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Published in: Standort 4/2020

Open Access 27-08-2020 | Angewandte Geographie

Wissensgenerierung mit und für nichtakademische Akteur*innen

Author: Ann-Kathrin Volmer

Published in: Standort | Issue 4/2020

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Zusammenfassung

Dieser Artikel zeigt beispielhaft Forschungsprozesse und Methoden, die eine emanzipierte Koproduktion von Wissen zwischen akademischen und nichtakademischen Akteur*innen ermöglichen. Basis der Überlegungen sind dekoloniale Ansätze bezogen auf die Kolonialität des Wissens. Sie bieten Konzepte an, wie Herrschaftsverhältnisse im Forschungsprozess bedacht werden können. Am Beispiel des Forschungszentrums für Förderung und soziale Innovation der Entwicklung der Kaffeekultur im kolumbianischen Bundesstaat Cauca (Cicaficultura) werden konkrete Methoden beschrieben, welche diese dekolonialen Konzepte umsetzen. Sie berücksichtigen, dass die Deutungshoheit über die Problemdefinition und Forschungsmethoden zwischen akademischen und nichtakademischen Akteur*innen geteilt werden. Durch diesen machtsensiblen Zugang werden Forschungsergebnisse erzielt, die für beide Akteur*innengruppen relevant sind. Dieser Artikel versteht sich als ein Impuls für die (forschende) Vermittlung zwischen kritischer und angewandter Geographie.
Dieser Artikel analysiert Möglichkeiten einer angewandten kritischen Geographie und ihrer Rolle zwischen Wissenschaft und Praxis. Der Fokus liegt auf der Wissensgenerierung mit und für nichtakademische Akteur*innen. Es geht um eine emanzipierte Koproduktion von Wissen, die wissenschaftlich relevante und praktisch anwendbare Ergebnisse liefert. Hierzu müssen die zugrunde liegenden Herrschaftsverhältnisse im Forschungsprozess berücksichtigt werden, wie es dekoloniale Ansätze bezogen auf die Kolonialität des Wissens fordern (Grosfoguel 2011). Daraus ergibt sich eine entsprechende Anpassung der Methoden in der Forschungspraxis. Die Frage ist, wie angewandte akademische Forschung mit nichtakademischen Subjekten herrschaftssensibel und lösungsorientiert durchgeführt werden kann. In diesem Beitrag stelle ich ein Beispiel wissenschaftlicher Praxis vor, das es schafft, die Lücke zwischen Wissenschaft und Praxis zu schließen. Es handelt sich um das Forschungszentrum für Förderung und soziale Innovation der Entwicklung der Kaffeekultur im kolumbianischen Bundesstaat Cauca (Cicaficultura). Es betreibt angewandte agrarökologische Forschung im ruralen Raum aus einer kritischen Perspektive. Die Forschung analysiert die Probleme über die akademisch geprägten Vorannahmen hinaus und verstärkt die praktische Relevanz der Forschungsergebnisse in den untersuchten Kontexten. Mein Artikel spricht Geograf*innen im Bereich der Entwicklungsgeografien, Agrarökologie und ruraler Planung im sog. „Globalen Süden“ an.
Mein Bezug zu diesem Thema stammt aus meinem Dissertationsvorhaben. Ich arbeite zu Konflikten um den Zugang zu und die Nutzung von natürlichen Ressourcen in Kolumbien. „Das Feld“ erschloss ich mir teils über Kontakte zu kolumbianischen Wissenschaftler*innen, u. a. durch Cicaficultura.
In diesem Artikel beschreibe ich aus dekolonialer Perspektive zunächst mögliche Prinzipien, um Machtungleichheiten im Forschungsprozess zu berücksichtigen. Im Anschluss stelle ich beispielhaft Forschungsmethoden und Ergebnisse des Forschungsinstitutes dar. Abschließend gehe ich auf den Beitrag der Ansätze für eine angewandte kritische Geographie ein.

