Der vorliegende Beitrag schlägt vor, Erwartungsstrukturen in den Mittelpunkt wirtschaftssoziologischer Analysen zu stellen. Strukturelle Konflikte, wie sie am empirischen Fall der Energiewende beobachtbar sind, werden in diesem Sinne als Erwartungskonflikte verstanden. Die Form des Marktwandels und die resultierende Marktstruktur spiegeln wider, welche Erwartungen sich auf der Marktebene und innerhalb von Organisationen durchgesetzt haben und damit in Form von Erwartungserwartungen strukturell wirksam geworden sind.
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So spricht sich beispielsweise Andreas Langenohl dafür aus, dass der Erwartungsbegriff besonders geeignet ist, um soziale Dynamiken in Finanzmärkten zu erklären (Langenohl 2010, S. 18).
Auf die Kompatibilität eines „concepts of control“ von Neil Fligstein und dem hier vorgeschlagenen dominierender/dominierter Erwartungserwartungen gehe ich an späterer Stelle ein.
Im systemtheoretischen Zuschnitt müssen zwei Phasen der Vorstrukturierung unterschieden werden. Erwartungen strukturieren Kommunikation vor und Kommunikation wiederum Handlungen (vgl. Luhmann 1983, S. 153).
Wie etwa die Definition von Johan Galtung: „Expectations will be conceived of as standards of evaluation, located in the mind of one individual and used to evaluate attributes and actions of oneself and other individuals“ (Galtung 1959, S. 214). Und auch Blumer weist darauf hin, dass Erwartungen nicht per se ein soziologischer Gegenstand sind, sondern ursprünglich in den Forschungsbereich der Psychologie gehörten (Blumer 1953). Und auch in der modernen Wirtschaftssoziologie wird der Verdacht schnell laut, dass Begriffe wie Jens Beckerts „cognitions“ oder „cognitive frames“ zu einer Psychologisierung der Soziologie führen (Beckert 2010; kritisch hierzu: Roth 2010, S. 49).
Die Erklärungsansätze könnten nicht unterschiedlicher sein: Während SoziologInnen in der Gegenwart eintretende Ereignisse als Resultat der Vergangenheit begreifen (Vergangenheit → Gegenwart), erklären ÖkonomInnen Entscheidungen in der Gegenwart auf Basis des aktuellen Wertes „of expected future rewards“; in diesem Sinne also rückwärts von der Zukunft, wie es Beckert formuliert (Gegenwart ← Zukunft) (Beckert 2014, S. 7; vgl. Abbott 2005, S. 406). Diese Überlegungen machen zudem deutlich, dass eine Analyse der Temporalitäten etwa in der ökonomischen Theorie (Giacovelli und Langenohl 2016) immer auch den Erwartungsbegriff berücksichtigen sollte.
Mit dem Hauptfokus auf den Interaktionsbegriff heißt es bei Johan Galtung: „In a sense, the most important element in any analysis of the concept is time. In interaction, the perceptions of the present are mingled with the more or less conscious memories of the past and the more or less explicit expectations of the future“ (1959, S. 214).
Im systemtheoretischen Verständnis gilt Ungewissheit als Grundvoraussetzung für Systembildung. Entscheidend für die Stabilität des Wirtschaftssystems ist gerade nicht das Durchschauen und sichere Treffen von Verhaltensvorhersagen von in doppelter Kontingenz stehenden Systemen, sondern die Stabilisierung von Erwartungen, die durch das System vorstrukturiert werden. Die Reduktion von Ungewissheit erfolgt im Bezug auf das eigene Verhalten und setzt an den eigenen Erwartungen an (Luhmann 1984, S. 157–158).
Hierdurch entsteht eine Situation der Unbestimmtheit für beide Partner jeder Aktivität, die strukturbildende Bedeutung für soziale Systeme hat. Soziale Systeme entstehen nur durch doppelte Kontingenz. Dies, so Luhmann, ist mit dem Begriff der Handlung nicht zu fassen (Luhmann 1984, S. 152 ff., 400 ff., 1996, S. 236 ff.).
Bereits Galtung ergänzt den Aspekt der „expectations about expectations“ (second-order expectations) um third-order expectations und veranschaulicht dies mit einem Zitat aus einer Norwegischen Novelle: „The important thing was not that he knew she was in Paris, but that he didn’t know she knew that he knew it.“ (1959, S. 220).
So ist in Luhmanns Systemtheorie in der logischen Folge zu beobachten, das sämtliche zentralen Begriffe, wie etwa Sinn, Entscheidung, Kommunikation, Autopoiesis, Systeme, Umwelt etc., immer in Anschluss an den Erwartungsbegriff definiert werden.
