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12.12.2012 | Energie | Interview | Online-Artikel

Auf dem langen Weg zur Green-E-City

verfasst von: Günter Knackfuß

6 Min. Lesedauer

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Experten-Interview mit Roland Borgwardt, Architekt und Energieberater in Berlin.

Die Berliner Elektromesse 2012 hat sich mit vielen Entwicklungen auf dem Energiesektor beschäftigt. Was steht auf dem Weg zur Green-E-City auf der Agenda?

Die regenerative Erzeugung von Strom spielt bei der Umsetzung der Energiewende sicherlich eine hervorgehobene Rolle. In einigen Modellprojekten wurden bereits Plusenergiegebäude realisiert, deren solare Stromproduktion den minimierten Bedarf des Gebäudes übersteigt. Dieser Stromüberschuss könnte in einem Energieverbund zur Versorgung anderer Gebäude genutzt werden. Damit steht die grundsätzliche Frage auf der Agenda, welche Rolle Gebäude zukünftig nicht nur als Stromverbraucher, sondern auch als Stromproduzenten in einem dezentraleren, intelligent gesteuerten Stromnetz übernehmen könnten. Diesen Aspekten sind wir mit der Veranstaltung "Green-E-City" der Architektenkammer Berlin nachgegangen.

Wie bewerten Sie den Stand der Technik und die Bilanz beim Plusenergiehaus?

Grundvoraussetzung für ein Plusenergiehaus ist ein Energiebedarf, der auf das technisch mögliche Minimum reduziert ist. Auf der baulichen Seite bedeutet das ein sehr hohes Wärmeschutzniveau, das als Passivhausstandard aber schon seit Längerem realisierbar ist. Auch in der technischen Gebäudeausrüstung sind ausgereifte Komponenten am Markt verfügbar. Letztlich ist ein Plusenergiegebäude nichts anderes als ein Passivhaus, bei dem als "Plus" die regenerative Energieerzeugung über den eigenen Bedarf hinaus gesteigert wurde.   

Entscheidend für die Bewertung als Plusenergiehaus ist, wo die Bilanzgrenze gezogen wird. Die heute übliche Definition von "Plusenergie" bezieht sich "netto" auf eine negative Jahresbilanz des Energiebedarfs: Die saisonal gegenläufigen Kurven von großer Erzeugung im Sommer und hohem Bedarf im Winter werden dabei als Saldo verrechnet; temporäre Überschüsse und Unterdeckung über die Anbindung an das Stromnetz gelöst.

Bei unserer Veranstaltung "Green-E-City" hatte Prof. Dr.-Ing. Thomas Stark aber auch deutlich gemacht, dass für die tatsächliche Umweltentlastung die Bilanz in der Betriebsphase wichtig, aber noch nicht ausreichend ist. Unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit muss auch der Aufwand für die Errichtung des Gebäudes (graue Energie der Baustoffe), die Instandsetzung und schließlich für Rückbau und Entsorgung erfasst werden: Nur eine vollständige Life-cycle-Ökobilanz ist aussagekräftig für die Nachhaltigkeit eines Gebäudes.

ZEROplus erweitert energieneutrales Wohnen mit elektrischer Mobilität. Gibt es dafür bereits Beispiele?

Unter dem Projektnamen "ZEROplus" realisiert beispielsweise der Architekt Johannes Brucker derzeit in Fellbach bei Stuttgart sieben aneinandergereihte Stadthäuser als Plusenergiehäuser. Die großen, optimal nach Süden geneigten Pultdächer sind komplett mit hocheffizienten Photovoltaik-Modulen belegt. Der zu erwartende Stromüberschuss soll für den Betrieb elektrischer Pkw genutzt werden. Ein ähnliches Konzept hat Prof. Dr.-Ing. Karsten Tichelmann bei seinem Umbau eines Einfamilienhauses aus den 1970er-Jahren zum Plusenergiehaus "e+home" umgesetzt. Auch das Versuchshaus des BMVBS in der Berliner Fasanenstraße von Prof. Dr.-Ing. Werner Sobek verfolgt den Ansatz, den gesamten Strombedarf einer Familie für Heizung, Warmwasser, Haushaltsstrom und Mobilität durch gebäudeintegrierte Photovoltaik zu decken.

Ein derzeitiger Schwerpunkt ist energetische Sanierung im Bestand. Welche Wege führen zum Fortschritt?

Die energetische Sanierung wird im Gebäudebereich die dominierende Aufgabe für die nächsten vierzig Jahre sein. Um hier deutliche Fortschritte zu erreichen, muss aus meiner Sicht ein vom Ziel her gedachter Sanierungsfahrplan für den Bestand entwickelt und ambitioniert mit dem gesamten politischen Instrumentarium verfolgt werden. Dazu gehören sicherlich nach dem Prinzip "Fordern und Fördern" ein Ordnungsrecht mit klaren, zielführenden Mindestanforderungen und eine deutliche Ausweitung der Förderprogramme, ergänzt durch förderliche Regeln im Steuerrecht. Aber auch aufklärende Öffentlichkeitsarbeit, Innovationsförderung und nicht zuletzt die Qualifizierung der Ausführenden sind für einen nachhaltigen Erfolg unverzichtbar.