Machtsensible Prinzipien zur Dekolonialisierung von Forschung

Post- und dekoloniale Strömungen sind sich darin einig, dass trotz der Unabhängigkeit ehemals kolonialisierter Staaten politische, epistemische und ökonomische koloniale Kontinuität besteht. Laut Maria do Mar Castro Varela (2017) liegen die Unterschiede beider Ansätze in den zugrunde liegenden Theorieansätzen und den politisch-strategischen Vorgehensweisen. Castro Varela kommt zu dem Schluss, dass beide Ansätze Strategien der Kooperation statt Konfrontation verfolgen sollten, um die gemeinsam angestrebte Dekolonialisierung voranzubringen.
In Bezug auf die Wissenschaft stellt sich die Frage, wie Machtungleichheiten im Forschungsprozess wahrgenommen und davon ausgehend in einer machtsensiblen Forschungsmethodik berücksichtigt werden können. Dieser Ansatz basiert auf dem Konzept der Kolonialität des Wissens (Mignolo 2002). Im Zusammenhang kolonialer Kontinuitäten in der Forschung bezeichnet Walter Mignolo es als imperial und oppressiv, eurozentrische Theorien auf die nichteuropäische Welt zu übertragen und anzuwenden (Mignolo 2011). Ausgehend von einer „god’s eye view“, einer nicht positionierten, allgemeinen Forschungsperspektive, werden in einer Art „egopolitics of knowledge“ (Grosfoguel 2011) Aussagen aus eurozentrischer Perspektive mit universalem Anspruch getroffen. Nichtwestliches Wissen werde in dem Zusammenhang als partikulär diskreditiert, weil es nicht universell sei. Aus dieser Kritik heraus stellen dekoloniale Denker*innen Aspekte und Denkmuster einer dekolonialen und herrschaftssensiblen Wissensproduktion vor (Grosfoguel 2011; Escobar 2018; Palermo 2013).

Schritte auf dem Weg zu einer machtsensibleren Forschung

In diesem Artikel gehe ich auf die beiden dekolonialen Prinzipien der Positionierung der Forschenden und des „borderthinking“ ein. Beide sind notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für eine machtsensible Forschung.

Positionierung der Forschenden

Das erste dekoloniale Prinzip bezieht sich auf die Positionierung des Forschenden und den damit zusammenhängenden universalen Anspruch von Wissenschaft.
By delinking ethnic/racial/gender/sexual epistemic location from the subject that speaks, Western philosophy and sciences are able to produce a myth about a truthful universal knowledge that covers up, that is, conceals who is speaking as well as the geo-political and body-political epistemic location in the structures of colonial power/knowledge from which the subject speaks. (Grosfoguel 2011, S. 6 f.)
Es ist wichtig herauszuarbeiten, von welcher epistemischen und sozialen Position aus die Subjekte sprechen (vgl. Mignolo und Escobar 2013). Es geht nicht nur um soziale Werte in der Wissensproduktion oder darum, dass Wissen immer partiell ist, sondern um den „locus of enunciation“, also die „geo-political and body-political location“ (Grosfoguel 2011) des Subjekts, das spricht. Das Verstecken dieser Positionierung, also das Sprechen von einem „point zero“ aus, erlaube es, lokale und partikuläre Perspektiven unter einem abstrakten Universalismus zu verstecken. Grosfoguel (2011) beschreibt, dass so Klassifizierungen von Wissensformen begründet wurden, die auf die Einordnung von Menschen als superior oder inferior ausgeweitet wurden – je nachdem, ob sie zu universalem Denken fähig oder unfähig kategorisiert wurden (ebd. 2011, S. 7).

