mit den folgerichtigen Kämpfen der Ministerien um das eigene Budget. Die Fachressorts können zwar mit hohen Ansprüchen ihre Machtstellung und Ambitionen signalisieren, liefern sich dann aber der Gefahr deutlicherer Eingriffe durch das BMF aus. Die Haushälter im BMF hingegen antizipieren zwar erhebliche politische und organisationale Widerstände bei der Reduktion bisheriger Anspruchsniveaus, finden sich je nach Haushaltslage aber in einer starken Position bei der Abwehr von Zusatzansprüchen. Diese Abwehrversuche werden gestärkt durch die Vetomacht des Finanzministers.
Die Kompromisssuche konzentriert sich dann auf Einzeltitel in den Ressortplänen. Existierende Titel werden zumeist als gegeben hingenommen, weil ihre systematische Durchsicht schon aufgrund mangelnder Ressourcen unmöglich wäre und zudem Bestandsinteressen berühren würde. Zur Identifikation von Einsparpotenzialen fokussieren sich die BMF-Haushälter deshalb auf neue, nicht gesetzlich verpflichtende Anmeldungen. Fehlt zum Beispiel eine unabweisbare Begründung mit Bezug auf das Regierungsprogramm, die „Etatreife“ (d. h. die unmittelbare wirtschaftliche Einsatzbarkeit der Gelder) oder die Konformität mit anderen Aspekten des Haushaltsrechts, sehen die Spiegelreferate relativ schnell Streichungspotenziale. Fatal für (soziale) Investitionstätigkeit wirkt in diesem Zusammenhang, dass Investitionen zumeist diskretionäre Ausgaben sind, besondere Umsetzungsschwierigkeiten mit sich bringen und aufgrund ihrer geringen Salienz und Langfristigkeit (Breunig und Busemeyer
2012) seltener durch spezifizierte politische Übereinkommen der Koalitionen gedeckt sind. Ihre Einschränkung bei günstigen fiskalischen Bedingungen oder Streichung im Fall knapper Einnahmen ergibt sich also strukturell aus der Steigerung der konsumptiven Pflichtausgaben.
Die Verhandlungen folgen dem Prinzip verschiedener Eskalationsstufen (Int. RS). Um die Plafonds zu deckeln, versuchen die Leiter der Spiegelreferate zunächst, bei den Fachressorts Einsparungen bei sämtlichen Titeln durchzusetzen, die zur Disposition stehen. Auf höheren Hierarchiestufen, vom Unterabteilungs- und Abteilungsleiter über die Staatssekretäre bis zum Minister, lassen sich dann noch andere Einfluss- und Machtressourcen für die Verhandlungen mobilisieren. Der Finanzminister kann einerseits seine Vetomacht im Kabinett androhen, um die Kollegen der Fachministerien zu disziplinieren. Andererseits sind diese Kollegen nicht selten die Führungspersonen anderer Parteien. Damit wird die Einigung über die Einzelpläne zu einer Frage von Machtbalancen innerhalb der Regierungskoalitionen. Einwilligungen auf Seiten der Finanz- oder Fachminister können mit Zugeständnissen in anderen Politikbereichen erkauft werden. Es herrscht insofern Kompromisszwang, weil an der bilateralen Einigungsfähigkeit unter den Akteuren die Regierungsstabilität hängt.
4.2 Die Verhandlungen im Haushaltsausschuss
Mit dem Beschluss zu den Eckwerten, der meist im März für das darauffolgende Budgetjahr getroffen wird, und dem Regierungsentwurf, der dann meist im Juni folgt, sind Verteilungsformeln unter dem BMF und den Fachministerien gefunden, die die Ansprüche auf Haushaltsdisziplin des Finanzministers erfüllen und zugleich Kompromisse innerhalb der Koalition zum Ausdruck bringen. Dies bedeutet, dass die formale „Budgethoheit“ (Waldhoff
2018) des Bundestages – sprich: die parlamentarische Souveränität zur Anpassung des Regierungsentwurfs und zur Verabschiedung des Haushaltsgesetzes – in zwei Hinsichten eingeschränkt ist. Einerseits müssen sämtliche Änderungen am Etat so ausfallen, dass sie für das BMF zustimmungsfähig bleiben. Der Finanzminister kann diese Zustimmung auch verweigern.