Galtung zufolge ist Interaktion ein permanenter Vergleichsprozess: „We shall then conceive of interaction as a process where comparisons being made, between expectations and the objects of the expectations, so as to adjust the objects or adjust the expectations until consonance is reached“ (1959, S. 222).
Erwartungen, dies sei der Vollständigkeit halber erwähnt, richten sich selbstverständlich nicht nur an andere (Personen, Dinge etc.). Erwartungen beziehungsweise der Vergleich verschiedener Erwartungen sind selbst- und fremdbezüglich („Selbst-/Fremderwartungen“, Luhmann 1984, S. 429; „intra-actor/inter-actor comparisons“, Galtung 1959, S. 230). Die Zunahme verschiedenartiger Selbst- und Fremderwartungen, so Luhmann, steigert die Komplexität einer Person (1984, S. 429). Identitäten, die eigene und fremde, bilden sich gerade durch abweichende Erwartungen heraus. Identität wird in diesem Zusammenhang als „hochselektiver Ordnungsaspekt von Welt“ verstanden (S. 427; vgl. Galtung 1959).
Galtung spricht in diesem Zusammenhang von einer Dissonanz, mit all seinen sozialpsychologischen Implikationen, und führt das Argument Arne Næss' an, demzufolge der Begriff „dissonance-avoiding activities“ den Adjektiven „normative“ und „cognitive“ vorzuziehen sei (Galtung 1959, S. 217–218, Næss 1959, S. 44, 53).
Auf diese Weise, so Luhmann, wird verhindert, dass soziale Systeme als bloße Reaktionsketten gebildet werden, in denen ein Ereignis mehr oder weniger vorhersehbar wäre – dies würde „sehr rasch aus dem Ruder laufen“ (Luhmann 1984, S. 414).
Der Erwartungsbegriff spielt selbstverständlich auch in anderen Disziplinen wie etwa der Ökonomik eine zentrale Rolle (exemplarisch: Lucas und Sargent 1981; Brodbeck 1998, S. 96 ff.). Innerhalb der Soziologie finden sich insbesondere Arbeiten aus der Techniksoziologie, die sich mit Erwartungen im Kontext von technologischem Wandel auseinandersetzen (exemplarisch: Brown und Michael 2003; Borup et al. 2006; Lente 2012).
In Abgrenzung zu mathematisierten Wirtschaftswissenschaften heißt es pointiert: „Märkte sind keine mathematisierte Abstraktion, sie sind Bestandteil der sozialen Welt und durch die Evolution sozialer Netzwerke historisch strukturiert“ (White und Godart 2007, S. 203).
Diese Netzwerke haben aus ihrer Sicht weiterhin Bestand, da sie in die Formalstrukturen der Marktteilnehmer, in Allianzen im interorganisationalen Verhältnis, in standardisierte Marktpraktiken und Industrienormen überführt wurden (Granovetter und McGuire 1998, S. 168).
So führt Patrik Aspers vier zentrale Kritikpunkte an, die auf die Begrenztheit des Analysekonzepts Fligsteins, der wiederum Whites Konzept zugrunde legt, hinweisen: 1) keine spontane Marktbildung und erste Phase (Orientierung) wird nicht beachtet und das Zutreffen vieler Voraussetzungen für Märkte wird unterstellt – aber nicht begründet, 2) Fligstein wendet Whites Spezialmodell eines Produzentenmarktes (wenige Anbieter) auf Weltmärkte an, 3) Fligstein berücksichtigt nicht Märkte ohne Produktdifferenzierung oder mit unendlich vielen Marktteilnehmern, 4) Fligstein macht Marktkonstituierung immer von der Zustimmung des Staates abhängig (Aspers 2009, S. 23–25).
Wenn auch das Grundprinzip der wechselseitigen Orientierung vielerorts aufgegriffen wird, ist damit nicht zwangsläufig eine handlungstheoretische Rahmung verbunden. Besonders deutlich ist dies in der Marktkonzeption Niklas Luhmanns zu beobachten. Auf die systemtheoretische Konzeption übertragen heißt dies dann, dass sich jedes partizipierende System mit seinen am Preis gemessenen Partizipationsmöglichkeiten im Spiegel der durch alle anderen partizipierenden Systeme erzeugten Partizipationsmöglichkeiten beobachten kann. Das Beobachten der Konkurrenz verläuft demnach über Preise und nicht über die Konkurrenten selbst und benötige keine Interaktion zwischen verschiedenen Marktteilnehmern (1996, S. 64, 92 ff., 101 ff.).
