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13-01-2016 | Vertriebskanäle | Interview | Article

„Das Nützliche vom Sinnlosen trennen“

Author: Gabi Böttcher

5:30 min reading time

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Interviewee:
Prof. Dr. Rainer Elste

lehrt Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Marketing & Vertrieb, an der Hochschule Esslingen.

Der Siegeszug der neuen Technologien schreitet in rasantem Tempo voran. Die Digitalisierung hat auch den Vertrieb verändert. Springer-Autor Rainer Elste über die Herausforderungen und Chancen.

Springer Professional: Herr Professor Elste, warum führt für Sie kein Weg an der Digitalisierung des Vertriebs vorbei?

Rainer Elste: Das Thema Digitalisierung im Vertrieb ist mehrschichtig zu betrachten: Zum einen nutzt der Kunde die Digitalisierung in massivem Umfang, was ihm mehr Transparenz, mehr Alternativen, stärkere Möglichkeiten des Austauschs usw. verschafft. Von daher ist der Vertrieb von seinen Kunden getrieben, auch die eigenen digitalen Angebote weiter zu entwickeln. Eine weitere Facette ist das, was der Vertrieb selbst an Digitalisierungsbestrebungen verfolgt, beispielsweise um Vertriebsprozesse effizienter zu gestalten und effektiver Kunden betreuen zu können. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass heute viel alter Wein in neuen Schläuchen verkauft wird, wenn von Digitalisierung, Industrie 4.0 und so weiter gesprochen wird.

Gerade der Vertrieb ist hier eigentlich Vorreiter. Seit mehreren Jahrzehnten werden über EDI (Electronic Data Interchange) bereits standardisierte Bestellprozesse abgewickelt, CRM-Systeme sind auch schon sehr lange digital. Gerade bei letzterem kann man jedoch wunderbar aus der Erfahrung feststellen, dass die Digitalisierung per se keinen eigenen Nutzen darstellt. Wenn ein CRM-System dem Vertrieb übergestülpt wird ohne erkennbaren Mehrwert für denjenigen, der Daten einpflegen und weiterreichen soll, dann verkommt ein CRM zu einem Datenfriedhof, oder wie es mir neulich der Geschäftsführer einer japanischen Tochtergesellschaft sagte, zu einem CDM, einem reinen Customer Data Management.

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Digitalisierung im Vertrieb

Strategien zum Einsatz neuer Technologien in Vertriebsorganisationen

Dieses Werk beschäftigt sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem innovativen und prozessorientierten Einsatz von neuen Technologien im Rahmen vertriebsstrategischer Grundsatzentscheidungen, konzeptioneller Rahmenbedingungen sowie leitender und operativer Verkaufsaktivitäten mit dem Ziel, Vertriebsergebnisse nachhaltig zu steigern und den Vertrieb als Wettbewerbsvorteil zu positionieren.


Wo liegen für Sie die wesentlichen Erfolgsfaktoren bei der Digitalisierung von Vertriebsstrategien?

Im Wesentlichen lassen sich folgende Erfolgsfaktoren ausmachen: Grundsätzlich muss die Maßnahme Sinn machen und nicht nach dem Motto ‚die anderen machen es doch auch‘ eingeführt werden. Der Kunde muss den Nutzen derjenigen Strategien und Maßnahmen erkennen, die nun digitalisiert ablaufen, seien es zusätzliche oder ersetzende Maßnahmen. In diesem Zusammenhang darf der Nutzen aus Vertriebssicht den Kundennutzen nicht schmälern. Wie bei allen anderen Strategien, muss auch bei der Digitalisierung der Effekt gemessen werden. Weiterhin ist dafür zu sorgen, dass die Vertriebsmannschaft mitzieht. Neue Technologien bedeuten häufig einen Wandel in der Unternehmenskultur.

Besteht die Gefahr, dass die Mitarbeiter – zum Beispiel im Außendienst – angesichts der digitalen Revolution auf der Strecke bleiben, sowohl physisch als auch mental?

Der traditionelle Außendienst ist geprägt durch hervorragende Kundenbeziehungen. Wenn in der Vergangenheit ein Verkäufer erfolgreich im persönlichen Gespräch gewesen ist, dann ist Social Media womöglich nicht die geeignete Instrumentenwahl. Sie kann wahlweise zu einer Entfremdung zum Kunden oder eine Verkumpelung führen. Wir wissen aus Studien, dass nur die wenigsten Unternehmen Regeln haben, wie mit Social Media & Co. umgegangen werden soll. Das ist hochgradig gefährlich. Niemand möchte schließlich, dass ein Außendienstmitarbeiter über Twitter plötzlich zum Pressechef des Konzerns wird. Von daher sind klare Regeln erforderlich. Und nochmal: nicht alles was möglich ist, ist auch sinnvoll. Auf die Belastung bezogen muss beispielsweise berücksichtigt werden, dass wenn ich mich mit meinem Kunden über Whatsapp verbinde, ich mich nicht wundern darf, wenn er mich Tag und Nacht und am Wochenende erreichen kann und will. Ich wecke Erwartungen, die ich nicht erfüllen kann und sollte.