9 Zweitens könnten drastische Änderungen des Budgetplans die Stabilität von Koalitionen gefährden, weil bereits geschnürte Kompromisspakete wieder geöffnet würden. Die Koalitionsfraktionen im Bundestag sind deshalb angehalten, ihre Mehrheiten zur Stützung der Kompromisse zu mobilisieren.
In seiner Identität und Arbeitsweise hat der Haushaltsausschuss sich auf diese Imperative des parlamentarischen Regierungssystems eingestellt. Der Fokus liegt auf der Prüfung ministerieller Ausgabenpläne, nicht auf einer übergeordneten Politisierung von Haushaltspolitik oder der Formulierung von ambitionierten Ausgabenprogrammen (Wehner
2001). Die Haushälter des Bundestags sehen sich deshalb als relativ abgekoppelt von sonstigen parlamentarischen Debatten und Verhandlungen. Vielmehr begreifen sie sich als Aufseher, die kontrollieren, ob angemeldete Ausgaben tatsächlich notwendig und wirtschaftlich darstellbar sind. Ein ehemaliger Vorsitzender beschreibt das Selbstverständnis dementsprechend wie folgt: „Haushälter sind eine parteiübergreifend verschworene Gemeinschaft, die auf die Finanzierbarkeit des politischen Wollens achtet.“ (Int. KD, siehe auch Wehner
2001)
Deutlich zeigt sich der Fokus auf die Prüfung ministerieller Ausgabenpläne in der Arbeitsweise des Ausschusses. Diese besteht primär darin, dass Berichterstatter der verschiedenen Fraktionen spezifische Einzelpläne durchsehen und etwaige Änderungsanträge vortragen (OECD
2015, S. 66). Hierfür besucht man die entsprechenden Ministerien, lädt die Minister vor und sucht vor allem nach Einzeltiteln, die man besonders unterstützt oder zur Disposition stellt (Int. GS). Bei ihrer einzeltitelbezogenen Ausgabenkritik stützen sich die Parlamentarier zumeist auf den Bundesrechnungshof, den eine Abgeordnete als „engsten Verbündeten“ des Haushaltsauschusses bezeichnet (ebd.). Jenseits dessen bleibt den Berichterstattern oftmals nichts anderes üblich, als sich auf wiederkehrende Posten ohne substanzielle politische Bedeutung, wie geplante Ausgaben für Öffentlichkeitsarbeit oder Reisen, zu konzentrieren.
10 Für eigene, aufwendigere Analysen und Recherchen fehlen schon die Mittel.
11 Streichungsvorschläge der Berichterstatter sind denn auch oft weniger sachorientiert begründet, sondern vielmehr Teil politisch-symbolischer Kommunikation: Man zeigt der Kollegin Ministerin mit materiell geringfügigen Streichungen an, dass man unzufrieden mit ihrer Arbeit ist. Eine Abgeordnete erklärt: „Wenn man […] der Auffassung ist, der Minister oder die Ministerin hat das nicht gut vorbereitet, dann wird eben ein Titel [als] gesperrt qualifiziert.“ (Int. GS)
Die Abstimmungen über die Änderungsvorschläge der Berichterstatter enden mit der Bereinigungssitzung, die in makaberer Anspielung auf den sog. Röhm-Putsch auch als „Nacht der langen Messer“ bezeichnet wird. Die Bereinigungssitzung nimmt deshalb eine Sonderstellung ein, weil bei dieser
in camera stattfindenden Sitzung gegen Ende der Beratungen das BMF keine Eingriffsmöglichkeiten mehr hat. Abgeordnete nutzen die Sitzung deshalb, um noch einige Zusatzausgaben einzubringen, für die sie sich als Anwälte positionieren und/oder die in ihrem eigenen Wahlkreis getätigt werden sollen.
12 Diese Änderungen sind aber genau deshalb möglich, weil sie so marginal bleiben, dass sie die Verteilungs- und Kompromissformeln der Exekutive nicht gefährden. Das BMF antizipiert diese kleinen Verschiebungen daher sogar und plant ein gewisses „Spielgeld“ für Ausgabenwünsche der Abgeordneten ein (Int. JW).