Beim Projekt ENERGIEplus sollen Gebäude und Quartier als Energiequelle fungieren. Wie sieht das konkret aus? 

Gebäudeübergreifende Konzepte bieten die Chance, gemeinsam Technologien zu nutzen, die für das Einzelgebäude nicht verfügbar oder nicht wirtschaftlich wären. Der wechselseitige Ausgleich von temporärem Energieüberschuss und -bedarf bietet sich im Nahbereich als "micro-smart-grid" an. Dies gilt für elektrische, lokal aber auch insbesondere für thermische Energieverbundlösungen als Nahwärmenetz mit kurzen Leitungswegen. Viele ungenutzte Dächer bieten sich neben Photovoltaik auch für Solarthermie an, deren Überschüsse im Sommer zum Beispiel zur Kühlung von Nichtwohngebäuden verwendet werden könnten. Die Nutzung von Abwärme aus Produktionsprozessen und Abwasser, Erdwärmetauscher unter Freiflächen und Neubauten als Plusenergiegebäude im Zuge von städtebaulicher Nachverdichtung können weitere Beiträge dazu leisten.

In Anbetracht der Größenordnungen möglicher Überschüsse kann dies aber die weitestgehende energetische Sanierung des Bestands keinesfalls ersetzen, weil die Altbausanierung den wesentlich größeren Hebel darstellt. Grundsätzlich muss erst der Energieverbrauch soweit wie möglich verringert werden, bevor der minimierte Rest regenerativ gedeckt werden kann.

Bisher funktionieren nur Insellösungen. Was muss getan werden, um mehr Breitenwirkung zu erreichen? 

Die meisten heutigen Plusenergiegebäude sind keine wirklichen Insellösungen, weil sie überwiegend als "Nur-Strom-Häuser" ihren Überschuss ins allgemeine Stromnetz speisen. Mit wachsendem Anteil des regenerativ erzeugten Stroms aus Photovoltaik und Windkraft wird allerdings das Speicherproblem drängender, das großformatigere Lösungen verlangt als im Gebäudebereich erreichbar. Dafür sind noch erhebliche Forschungsanstrengungen nötig; aussichtsreich erscheint beispielsweise die elektrolytische Wasserstofferzeugung, wie Thomas Wilken vom IGS in seinem Vortrag erläuterte: Über eine Methanisierung in "Synthetic Natural Gas" umgewandelt, ließe es sich mit der vorhandenen Infrastruktur für fossiles Erdgas speichern, transportieren und nutzen.

Insgesamt spielen die Kosten eine wichtige Rolle. Wie bewerten Sie die gegenwärtige Situation?

Investitionskosten sind die eine Seite, Betriebskosten die andere Seite der Wirtschaftlichkeit. Es ist davon auszugehen, dass künftig die Energiepreise als Teil der Betriebskosten mindestens wie bisher weiter steigen werden; bei den Investitionskosten werden die Preise für heutige High-End-Technologie vermutlich mit wachsender Nachfrage sinken. Zu den aktuellen Preisen können Plusenergiehäuser noch nicht wirtschaftlich im Sinne kalkulierbarer Rendite sein. Ein sehr geringer oder gar negativer Energiebedarf stellt aber eine Art dauerhafte Versicherung gegen explodierende Energiepreise dar. Vor dem Hintergrund der sehr langen Nutzungsdauer von Gebäuden dienen energiesparende Investitionen damit auch dem nachhaltigen Werterhalt.

Vor den Architekten stehen bei der Energiewende neue Herausforderungen. Welches sind aus Ihrer Sicht die schwierigsten?

Architekten haben als Generalisten eine zentrale Koordinationsfunktion im Planungs- und Realisierungsprozess. Der Projekterfolg basiert ganz wesentlich auch darauf, dass sie die Lösungsansätze aller beteiligten Fachbereiche in einem schlüssigen Gesamtkonzept zusammenführen. Auch wenn die Anforderungen an Wärmeschutz und Gebäudeausrüstung sicherlich steigen werden, müssen Architekten deshalb noch nicht zu Spezialisten für Bauphysik oder Gebäudetechnik werden. Gefragt ist aber ein konzeptuelles Verständnis der energetischen Zusammenhänge und ihre strategische Lösung im Gebäudeentwurf. Sichtbarste Beispiele sind die Module für Photovoltaik und Solarthermie auf Dächern und zukünftig auch an Fassaden: Nur wenn es den verantwortlichen Architekten gelingt, sie als selbstverständliche Bauteile ästhetisch überzeugend in ihren Entwurf zu integrieren, kann Architektur als Baukunst entstehen. Die öffentliche Akzeptanz energieeffizienter Architektur wird auch davon abhängen, dass sie nicht als notwendiges Übel und gebauter Verzicht wahrgenommen wird, sondern als attraktiver Ausdruck einer zukunftsfähigen Haltung.

Wir bedanken uns für das Interview.

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