„Borderthinking“

Das zweite dekoloniale Prinzip adressiert die Gefahr einer Dichotomisierung zwischen universalem und lokalem Wissen. Grosfoguel nennt es das „eurocentric vs. fundamental Dilemma“: Auf der eurozentrischen Seite stehen Ansprüche wie die Habermassche Forderung nach einer Vollendung der Moderne, auf der anderen Seite essenzialistische Strömungen, die eine „absolute Exteriorität zur Moderne“ suchen. Zur Lösung dieses Dilemmas besteht Grosfoguel auf einer Heterogenität von Wissensformen, deren Komplexität er in seiner Version des „borderthinking“ anerkennt und analysierbar macht. Anstatt die Moderne abzulehnen und dadurch in eine fundamentalistische Haltung zu verfallen, geht es im „borderthinking“ darum, die Kernkonzepte der Moderne neu zu denken. Ausgehend von den Kosmologien und Epistemologien derer, die auf der kolonialen Seite der Moderne verortet sind, können Konzepte wie Demokratie, Entwicklung und Humanität neu gedacht werden (Grosfoguel 2011; Palermo 2013). Darüber hinaus soll in einer dekolonialen Wissenschaft Wissen generiert und transformiert werden, das nicht von nordatlantischen Epistemologien und Disziplinen abhängt, sondern auf die Bedürfnisse der kolonialen Unterschiede eingeht (Mignolo 2011). Die Dekolonialisierung der Wissenschaft ist ein Weg, Machtverhältnisse in der Forschung zu erfassen.
Es gibt es eine wachsende Zahl an Methoden, die einen Beitrag zur Dekolonialisierung von Forschung leisten (vgl. Darder 2019; Smith 2002). Smith beschreibt Wissenschaft aus der Sicht Indigener Neuseelands. Aus ihrer Perspektive gelte sie als nutzlos. Sie lehre Dinge, die sie schon wussten, schlug Lösungen vor, die nicht funktionierten, um die Karrieren von Menschen zu befeuern, die schon einen Job hatten (Smith 2002, S. 3; eig. Übers.).
Das Zusammenbringen von kritischer und angewandter Forschung unter Anerkennung der dekolonialen Machtungleichheiten kann dazu führen, dass die Forschungspraxis respektvoller, ethischer, verständnisvoller und nützlicher (vgl. Patti Lather in Smith 2002; eig. Übers.) wird. Das folgende Beispiel zeigt Möglichkeiten auf, wie die theoretisch formulierten Konzepte umgesetzt werden könnten.

CICAFICULTURA – Forschungszentrum für Förderung und soziale Innovation der Entwicklung der Kaffeekultur im kolumbianischen Bundesstaat Cauca