Für White et al. zeichnen sich Netzwerke gerade dadurch aus, dass Erwartungen und Identitäten über lange Zeiträume stabil gehalten werden können. Der Begriff des „netdoms“ verweist auf die Netzstrukturen („net“) und zugleich auf die Domäne der „stories, symbols, and expectations“ („dom“) (White et al. 2007, S. 549).
Hierbei stehen jedoch technologische Erwartungen (Erwartungen bezüglich möglicher Innovationen in der Brustkrebstherapieforschung) im Sinne eines Handelsgutes und nicht die durch Stories geprägten Erwartungen der Marktteilnehmer im Vordergrund. Ich komme an späterer Stelle auf den Term „Markt der Erwartungen“ (Mützel 2010, S. 89) zurück.
Ebenfalls in Anschluss an White weisen Hasse und Krücken auch aus institutioneller Perspektive darauf hin, dass es für Anbieter nicht ratsam sei, sich am Nachfrageverhalten zu orientieren. Mit Rückgriff auf die o. g. empirische Hotelstudie von Lant und Baum unterstreichen sie die Orientierung von Anbietern an anderen Anbietern (Hasse und Krücken 2005, S. 59–60; Lant und Baum 1995).
In der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie wird die bedeutsame Rolle von Erwartungen hingegen häufig hervorgehoben. Erwartungen, Annahmen und Vorstellungen, die in der Gesellschaft etabliert sind, legen auch fest, wie Organisationen gestaltet sein sollen. Erwartungen und institutionalisierte Regeln konstituieren gar Akteure und ihre Interessen (vgl. Walgenbach und Meyer 2008, S. 49; Scott und Meyer 1994; DiMaggio und Powell 1983).
Damit ist zugleich die Brückenfunktion der Ökonomik angesprochen: Die Ökonomik muss zugleich Erwartungen aus der eigenen Wissenschaftsdisziplin und Erwartungen aus der Wirtschaft gerecht werden, was gerade durch die häufig in der Kritik stehenden algebraisch-mathematischen Modellierungen erreicht wird: Sie sind Dank ihres abstrakten Formalismus anschlussfähig für Kalkulationen in der Wirtschaftspraxis und halten zugleich die Ökonomik als Disziplin zusammen (Porter 1994, S. 160; Giacovelli und Langenohl 2016; Giacovelli 2014b).
Die zentrale Aussage Garcia-Parpets fasst Callon wie folgt zusammen: „Wie Garcia sagt, ist es kein Zufall, dass die ökonomische Praxis der Erdbeerproduzenten von Sologne mit denen der ökonomischen Theorie korrespondiert. Diese ökonomische Theorie diente als Referenzrahmen, um jedes Element des Marktes zu erschaffen“ (Callon 1999/2006, S. 556). Einen weiteren instruktiven Beitrag zur Performativität ökonomischen Wissens legten MacKenzie und Millo vor. Sie zeigen, wie die Options Price Theory von Black, Scholes und Merton erst die Preiskalkulation für Optionen ermöglichte und damit die Marktgestaltung und das Marktverhalten der Optionshändler entscheidend prägte (MacKenzie und Millo 2003).
Allerdings weist Langenohl ebenso darauf hin, dass Normen und Erwartungen in erster Linie Interpretationsrahmen darstellen, die Situationen strukturieren (2010). Solcherlei Interpretationsrahmen, mit ihren jeweils spezifischen kulturellen Ausprägungen, liefern Uwe Schimank zufolge erst die Grundlage für den westlichen Kapitalismus und eben nicht nur für ökonomische Prozesse allein (2001).
So bildet etwa der Reproduktionsmechanismus des Wirtschaftssystems den Rahmen für die Beobachtungen der partizipierenden Systeme. Das heißt, dass Geld als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium und das Anknüpfen von Zahlungen an Zahlungen als einziger Reproduktionsmechanismus des Wirtschaftssystems dem Markt bereits komplexitätsreduzierend vorgegeben sind (Luhmann 1996, S. 8, 302 ff.).
Dies gilt nicht zuletzt für die zugrunde gelegten Homogenitätsbedingungen, deren Formulierung auf das Erfordernis der mathematischen Problembearbeitung in der Ökonomik zurückgeführt werden kann (vgl. Giacovelli 2016).
Immerhin sprechen White und Godart dem unternehmerischen Marketing die Funktion zu, das Entstehen neuer Märkte rechtzeitig beobachten zu können und ein frühzeitiges Ausrichten strategischer Entscheidungen zu begünstigen (2007, S. 212).
Besonders deutlich und überzeugend wird dieser Einbezug des Publikums am zuvor skizzierten Beitrag Mützels. Das Vermitteln von Stories und dass damit verbundene Schüren von Erwartungen macht eben nur vor dem Hintergrund zahlungskräftiger Beobachter Sinn, die die Stories vergleichen und bewerten und damit den Markt mit konstituieren.