5 Das institutionelle Profil des bundesdeutschen Haushaltsregimes
Im Jahr 2023 beliefen sich die im Haushalt veranschlagten Ausgaben des Bundes auf 476,3 Milliarden Euro. Damit gibt der Bund
allein – sprich: ohne Länder und Gemeinden – 13 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) der Bundesrepublik aus. Wohl kaum eine Soziologin würde bestreiten, dass wir zur Erklärung dieser Ausgabenvolumina und ihrer Verteilung Begriffe und Forschungsansätze brauchen, die von der dominanten Perspektive auf die Ökonomie als rein marktbasiertem Allokationsvorgang abweichen. Schon die frühe, vor allem deutschsprachige Finanzsoziologie entwickelte dieses Argument (Ritschl
1931). Trotzdem finden wir in der Neuen Finanzsoziologie kaum Arbeiten, die Haushalte mit einer entsprechenden Perspektive erforschen.
Die gegenwärtige politikwissenschaftliche Forschung zeigt größeres Interesse an Fiskalpolitik, hat sich aber auf relativ eng umgrenzte Forschungslinien eingeschossen: Die Rolle wirtschaftlicher und elektoraler Interessen steht im Fokus (Beramendi et al.
2015). Die Hauptkritik an diesem Ansatz kommt von Forschern, die die Bedeutung von Ideen und Ideologien betonen (Blyth
2003; für einen Syntheseversuch siehe Bremer
2023). Trotz starker institutionalistischer Traditionen des Fachs werden entsprechende Aspekte eher stiefmütterlich behandelt. Die Einordnung von Fällen erschöpft sich meist in Unterscheidungen von korporatistischen gegenüber marktbasierten Modellen, Mehrheits- gegenüber Verhältniswahlrecht, und föderalen gegenüber zentralisierten staatlichen Strukturen.
Aus diesem Grund argumentiere ich für eine Soziologie der Haushaltspolitik, die nicht die üblichen Forschungsgegenstände, wie etwa die Einstellungsmuster der Bevölkerung ins Zentrum rückt, sondern zu einer tiefergehenden Analyse institutioneller Verfahren und der dadurch geformten Strategien von Leistungsträgern innerhalb des politischen Systems beiträgt (Padgett
1981; Wildavsky
1964). Die stark institutionalisierten, über das Haushaltsverfahren in spezifischer Weise zur Geltung kommenden Beziehungen zwischen Parlament, Regierung und Verwaltung können maßgeblich zur Erklärung von haushaltspolitischen Entscheidungsmustern beitragen. Meine inhaltliche Begründung für diesen Fokus liegt in der Natur des Gegenstandes: Über den Haushalt bestätigt das Parlament im jährlichen Zyklus die Ausgabenpläne von Regierung und Verwaltung. So können Staatsaktivitäten politisch beaufsichtigt und zu einem gewissen Grad gesteuert werden. Gleichzeitig affirmiert sich in den haushaltspolitischen Beschlüssen die Angewiesenheit der Politik auf Verwaltung. Wie dieser Nexus zwischen politischen Akteuren und Verwaltungsapparat in bestimmten Kontexten zustande kommt, erfordert sowohl ein vertieftes Verständnis politischer Institutionen als auch der spezifischen Verfahrenslogiken beim Aufstellen des Haushalts, die kontextuell angepasste Akteursstrategien auf den Plan rufen.
