Die hohen Energiekosten in Deutschland sind ein erheblicher Wettbewerbsnachteil. Seit dem Wegfall russischer Gaslieferungen betrifft dies nicht nur fossile Energieträger, sondern langfristig auch erneuerbaren Strom und grünen Wasserstoff. Sollte deshalb die energieintensive Industrie – wie im Wahlkampf gut ausgeschlachtet - aus Deutschland lieber abwandern?
Eine Abwanderung der Eisen- und Stahlindustrie aus Deutschland könnte zwar positive ökologische, doch definitiv auch negative beschäftigungspolitische Effekte haben.
ThyssenKrupp
Forschende des Kopernikus-Projekts Ariadne haben in einem aktuellen Report untersucht, wie die energieintensive Grundstoffindustrie klimaneutral und wettbewerbsfähig bleiben kann. Ihr Fazit: Der Import günstiger grüner Vorprodukte und ein Fokus auf industrielle Weiterverarbeitung könnten die deutsche Chemie- und Stahlindustrie langfristig stärken.
Die stagnierende wirtschaftliche Entwicklung rückt die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie in den Fokus. Langfristig werden hohe Kosten für grüne Energieträger in Deutschland einen internationalen Wettbewerbsnachteil bedeuten. Eine flächendeckende Subventionierung sei wirtschaftlich ineffizient und politisch schwer umsetzbar, so die Autorinnen und Autoren des Reports.
Zudem sei es unrealistisch, sämtliche fossilen Energieträger durch grüne Alternativen zu ersetzen, da grüner Wasserstoff und erneuerbarer Strom in Deutschland knapp und schwer zu transportieren seien. "Es ist physikalisch und ökonomisch nicht machbar, alle energieintensiven Produktionsschritte für grüne Grundstoffe in Deutschland zu halten", erklärt Philipp Verpoort vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK).
Fokus auf industrielle Weiterverarbeitung
Das Forschungsteam schlägt vor, den Import fossiler Energieträger durch grüne Vorprodukte zu ersetzen. Statt Rohstoffe wie Eisenerz zu importieren, könnte die Stahlindustrie künftig grünes Roheisen einführen und in Deutschland zu Stahl verarbeiten. Dadurch würde der energieintensivste Produktionsschritt ins Ausland verlagert. Ein "Friendshoring" in Länder mit günstigen erneuerbaren Energien könnte Kosten senken und die Versorgungssicherheit erhöhen.
Gleiches gilt für die Chemieindustrie, die in Zukunft Vorprodukte wie grünen Ammoniak oder grünes Methanol importieren könnte. "Da die Wertschöpfung und Arbeitsplätze eher in der Weiterverarbeitung als in der Herstellung dieser energieintensiven Vorprodukte liegen, sollten wir dies schon heute berücksichtigen", betont Luisa Sievers vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung.
Für eine erfolgreiche Transformation der deutschen Industrie empfehlen die Autoren des Ariadne-Reports zudem eine koordinierte Strategie, die europäisch eingebettet und über verschiedene Politikfelder abgestimmt ist. Klare politische Ziele sollen helfen, Zielkonflikte zu identifizieren und fundierte Entscheidungen zu ermöglichen. Ein durchdachter Strukturwandel könnte Arbeitsplätze sichern und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie langfristig stärken.
Doch besser Arbeitsplätze sichern?
Die Idee, die energieintensivsten Produktionsschritte der Roheisenherstellung ins Ausland zu verlagern, mag auf den ersten Blick wirtschaftlich sinnvoll erscheinen, birgt jedoch nach Meinung von Volkswirtschafts-Experten erhebliche Risiken für die deutsche Industrie. Der Eisensektor sichere zehntausende Arbeitsplätze in Deutschland, nicht nur direkt in den Werken, sondern auch in nachgelagerten Branchen wie Maschinenbau, Automobil- und Bauindustrie. Ein massiver Rückgang der inländischen Produktion könnte den Verlust hochqualifizierter Arbeitsplätze bedeuten, deren Wiederaufbau schwierig wäre.
Und: Die Verlagerung zentraler Produktionsprozesse ins Ausland schafft neue geopolitische Abhängigkeiten. Deutschland und Europa haben in den letzten Jahren erlebt, welche wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Risiken mit einer starken Abhängigkeit von externen Lieferanten verbunden sind – sei es in der Energieversorgung oder in der Halbleiterproduktion. Eine ähnliche Abhängigkeit bei essenziellen Industriegütern wie Stahl könnte langfristig die Wettbewerbsfähigkeit und industrielle Souveränität gefährden. Friendshoring mag zwar kurzfristig eine Lösung sein, doch auch enge Partnerländer sind wirtschaftlichen und politischen Schwankungen unterworfen.
Deutschland bleibt innovativ
Und bei allem schlechten Gerede auch während des Wahlkampfes sollte niemand vergessen: Deutschland ist ein führender Innovationsstandort. Die Entwicklung und Skalierung neuer Verfahren zur Stahlerzeugung, die weniger Energie verbrauchen und den CO2-Ausstoß reduzieren, kann ein entscheidender Wettbewerbsvorteil sein – und ist bereits im Gange, etwa mit Projekten für wasserstoffbasierte Verfahren und den Einsatz erneuerbarer Energien (auch wenn die, wie bei ThyssenKrupp, gerade ins Stocken geraten). Wer jetzt in neue Technologien investiert, kann zum internationalen Technologieführer werden, statt langfristig von Importen abhängig zu sein.
Man kann es also auch so sehen: Die Verlagerung der energieintensiven Stahlproduktion ins Ausland mag kurzfristig Kosten senken, birgt jedoch langfristige Risiken für Arbeitsplätze, industrielle Souveränität und Versorgungssicherheit. Eine nachhaltigere Strategie wäre es, in Innovationen, erneuerbare Energien und eine effizientere Produktion zu investieren. Damit kann Deutschland seinen Industriestandort stärken und zugleich einen wichtigen Beitrag zur klimafreundlichen Transformation etwa der Stahlbranche leisten.