Die Forschungsziele von Cicaficultura umfassen Strategien zur Konstruktion von sozialen und solidarischen Ökonomien und die Entwicklung von agrarökologischen Systemen. Sie wenden „soziale Forschung“ an und bearbeiten regionale Probleme in vier Achsen: Agrarökologie und Territorium, soziale und solidarische Ökonomie, interkulturelle Bildung und interkulturelle Kommunikation. („Interkulturell“ bezieht sich im regionalen Zusammenhang des Cauca auf die kulturellen Unterschiede zwischen indigenen, schwarzen und bäuerlichen Gemeinden. Diese Gruppen sind in der kolumbianischen Verfassung von 1991 definiert und mit speziellen Charakteristika und Rechten ausgestattet. Ich beziehe mich auf sie als politische Kategorien und weise eine essenzialistische oder biologistische Unterscheidung zurück [s. dazu Nates 2002]).
Der Kaffeeanbau dient Cicaficultura als Vehikel für ihre Forschungsthemen, denn er ist die größte Einkommensquelle im Cauca. So können viele Menschen erreicht werden. Cicaficultura definieren den Kaffeeanbau als eine soziale, kulturelle, ökonomische Praktik, die in die Umwelt eingebunden ist und sich immer wieder durch das Einbringen von wissenschaftlichem, technischem und lokalem Wissen der adressierten Gemeinde erneuert (Cicaficultura 2020). Das Selbstverständnis der Forschung richtet sich nach den regionalen Besonderheiten. Ihre Positionierung gegenüber den Gemeinden, mit denen sie zusammenarbeiten, beschreibt die Geografin Claudia Hurtado wie folgt: „wir kommen nie mit etwas Neuem, wir fordern nicht den Zugang zu diesem oder jenem. Erstens, weil man uns nicht lässt. Zweitens, weil wir es nicht tun wollen. Aber wir kommen an und versuchen, mit den Menschen zusammenzuarbeiten, um zu sehen, wie sie vorgehen (…). Denn sie haben einen sehr klaren territorialen Fokus und wissen, was sie brauchen“ (Interview Hurtado 2016; persönliche Kommunikation, eig. Übersetzung). Im Sinne des Forschungszieles, regionale Probleme zu adressieren, ist das eine respektvolle Herangehensweise, die die Position der Gemeinde im Forschungsprozess stärkt.
Im Folgenden werde ich beispielhaft drei Projekte von Cicaficultura anhand von vier Schritten der Forschungspraxis – (1) Fragestellung/Forschungsziel, (2) Methoden, (3) Ergebnisse und (4) Wissensverbreitung – darstellen. Dann werde ich analysieren, wie die Prinzipien des „borderthinking“ und der Positionierung dabei umgesetzt werden.
Das erste Projekt ist ein Sammelband mit dem Titel „Soziale Innovation und Dialog der Wissensformen“ (Tobar 2019; eig. Übers.). Das Anliegen des Buches ist die Erarbeitung von Kernkonzepten der Agrarökologie, basierend auf dem wissenschaftlichen Diskurs, mit besonderer Anerkennung der epistemischen Diversität und der regionalen Vielfalt im Bundesstaat Cauca (Tobar 2019, S. 10). Es soll das konzeptionelle Grundgerüst von Cicaficultura darstellen.
Das Prinzip der sozialen Innovation basiert auf der „kognitiven Gerechtigkeit“. Das bedeutet, dass die lokalen Wissensformen – von Bauern, Indigenen und Schwarzen – die Grundlage für die Stärkung der Prozesse des guten Lebens und Wohlbefindens in den genannten Gemeinden darstellen. Zusammen mit akademischem Wissen unterschiedlichen epistemologischen Ursprungs stellt dieses lokale Wissen eine Grundlage für die Forschungskonzepte von Cicaficultura dar. Das wird an folgendem Beispiel deutlich.
In einem Kapitel des Buches entwickeln die Autor*innen das Konzept der sozial-partizipativen Kartografie auf einer multiepistemischen Grundlage. Das Kapitel beginnt mit einer kritischen Revision grundsätzlich technischer Kriterien „herkömmlicher“ Kartografie. Diese wiese den Anspruch aus, dass die besten Karten die seien, die „ein zuverlässiges Bild einer klaren Objektivität aufzeigten“ (Harley 1989 zitiert in Clavijo und Castrillón 2019, S. 7) und dessen Richtigkeit durch die technischen Normen der Präzision, Messung und Validierung bestätigt werde (Clavijo und Castrillón 2019). Dieses „herkömmliche“ Konzept diskutieren und erweitern die Autor*innen mit Konzepten unterschiedlicher epistemologischer Grundlagen, die Faktoren wie Sprachen, Zugänge, Ungleichheiten, Aneignungen und Nutzung von Raum mit einbeziehen. Sie versuchen den Raum ausgehend von Begehungen der biokulturellen Kaffeelandschaft, von der gemeinschaftlichen Konstruktion, vorangegangenen Praktiken und Experimenten – räumlichen Praktiken – zu erfassen, nicht ausgehend von vorher festgelegten Repräsentationen. Anschließend können diese Praktiken zu einer „Repräsentation des Raumes“ gemacht werden (oder auch nicht), die nicht von partikulärem Wissen oder technisch-rationalem Wissen abstammt, sondern von der Rekreation/Konstruktion des Alltäglichen (Clavijo und Castrillón 2019). Auf dieser Basis erarbeiten sie eine Karte, die die Kaffeeökotope des Cauca darstellt. Die Karte dient als Beispiel und als Ausgangspunkt für einen Dialog (Clavijo und Castrillón 2019). Der so entwickelte sozioterritoriale Fokus ist nur ein Kapitel des Buches und ein Beispiel dafür, wie Alltagswissen und akademisches Wissen im Sinne des „borderthinking“ in den machtsensiblen konzeptionellen Grundlagen von Cicaficultura zusammenkommen. Das Forschungsergebnis ist ein Sammelband, der kostenlos auf der Website verfügbar ist.