Daran anknüpfend liegt meiner obigen Untersuchung das Bestreben zugrunde, den weithin beobachteten, oft kritisierten Strukturkonservatismus deutscher Haushaltspolitik institutionssoziologisch zu erklären. Den Ausgangspunkt dafür bildet die wichtige Einsicht, dass die Institutionalisierung des deutschen Wohlfahrtsstaats über Sozialversicherungen im 19. Jahrhundert bedeutete, dass, anders als in anderen Ländern, die Politik der Sozialausgaben hierzulande von der Nachfragesteuerung strukturell entkoppelt blieb (Weir und Skocpol
1985). Bereits im Kaiserreich (Klein
1970, S. 23), vor allem aber nach 1918 konzentrierte sich die Aufgabenstellung des Finanzministers auf die Herstellung eines ordnungsgemäßen, vollständigen, nach Möglichkeit ausgeglichenen Haushalts als Ausweis staatlicher Selbständigkeit. Hierfür wurde der Finanzminister von vornherein mit Sondermächten ausgestattet, die es ihm erlauben, seinen Kabinettskollegen und den Parlamentariern gegenüber als disziplinarische Autorität aufzutreten. Die institutionelle Identität und regierungsinterne Position des heutigen Bundesministers der Finanzen stehen in erstaunlicher Kontinuität mit diesen Gründungsprinzipien der deutschen Finanzverfassung. Auch die Arbeitsweise des BMF erweist sich als beständig und relativ abgekoppelt von Umweltveränderungen, Machtwechseln und programmatischen Konjunkturen, wie sich an der ungewöhnlichen Kontinuität des Personals und seinen stabilen Routinen ablesen lässt.
Die formalen Machtmittel des Finanzministers sowie die Strukturen und Kulturen seines Apparats erlangen ihre spezifische Bedeutung aber erst über ihre Beteiligung an dem dargestellten Verfahren zur Haushaltsaufstellung, bei dem es immer auch um das parlamentarische Regierungssystem als Ganzes geht. Ich habe argumentiert, dass die Fachminister die focal actors in diesem Verfahren sind, weil sie drei Funktionen zusammenbringen: Sie repräsentieren ihre Ressorts, sie sind Mitglieder eines Regierungskollegiums namens Kabinett, und sie sind Spitzenpolitiker von Parteien, die als Fraktionen in Kooperation mit den Koalitionspartnern Mehrheiten organisieren. Auch wenn sie nicht notwendigerweise selbst handelnd eingreifen, lassen sich an den Bundesministern deshalb zwei kritische Momente des Haushaltsverfahrens festmachen: erstens die bilaterale Kompromissfindung zwischen BMF und Fachressort mit Orientierung an Variablen wie Vorjahres-Plafonds und neuen diskretionären Ausgaben, die einen starken Inkrementalismus erzeugen; zweitens die Verhandlung des Haushaltsentwurfs der Regierung im Bundestag, die sich im Wesentlichen auf die Prüfung einzelministerieller Arbeit fokussiert, und in der symbolische Kürzungen genutzt werden, um Bewertungen der Minister zu kommunizieren. Dabei sind die Spielräume des Parlaments eingeschränkt durch die vom BMF beaufsichtigte Fiskaldisziplin und die Notwendigkeit, die in der Exekutive geschlossenen Kompromisse zu bestätigen.
Mit der Betonung der Bedeutung interner Beziehungen im politischen System soll nicht die Relevanz von spezifischen elektoralen Koalitionen oder von machtvollen wirtschaftlichen Akteuren mit ihren jeweiligen parteipolitischen Fürsprechern negiert werden. Betrachtet man die Entwicklung des Bundeshaushalts, kann man unschwer erkennen, dass die Sicherung von Bestandsinteressen an Wohlfahrt, insbesondere Alterspensionen und Gesundheitsschutz, einen immer größeren Anteil ausmachen, zu größeren Gesamtausgaben führen und/oder andere Ausgaben verdrängen (Streeck und Mertens
2010,
2011). Warum aber in Deutschland die Sozialausgaben Aufwendungen für Investitionen insbesondere in den 2010er-Jahren trotz fiskalischer Spielräume in so starkem Maße verdrängt haben, erfordert ein Verständnis davon, wie das parlamentarische Regierungssystem und die Bürokratie verzahnt sind. Wie gezeigt, stehen mächtige Finanzminister, wie in den 2010er-Jahren insbesondere Wolfgang Schäuble, Fachministern gegenüber, die bei dem Kampf um Mittel vor allem „ihre“ Häuser und ihr Gewicht in der Koalition im Blick haben. Über Ressorts hinausgehende, pro-aktive Investitionspolitik gerät bei diesen inkrementalistischen Verhandlungslogiken ganz von selbst ins Hintertreffen.
