Infrastrukturgroßprojekte im Energiesektor scheitern mitunter. Wie dies verhindert werden kann, erklären Thomas Gläßer (Leiter der Bereichs Infrastruktur-Großprojekte) und Uwe Gehrmann (Partner und Mitglied des Executive Board sowie Leiter des Bereichs IT/Digitalisierung/Data) von der Unternehmens- und Managementberatung Atreus in München.
springerprofessional.de: Was sind die häufigsten systemischen Ursachen für das Scheitern großer Infrastrukturprojekte in Deutschland?
Uwe Gehrmann: Häufig begegnet uns in Deutschland die sogenannte "German Angst" – die Angst vor Risiken. Aber genau diese müssen wir offensiv managen, statt sie nur zu vermeiden. Ein häufiges Problem in solchen Projekten ist nicht das fehlende Fachwissen, sondern die mangelnde Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Es geht darum, Risiken zu erkennen und aktiv zu managen. Ein Beispiel ist ein Projekt der Energiewende in Deutschland, das Südlink-Projekt, in das wir 2020 eingetreten sind. Hier musste ein amerikanisches Unternehmen feststellen, dass es mit den deutschen Genehmigungsprozessen und der kulturellen Komplexität nicht zurechtkam.
Thomas Gläßer: Wir haben uns gefragt: Ist ein Scheitern systemisch bedingt oder hätte es vermieden werden können? Die klare Antwort ist: Ja, es hätte vermieden werden können. Nur wenige Projekte scheitern systembedingt. Die entscheidende Frage ist: Sind alle Beteiligten von Anfang an darauf eingestellt, gemeinsam das Projekt erfolgreich zu machen? Wir sehen in Großunternehmen oft Aufsichtsräte und Beiräte, die das große Ganze moderieren, aber von den eigentlichen Projekten oft weit entfernt sind – was ja auch nicht ihre Hauptaufgabe ist.
Nutzen Sie in der Beratung eine bestimmte Methode?
Gläßer: Wir haben dazu ein Instrument entwickelt, das wir das Hexagon des Projekterfolgs nennen. Es umfasst sechs Dimensionen, die entscheidend für den Erfolg eines Projekts sind. Eine der wichtigsten ist Kommunikation – es geht darum, die richtigen Informationen an alle Beteiligten zu vermitteln, sowohl intern als auch extern. Gerade bei großen Infrastrukturprojekten, wie Gas- oder Stromleitungen, erleben wir oft, dass es zwischen den politischen Entscheidungsträgern und den Gemeinden zu Konflikten kommt. Eine weitere zentrale Dimension ist der gemeinsame Erfolgswille und ein klar definiertes Zielbild: Wo wollen wir eigentlich hin? Wenn wir ein Großprojekt in kleinere Teilaufgaben zerlegen, wird es greifbarer. Wir moderieren oft zwischen den Fachleuten, sei es bei Vertragsverhandlungen, Bauverantwortlichen oder Lieferanten. Dabei geht es auch darum, Beziehungen auf Augenhöhe zu pflegen, damit alle Beteiligten motiviert bleiben und gern zusammenarbeiten.
Gehrmann: Was wir dabei immer wieder beobachten, ist Folgendes: Zwei Parteien schließen umfangreiche Verträge ab. Aber bei der Umsetzung fehlt oft die Einbindung derjenigen, die die Arbeit tatsächlich erledigen – der Projektmitarbeiter. Es gibt vielleicht ein Kickoff-Meeting, man isst und trinkt zusammen, und dann geht jeder seiner Wege. Doch das reicht nicht. Wir haben sehr gute Erfahrungen damit gemacht, uns vor Projektbeginn klarzumachen: Was gehört zum Projekt und was nicht? Sonst wird Arbeit geleistet, für die niemand bezahlt wird. Dabei geht Pragmatismus verloren, weil man sich zu sehr an die Vertragsdokumente klammert. Es geht also darum, Verantwortung zu definieren und klarzumachen, wer für was zuständig ist.
In der Energiewende stehen ja gerade kommunale Versorger vor ebensolchen Herausforderungen…
Gläßer: Ja, denn da gibt es die kommunale Seite, die Geld von ihren kommunalen Gesellschaften, den Stadtwerken, in Form von Gewinnabführung erwartet, und die Stadtwerke selbst, die plötzlich Geld brauchen, um ihre Netze zu modernisieren bzw. auf Basis neuer Anforderungen auszubauen. Dann kommen die kommunalen Aufsichtsgremien ins Spiel – Menschen wie Rechtsanwälte, Pfarrer oder Polizisten, die nach bestem Wissen und Gewissen arbeiten, aber wie sollen sie solche komplexen Entscheidungen mit der notwendigen Fachkompetenz treffen.
Ein Fachbeirat, der Experten mit übergreifender Industrieerfahrung einbindet, könnte hier oft unbequeme, aber wichtige Fragen stellen und Entscheidungen fundierter machen. Oft haben wir außerdem festgestellt, dass eine Moderation und fachliche Distanz notwendig sind, um die besten Lösungen zu finden. Und das hat schon nach wenigen Gesprächen zu Aha-Momenten geführt, bei denen klar wurde: Lasst uns die Konflikte beiseitelegen und die beste Lösung für die Kunden erarbeiten.
Welche Rolle spielt in solchen Prozessen die übergeordnete, auch neutrale Überwachung?