Der Außendienstmitarbeiter wird jedoch in der Tat nicht umhin können, seine Scheu vor Technologien, so er sie denn noch hat, abzulegen. Auch hier gibt häufig der Kunde den Takt vor bzw. auch intern wird es Ansätze geben, Prozesse weiter zu digitalisieren, die heute noch analog ablaufen: Papierbasierte Formulare und Faxe sollten endgültig der Vergangenheit angehören. Aus der After Sales-Studie, die ich mit Kollegen meiner Fakultät der Hochschule Esslingen durchgeführt habe, wissen wir, dass fast Zweidrittel der Aufträge noch papierbasiert sind.

Social Media, Big Data, Internet der Dinge, Clouds & Co – um nur ein paar Stichworte zu nennen: Muss sich der Vertrieb mit all diesen digitalen Erscheinungen beschäftigen, um eine „Digital Sales Excellence“ zu erreichen und den Ansprüchen des „Vertriebs 4.0“ zu genügen?

Es gilt das Nützliche vom Sinnlosen zu trennen. Das galt auch in der Vergangenheit. Wir müssen wirklich vorsichtig mit Buzz Words sein. Hier tummeln sich viele Möchtegern-Berater, die irgendwelche Wundermittel verkaufen wollen, was ihr gutes Recht ist, aber dem Vertrieb und vor allem den Kunden des Vertriebs Schaden zufügen können. Es gibt vielmehr bestimmte originär vertriebsbezogene Technologien, die man sich genau anschauen muss.

Beispielsweise beobachten wir gerade einen Paradigmenwechsel beim Thema Fachhandelstreue besonders im B2B: wenn neue Wettbewerber aus anderen Branchen in unsere Märkte stoßen, dann ist es ihnen relativ egal, wie alte Vertriebswege aussehen. Hier werden in kürzester Zeit neue Pfade eingeschlagen. Da darf der Vertrieb nicht lange zuschauen, sondern muss die nächsten Schritte antizipieren, im wahrsten Sinne des Wortes die Marktführung übernehmen und offen mit den Händlern über Alternativen des Direktvertriebs, sei es über Plattformen oder den eigenen Webshop oder aber über Stützpunkthändler, nachdenken, die das Doing nach der Bestellung ausführen. Wir werden hier in den nächsten Jahren in vielen Vertriebsbereichen und Branchen neue Spielregeln in Märkten vorfinden. Wer hier nicht aufpasst, wird schnell von anderen überrollt. Solche Themen sind drängender als etwa der coolere Facebook-Auftritt.

Wo sehen Sie persönlich in diesem Jahr die wichtigsten Trends beim Einsatz neuer Technologien im Vertrieb?

Der Vertrieb muss sich stärker als bisher um die Frage kümmern, wo er bleibt, wenn demnächst Maschinen die eigene Bestückung, Reparatur, Ersatzteile etc. stärker selbst initiieren. Auch wenn der Begriff Industrie 4.0 für alles Mögliche verwendet wird, darf nicht vernachlässigt werden, dass die Funktion Vertrieb z.B. bei der offiziellen Arbeitsgruppe der Bundesregierung, die das Thema initiiert hat, nicht vorkommt. Der Vertrieb muss hier sehr eng mit der Produktion und dem After Sales zusammenarbeiten.

Auch an anderen Stellen müssen wir über neue Organisationsformen nachdenken, die den Anforderungen neuer Technologien besser gerecht werden. Marketing inklusive Markenführung wird immer stärker im Vertrieb stattfinden, da die alte Aufteilung der Markenkontaktpunkte in die Kategorien und damit Funktionen Werbung, Produkt und Verkauf überholt ist. Weiterhin wird das Preismanagement sich weiter verändern: Weltweite Preistransparenz, neue Bezahlformen aber auch rechtliche Begrenzungen bei der kundengruppenbasierten Preisdifferenzierung sind nur einige Stichworte.

Neben dem bereits genannten Thema der Vermarktungskanalstrategien – direkt versus Fachhandel – wird uns ganz aktuell vor dem Hintergrund der TTIP Verhandlungen auch die Datensicherheit beschäftigen. Aus der genannten Studie wissen wir, dass die Furcht vor mangelnder Datensicherheit ganz wesentlich weitere Schritte der Digitalisierung hemmt.


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