Behandelt man die Volumina und Verteilungen von öffentlichen Geldern nicht nur als explananda, sondern auch im Sinne des finanzsoziologischen Begriffs des „Symptoms“, dann ergibt sich noch eine weitere wichtige Erkenntnis über den deutschen Strukturkonservatismus. Zur Verdeutlichung dieses Punktes hilft ein Vergleich mit Aaron Wildavskys’ Arbeiten zur „alten“ (Wildavsky
1964) und „neuen“ Budgetpolitik (Wildavsky und Caiden
1992) der Vereinigten Staaten, in deren Rahmen der oben gebrauchte Begriff des Inkrementalismus entwickelt wurde. Diesen prägte Wildavsky für das Zusammenspiel der „agencies“ des Präsidenten, bzw. seines
Bureau of the Budget, und des Kongresses, wobei einige Parallelen zu Deutschland bestehen. Die Kompromissfindung, so die Beobachtung, spielt sich in den USA allerdings nicht
in der Exekutive, sondern
zwischen Kongress und Präsident ab, und zwar auf bruchstückhaft-tentative Art und Weise. In der „neuen“ US-Budgetpolitik, die Wildavsky ab Ende der 1960er-Jahre beobachtete (siehe auch Quinn
2017), hatten sich die Akteure hingegen bereits vom Inkrementalismus, also vom Prinzip der Kompromissfindung hinter verschlossenen Türen, abgewendet: Die Vorjahresplafonds waren nicht länger fiskalischer Ausdruck eines Konsens über den Status quo. Stattdessen neigten die Parlamentarier sowohl auf Ebene der einzelnen „agencies“ wie auch des Gesamtbudgets zu öffentlich sichtbaren Politisierungen. Diese Logik der Konfliktausweitung (Schick
1995, S. 135) setzt sich bis heute fort (Crowley
2021) und findet ihren dramatischen Höhepunkt im jährlich drohenden „Shutdown“ infolge scheiternder Haushaltsverhandlungen zwischen Weißem Haus und Kongress.
Im Kontrast dazu ist der deutsche Strukturkonservatismus symptomatisch für ein politisches System, dessen konstitutive Akteure bis auf wenige Krisenphasen ihre institutionell aufeinander abgestimmten, historisch etablierten Rollenprofile und eng umgrenzten Handlungsspielräume selten verlassen oder öffentlich politisieren. Insbesondere die Regierungsparteien nehmen ihre politischen Chancen bisher primär über die ressortpolitischen Spielräume ihrer Minister innerhalb von Koalitionen wahr, in denen Ausgabenspielräume nur über Kompromisse mit mächtigen „Sparsamkeitsministern“ und ihrem effektiven Verwaltungsapparat zu erschließen sind. Die Macht des Parlaments und insbesondere der Opposition erschöpft sich in der Kritik an ebendiesen Ministern und der Beeinflussung von Einzeltiteln, die nicht mehr als „fragments“ (Wildavsky
1964, S. 59) des Gesamtbudgets ausmachen. Sofern überhaupt grundsätzlich andere Ausrichtungen in der Haushaltspolitik öffentlich gefordert werden, bleiben diese Positionen in der gegebenen Struktur ohne durchschlagende Konsequenzen. So kritisiert die Linkspartei in in ihrer bundespolitisch daueroppositionellen Rolle zwar öffentlich die Schuldenbremse, spielt aber im Haushaltsausschuss genau dasselbe Spiel wie alle anderen Parteien, weil ihr ja auch bei stabilen Regierungsmehrheiten nicht viel anderes übrigbleibt.
Vor diesem Hintergrund bin ich skeptisch, dass die Corona-Pandemie eine Abkehr von der deutschen Haushaltspolitik der vergangenen Jahrzehnte verursacht hat, wie Haffert und Seelkopf (
2023) vermuten. Zwar hat die Pandemie zeitweise Spielräume für Mehrausgaben in fast allen Bereichen, und nicht zuletzt für soziale und materielle Investitionen freigesetzt. Doch damit haben sich vor allem die Anspruchsniveaus verschoben, mit denen der wiedereinsetzende Inkrementalismus unter den Vorgaben der Schuldenbremse zurechtkommen muss. Auch die Beobachtung, mit einer stärker an der internationalen Makroökonomik orientierten Grundsatzabteilung im BMF habe ein neues Verständnis von Fiskalpolitik in Deutschland Einzug erhalten (ebd., S. 6 f.), hat weniger Bedeutung für den Haushalt als Haffert und Seelkopf unterstellen. Denn wie dargestellt ist die BMF-Haushaltsabteilung
der relevante organisationale Akteur auf Bundesebene, der die Haushaltsdisziplin durchzusetzen versucht – und zwar weitgehend unabhängig von den jeweiligen Überzeugungen und Einstellungsprofilen seiner Protagonisten. Die Grundsatzabteilung mag je nach Legislaturperioden ihre ideologische Orientierung nach links oder rechts verschieben. Für das auf fiskalische Strenge ausgerichtete Rollenprofil der BMF-Beamten und den Ablauf der Haushaltsverfahren bleibt dies, wie gesehen, quasi ohne Konsequenz.