Gehrmann: Gehen wir noch mal zurück zu dem Südlink-Projekt. Am Anfang haben wir klar gemacht, dass wir nicht für eins der beteiligten Unternehmen arbeiten, sondern dem Projekt verpflichtet sind. Wir haben dann verschiedene Werkzeuge und Methoden aus unserem Werkzeugkasten auf den Tisch gelegt und die Gruppe – bestehend aus den Übertragungsnetzbetreibern und dem amerikanischen Dienstleister – gefragt, ob sie andere Werkzeuge haben, die wir nutzen können. Es war wichtig, dass alle Werkzeuge akzeptiert werden.
Ein Geschäftsführer brachte ein Tool mit, das die Programmteile und ihre Ergebnisse farblich darstellte und miteinander verknüpfte. Dieses haben wir integriert und sind dann in den Dreiklang "Messen, Bewerten, Berichten" gegangen. Wir haben klare Messpunkte definiert und diese auch transparent gemacht, so dass jeder wusste, was und wo wir messen.
In regelmäßigen Treffen haben wir den Projektfortschritt bewertet. Das Tool wurde akzeptiert, weil wir es gemeinsam ausgewählt hatten. Die Ergebnisse waren nachvollziehbar, und auch wenn es manchmal Diskussionen gab, hat der Prozess nach der dritten Sitzung reibungslos funktioniert. Es war ein sehr pragmatischer Ansatz mit viel gesundem Menschenverstand. Für uns war es ein Schlüsselerlebnis, dass wir nicht nur unsere Werkzeuge nutzten, sondern auch offen waren für die Ideen der anderen.
Gläßer: Es geht immer um die spezifische Situation des Unternehmens und der beteiligten Akteure. Unser Ziel ist es, Lösungen zu finden und nach vorne zu schauen, ohne ein zusätzliches Korsett aufzuzwingen. Wir wollen nicht, dass die Mitarbeiter am Ende sagen: "Das haben wir nicht gebraucht."
Manche Themen erfordern schnellere Entscheidungen, da macht es Sinn, sich alle vier Wochen zu treffen. Bei anderen Themen, wie der Organisationsentwicklung oder kulturellen Veränderungen, dauern die Anpassungen länger. Hier müssen Gespräche geführt werden, auch mit den Arbeitnehmervertretern. Es geht darum, den Beteiligten Raum zu geben, Verantwortung zu übernehmen, während wir sie begleiten, Impulse setzen und unterstützen, bis sie es selbst tragen können.
Das setzt ja voraus, dass etwa Projektteams über die notwendigen Fähigkeiten und Erfahrungen verfügen…
Gläßer: Projekte in der Energiewirtschaft werden oft mit großer Leidenschaft begleitet, besonders von älteren Kolleginnen und Kollegen, die stolz darauf sind, Teil eines neuen, zukunftsorientierten Ansatzes zu sein. Viele wollen der nächsten Generation etwas übergeben, das zur Energiewende beiträgt. Doch das bringt Herausforderungen mit sich, besonders wenn unterschiedliche Abteilungen zusammenarbeiten müssen.
Wir haben das in der Praxis gelöst, indem die Verantwortlichen regelmäßig zusammenkamen, beginnend mit kurzen täglichen Meetings. So konnten Themen direkt angesprochen und gelöst werden. Es ging nicht nur darum, Strukturen zu schaffen, sondern auch eine neue Projektkultur zu etablieren. Diese Kultur half den Mitarbeitern, firmeninterne Barrieren zu überwinden und sich stärker mit dem Projekt zu identifizieren. Statt hochtheoretischer Ansätze ging es darum, pragmatisch zu bleiben: "Was ist dein Hindernis? Wie können wir das gemeinsam lösen?"
Gehrmann: Für uns ist so ein Resolution Board wie ein Transformationsriemen in die Organisation hinein, damit diese daraus lernen kann. Es geht darum, Reflexion zu ermöglichen, Impulse zu setzen und Verantwortung zu übernehmen. Das ist nicht nur etwas für Konzerne, sondern auch für mittelständische Unternehmen, die einen Beirat haben. Der Vorteil: Die Mitarbeiter können von dieser Erfahrung und Pragmatismus lernen und diese Themen für sich selbst weiterentwickeln.
Oft scheitern Projekte nicht an Fachwissen, sondern an der Haltung. Es fehlt an einer vernünftigen Feedbackkultur oder daran, kleine Erfolge zu feiern. Viele denken, sie hätten kein Budget oder es sei zu kompliziert, und dann passiert es in der ganzen Organisation nicht. Ein halbes Jahr später fragt man sich, warum es nicht vorangeht. Das sind die Basics, und sie werden oft vernachlässigt.
Ein gutes Beispiel ist die Autobahnbrücke im italienischen Genua, die wichtigste innerstädtische Verkehrsverbindung. Sie wurde nach ihrem Einsturz in einem Jahr inklusive Genehmigungsprozess neu errichtet, während wir in Deutschland oft Jahre für ähnliche Projekte brauchen. Hier fehlt der Pragmatismus. Das Resolution Board soll helfen, eben diesen Pragmatismus in den Prozess zu bringen.
In einem Satz: Welche konkreten Maßnahmen haben sich in der Praxis als besonders effektiv erwiesen, um Verzögerungen und Kostenüberschreitungen bei Großprojekten zu vermeiden?
Gehrmann: Wichtig ist, Transparenz zu schaffen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, klare Prioritäten zu setzen – und dann einfach machen.
Gläßer: Es geht darum, sich auf ein gemeinsames Ziel zu verständigen, klar zu kommunizieren und Probleme zu lösen, statt sie hin- und her zu wälzen oder immer wieder neue Probleme zu schaffen.