Ein zweites Projekt von Cicaficultura ist die Identifikation des sozioterritorialen Fokus im Cauca. Ausgangspunkt hierfür war das Problem, dass die Strategien des Bundesstaates Cauca zur Entwicklung von Policies zur landwirtschaftlichen Produktivität die sozioterritoriale Dimension nicht berücksichtigten. „Die Einbeziehung des lokalen sozio-territorialen Ansatzes zielt darauf ab, Vorschläge zu erstellen, die Alternativen zur Entwicklung als einzige Option konzipieren. Denn jene sehen das Territorium als Generator von Waren, die dem Markt unterliegen, und unter Unkenntnis ihres multifunktionalen Charakters definieren.“ (Hurtado et al. 2015, S. 3) Forschungsziel war es, die Agrar-Policies zu ergänzen und das lokale Verständnis von Territorium und seiner Governance hervorzuheben. Fragen waren, wie Bereiche der (sozialen) Umwelt (z. B. territoriale Kontrolle, natürliche Ressourcen, ökonomische Tauschprozesse, soziale Bereiche etc.) regiert werden und welche Möglichkeiten bestehen, diese zwischen Gemeinde und staatlichen Institutionen besser zu regulieren.
Die Forschungsmethode richtete sich nach den Prinzipien des Participatory Action Research. Sie wurde in Kolumbien von Orlando Fals Borda geprägt und beinhaltet grundsätzliche Überschneidung mit dekolonialen Prinzipien: „(1) we needed to decolonize ourselves, that is, to discover the reactionary traits and ideas implanted in our minds and behaviours mostly by the learning process; and (2) to search for a more satisfactory value structure around praxis to give support and meaning to our work without forgetting scientific rules“ (Fals Borda 2001, S. 29).
Konkret wurden soziale Kartierungen und Analysen zu sozioterritorialen Repräsentationen in acht Gemeinden des Bundesstaates Cauca durchgeführt. Im Ergebnis wurden lokale Visionen zur territorialen Selbstkontrolle und das soziale Innovationspotenzial der Kaffeekultur sichtbar gemacht (Hurtado et al. 2015). Neben der Wissensvermittlung auf akademischen Konferenzen organisieren die Forschenden von Cicaficultura in Kooperation mit Universitäten und dem nationalen Agrarministerium auch Konferenzen, in denen Vertreter*innen von Gemeinden, NGOs und sonstige Interessierte gemeinsam mit Entscheider*innen administrativer Institutionen – in diesem Fall dem Agrarministerium – über die Agrar-Policies in einen informierten Austausch treten können.
Neben dem akademischen Argument, das zeigt, wie die sozioterritoriale Dimension in den Agrar-Policies nicht berücksichtigt wird und welche Konsequenzen das hat, eröffnen die Forscher*innen einen Raum, in dem die Beteiligten selbst mit den zuständigen administrativen Institutionen diese Situation diskutieren können.
Das dritte Beispielprojekt ist der Saatguttauschmarkt. Er wird regelmäßig in verschiedenen Dörfern organisiert. Hier kommen unterschiedliche Menschen zusammen: Indigene, Schwarze (s. oben), Bauern und Bäuer*innen, Forscher*innen, Studierende und weitere Interessierte. Dieser Markt wird durch viele Gruppierungen und NGOs unterstützt. Das Anliegen ist der nichtmonetäre Tausch von traditionellem Saatgut (Abb. 1). Jede anwesende Person kann und darf sich einbringen, eigenes Saatgut vorstellen oder Rezepte vorschlagen. Die lokalen Saatgutnetzwerke arbeiten für den Schutz dieses Saatguts, Ernährungssicherheit und Schutz der Biodiversität in der Landwirtschaft. Zu diesen Themen sind durch die Plattform des Wissensaustauschs verschiedene Projekte von Cicaficultura entstanden, in denen die Bedeutungshoheit über den Forschungsprozess geteilt und so der Nutzen für akademische und nichtakademische Akteur*innen gewährleistet wurde.
Eine machtsensible Forschung bezieht sich im Sinne dieser Beispielprojekte nicht nur auf die angewendete Methode, sondern umfasst alle Stufen des Forschungsprozesses. Die Erstellung der Fragestellung ist im Falle von Cicaficultura für pluriversale Weltsichten offen, die sich in der Konzeptionalisierung von Agrarökologie, in der Durchführung partizipativer Forschung und dem Wissensaustausch auf dem Saatguttauschmarkt zeigen. Dadurch wird der Nutzen der Forschung für alle beteiligten Akteur*innen erhöht. So wird eine Koproduktion des Wissens möglich, in der die Bedeutungshoheit über die Forschungsprozesse geteilt wird und die Bedürfnisse der kolonialen Unterschiede adressiert werden.
Die Forschung ist im dekolonialen Sinne kritisch, weil die Machtungleichheiten in der Kolonialität des Wissens in allen Forschungsprozessen mindestens passiv mitgedacht werden und in den akademischen Publikationen aktiv reflektiert werden. Es findet eine Transformation von Wissensformen statt, wie sie den Prinzipien des „borderthinking“ entspricht.
In der Gesamtkonzeption des Forschungsinstitutes wird eine tiefe Verbindung zwischen Theorie und Praxis deutlich. Die Forschenden positionieren sich als Teil der Universität und schaffen in dieser Rolle nutzbares Wissen für alle Akteur*innen.