Viel eher ist deshalb zu vermuten, dass haushaltspolitische Veränderungen nicht aufgrund eines Paradigmenwechsels in der Fiskalpolitik, sondern aufgrund von Destabilisierungen des Verhältnisses von Parlament, Regierung und Verwaltung eintreten, wie wir sie zurzeit schon in der „Ampelkoalition“ beobachten. Stärkere ideologische Polarisierung und härtere Konkurrenz bei Abwesenheit mächtiger Volksparteien könnten dazu führen, dass die bisherigen Modi der Kompromissfindung im Kabinett nicht mehr greifen und/oder Fraktionen bzw. Parteiführungen Kompromisse der Exekutive nicht länger im Bundestag tragen. Dies könnte die Verfahrenslogiken der Haushaltspolitik und damit auch ihre Ergebnisse maßgeblich verändern.
6 Schluss
Die Untersuchung von Haushaltspolitik bildete eine der Kerngebiete soziologischer Forschung in der Gründungsphase der Disziplin. In der Arbeitsteilung von marktfokussierter Wirtschaftssoziologie und einer eher an Einstellungsmustern und sozialen Bewegungen interessierten politischen Soziologie ist diese Tradition in Vergessenheit geraten. Dies erweist sich als Defizit und verpasste Chance. Denn einerseits erlaubt die soziologische Untersuchung von haushaltspolititischen Verhandlungen als komplexer, kontextsensibler und sich über mehrere Ebenen erstreckender sozialer Prozess, genuine Stärken der Soziologie zur Geltung zu bringen. Andererseits befinden wir uns in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem die Rolle des Staates im Wirtschaftsgeschehen signifikant bleibt und eher noch an Bedeutung gewinnt, während die Konflikte rund um öffentliche Ausgabenpolitik zunehmen. Man denke nur an die Herausforderungen der Dekarbonisierung.
In meinem Beitrag habe ich dafür geworben, mit soziologischen Methoden die aus meiner Sicht fruchtbarste politikwissenschaftliche Tradition zur Untersuchung von Fiskalpolitik weiterzuentwickeln. Diese Tradition fokussiert auf die Rolle von politischen Institutionen, die tief in den jeweiligen Staatstraditionen und gesellschaftlichen sowie politikinternen Machtstrukturen verankert sind. Der entscheidende Beitrag der Soziologie in Bezug auf diese Tradition besteht darin aufzuzeigen, wie die entsprechenden Institutionen Koordinations- und Strategieoptionen relevanter Akteure unter sich historisch wandelnden Umständen strukturieren.
Wandel, unter dieser Perspektive, entsteht vor allem durch Koordinationsversagen und infolge der Erschöpfung strategischer Optionen für die politisch Handelnden. Solcher Wandel erzeugt nicht notwendigerweise neue Institutionen, sondern kann auch – wie in den USA – in einem anhaltenden Zustand von Anomie münden. Auch in Deutschland stellt sich die Frage, was auf eine Situation folgen mag, in der die existierenden, zumeist in der Nachkriegszeit entstandenen Institutionen sichtlich an ihre Leistungsgrenzen gekommen sind. In der Bearbeitung solch drängender Fragen, die sich für die Haushaltspolitik, aber auch für andere Politikbereiche stellen wie z. B. die Industriepolitik, bietet sich für die Soziologie eine neue Chance, ihr Theorierepertoire und ihre methodischen Stärken mit genuinen Problemlösungskompetenzen zusammenzubringen.
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.