So ist bereits in den vergangenen Jahren zu beobachten, dass Windkraftanlagen zu Windparks und Solaranlagen zu Freiland-Solarparks zusammengefasst wurden (Mautz et al. 2008, S. 104 ff.).
Weitere Beispiele hierzu liefern etwa Sascha Adamek und Kim Otto, die auf die Einflussmöglichkeiten von Energiekonzernen auf Bundesministerien vermittels personeller Verflechtungen hinweisen (Adamek und Otto 2013). Zudem zeigt Irina Michalowitz, auf welche Weise die etablierten Energiekonzerne über Verbände, über Arbeitsgruppen oder über Kontakte mit Funktionsträgern auf unterschiedlichen Ebenen in der Europäischen Kommission Einfluss auf die europäische Umweltpolitik nehmen (2007, S. 132–135).
Bontrup und Marquardt zufolge beschränken sich die großen Vier in ihrer wirtschaftlich angeschlagenen Situation auf Kompensationsforderungen, Rationalisierungen und zuletzt auch, mit deutlicher Verzögerung im Vergleich zu den Herausforderern, mit einer Neujustierung ihrer Geschäftsschwerpunkte auf die Stromproduktion aus erneuerbaren Energien (Bontrup und Marquardt 2015, S. 206–256).
Diese Richtung eines Wandels von normativen zu kognitiven Erwartungen wird ebenfalls in Finanzmärkten beobachtet: „cognitive, adaptive, and learning-oriented expectations have clearly become prominent while normative and prescriptive expectations are fading out“ (Strulik 2007, S. 17).
Aus dem gemeinsamen Monitoringbericht der Bundesnetzagentur und des Bundeskartellamtes geht hervor, dass sich die Vertragsstruktur der Haushaltskunden im Jahr 2013 wie folgt zusammen setzt: 20,9 % der Haushaltskunden haben einen Sondervertrag mit einem anderen Lieferanten, 45 % haben einen Sondervertrag mit ihrem lokalen Grundversorger abgeschlossen, aber rund ein Drittel (34,1 %) werden über einen Grundversorgungsvertrag mit Strom versorgt (BN/BK 2014, S. 146). Das heißt, dass ein Drittel der Haushalte nicht nur den Lieferanten nicht gewechselt hat, sondern bei dem Grundversorger geblieben ist und dort zu dem teuersten Tarif versorgt wird; und dies fünfzehn Jahre nach der Strommarktliberalisierung. Eine Differenzierung nach Atom- und Ökostromverträgen wurde hier nicht berücksichtigt.
In der Diskussion zum Klimawandel wird die Auffassung vertreten, dass dieser erhebliche Auswirkungen auf soziale Ungleichheiten habe, da von den Folgen des Klimawandels ärmere Staaten und ärmere Menschen stärker betroffen seien, als wohlhabendere Staaten und Menschen (Stern 2007, S. XVII; Beck 2008, S. 25–36; Beck und van Loon 2011, S. 121–124). Soziale Ungleichheit ist aber bereits in der Gegenwart hinsichtlich der Finanzierung der Energiewende zu beobachten, da gewerbliche Stromkunden, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen, von Vergünstigungen der EEG-Abgabe profitieren können. Würden, so Thorsten Lenck, privilegierte Großkunden keinen Gebrauch von den verschiedenen Sondervergünstigungen machen, läge der EEG-Satz bei 4,875 Cent/kWh statt bei aktuell 6,24 Cent/kWh, da die Finanzierung des erzeugten Ökostroms auf weniger Schultern verteilt werde (Lenck 2014, S. 20).
Das Ziel der Novellierung besteht darin, den Anstieg der EEG-Abgabe einzudämmen, indem die Direktvermarkung von Ökostrom für Neuanlagen schrittweise verpflichtend wird, die finanzielle Förderung ab 2017 über Ausschreibungen ermittelt werden soll und, dies ist an dieser Stelle besonders hervorzuheben, vorwiegend kosteneffizientere Anlagen protegiert werden (EEG 2014; Monopolkommission 2013, S. 112–113).
Nicht zuletzt bietet eine gründlichere Auseinandersetzung mit Erwartungsstrukturen die Möglichkeit, interdisziplinäre Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzuzeigen, wie es bereits in der Abgrenzung zum Begriff rationaler Erwartung in der orthodoxen Ökonomik oder dem der irrationalen Erwartungen der Behavioral Economics praktiziert wird (vgl. Langenohl 2010; Beckert 2013a; Giacovelli 2015).