Fazit

Angewandte Geographie stellt die „Problemstellungen und Relevanzen der Praxis“ (Nuissl 2012, S. 13) in den Vordergrund. Kritische Geographie thematisiert Machtungleichheiten. Die dekoloniale Kritik und die angewandte Methodik, die ich an diesen Beispielen skizziert habe, zeigen Wege, um beides zu verbinden. Durch das „borderthinking“ werden epistemologisch und ontologisch verschiedene Lösungen gefunden, die aus einer rein akademischen Perspektive nicht hervorgehen. Die Positionierung der Forschenden sowohl als Schaffende als auch Vermittelnde von Wissen schafft Kenntnisse, die in akademischen und nichtakademischen Kontexten zur Anwendung gebracht werden können. Durch das Teilen der Bedeutungshoheit und den Einsatz partizipativer Methoden im Forschungsprozess können machtsensible und innovative Forschungsergebnisse entstehen, die über akademische Kontexte hinaus langfristig wirksame gesellschaftliche Inputs liefern – anders als in zeitlich (oft auf durchschnittlich 3 Jahre) begrenzten Projekten häufig vorgesehen. Dies gilt nicht nur in Kontexten des sog. „Globalen Südens“, sondern auch in anderen humangeografischen Bereichen, z. B. der kritischen Stadtgeografie, der Wirtschafsgeografie oder anderen Bindestrich-Geographien, in denen eine Annäherung zwischen Theorie und Praxis wünschenswert ist.

Danksagung

Ich bedanke mich bei Janika Kuge, Iris Dzudzek und Christine Mauelshagen für ihre Kommentare zu diesem Artikel, bei den Forscher*innen von Cicaficultura für ihre Offenheit. Dank gilt auch den beiden anonymen Gutachter*innen für ihre konstruktive Kritik.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Metadata
Title
Wissensgenerierung mit und für nichtakademische Akteur*innen
Author
Ann-Kathrin Volmer
Publication date
27-08-2020
Publisher
Springer Berlin Heidelberg
Published in
Standort / Issue 4/2020
Print ISSN: 0174-3635
Electronic ISSN: 1432-220X
DOI
https://doi.org/10.1007/s00548-020-00663-w

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