Das Auto der Zukunft weiß, was der Fahrer braucht. Es misst die Vitaldaten des Fahrers und gibt Tipps für mehr Wohlbefinden. Gehörten Autos und Gesundheit bislang eher nicht zusammen, soll sich das künftig ändern. (Update)
SmartCar des PLRI mit integrierten Sensoren für EKG, Herz- und Atemfrequenz
PLRI/TU Braunschweig
In naher Zukunft wird ein Pkw merken, wie sich der Fahrer fühlt. Das Fahrzeug wird die Herzfrequenz, den Atemrhythmus und den Blutzuckerspiegel des Fahrers messen. Ist er gestresst, startet das Auto die Massagefunktion und stellt die Innenbeleuchtung, Klänge und die Gerüche so ein, dass der Fahrer entspannen kann. Schließlich verfügt das Auto über die Daten anderer Geräte wie Wearables und greift auf Dienste im Smart Home zurück. Damit kann es sich ein Bild über die Vitaldaten des Fahrers machen.
Gesünder aus- als einsteigen
So oder so ähnlich sieht die Verbindung von Autofahren, Wohlbefinden und präventiver Gesundheitsförderung künftig aus. Einen Vorgeschmack darauf gibt zum Beispiel das SmartCar des Peter L. Reichertz Instituts für Medizinische Informatik (PLRI) der TU Braunschweig und der Medizinischen Hochschule Hannover. Das Fahrzeug ist mit integrierten Sensoren für EKG, Herz- und Atemfrequenz ausgestattet, die passiv und kontinuierlich die Gesundheit während der Fahrt überwachen. Die aufgenommenen Daten werden über eine Sensordatenfusion mithilfe eines neuronalen Netzes zusammengeführt und analysiert. So wird ein persönliches Gesundheitsprofil erstellt, damit Auffälligkeiten frühzeitig erkannt werden. Das Monitoring soll dabei helfen, das Risiko schwerer Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu senken.
Das Auto eignet sich in hohem Maße, ein umfassendes Bild über unsere Gesundheitsdaten zu erheben, da wir ohnehin viele Stunden hinter dem Steuer verbringen. Der Pkw wird zu einer Art Gesundheitszentrum, das Daten über Sensoren sammelt und an die Cloud weitergibt. Voraussetzung dafür ist das Connected Car. Aus den Daten berechnen Algorithmen wiederum Tipps für mehr Wohlbefinden der Insassen. "Automotive Health" nennt sich dieses neue Geschäftsfeld.
[Es] ist ein neuartiges Themengebiet, welches die zwei bislang völlig unabhängigen Bereiche Mobilität und Gesundheit, unter Hinzunahme neuer Technologien aus den Themenkomplexen eHealth, mHealth und Telemedizin, verknüpft", erklären die Springer-Autoren Mustapha Addam, Manfred Knye und David Matusiewicz in der Einleitung zu ihrem Essential Automotive Health in Deutschland.
Digitale Dienstleistungen aus dem Gesundheitsbereich sollen so mobil und zeitsparend zum Einsatz kommen, die Fahrenden erholter und gesünder am Zielort ankommen, wie es auch in der Einleitung des Essentials Automotive Health erläutert wird. Das Buch stellt die Ergebnisse einer empirischen Studie zu den Kundenbedürfnissen in Bezug auf automobile Gesundheitsanwendungen vor. Ein wesentliches Merkmal der Automotive Health ist dabei die Identifikation beziehungsweise Früherkennung von Erkrankungen der Insassen eines Automobils.
Gesundheits- und E-Health-Markt wächst
Automotive Health ist aber nicht nur ein disruptives Konzept und innovatives Themenfeld, sondern auch lukrativ. Assistenzsysteme mit biometrischen Funktionen, die die Gesundheit und das körperliche Wohlbefinden erhöhen sollen, sind ein vielversprechender Wachstumsmarkt. Bereits heute beläuft sich das Marktpotenzial für Funktionen des Automotive Health auf rund 20 Milliarden Euro, wie die Springer-Autoren Axel Glanz und Thomas M. Deserno im Kapitel Wenn das Auto den Arzt ersetzt: Medizinisches und ökonomisches Potential von Automotive Health des Buchs Transforming Mobility – What Next? angeben. Effekte aus Pandemien seien dabei noch nicht berücksichtigt. In Zukunft soll sich dieser Markt noch erheblich erweitern. Die Prognosen zu den Ausgaben für Gesundheitsvorsorgekosten in den USA würden zeigen, dass diese auf fast 20 % des Bruttoinlandsproduktes steigen werden. Dieser Trend komme zeitverzögert auch hierzulande an.
Gleichzeitig werden digitale Lösungen zur Überwachung der eigenen Gesundheitsbelange stark nachgefragt und spielen eine immer größere eine Rolle, betonen die bereits erwähnten Springer-Autoren im Kapitel Zusammenfassung und Ausblick. Demnach verzeichneten die Digital-Health-Märkte in den letzten Jahren starke Wachstumsraten. Die Menschen würden immer mehr dazu tendieren, die Gesundheit selbst zu überwachen und zu pflegen. Dass Automotive Health die Kunden interessiert, hat auch die empirische Studie, die im Springer-Essential vorgestellt wird, ergeben: 37 % der Probanden würden Gesundheitsanwendungen im Auto nutzen, wenn diese verfügbar wären und 44 % entschieden sich für die Antwort "vielleicht".
So lässt sich der Fahrerzustand erfassen
So verwundert es nicht, dass Systeme zur Überwachung des Wohlbefindens und der Aufmerksamkeit des Fahrers schon seit Langem in der Diskussion sind. Inzwischen gibt es deshalb zahlreiche Driver-Monitoring-Systeme, die die Müdigkeit des Fahrers messen. Im Artikel Kognitive Belastung des Fahrers – Messung der Gefahr anhand der Pupillenveränderung aus der ATZelektronik 3/2016 beschreibt Stefan Marti von Harman ein kamerabasiertes System, das Veränderungen der Pupillen misst. Darauf basierend werden die Werte der mentalen Belastung berechnet. ITK Engineering zeigt im Artikel Gesundheitsfunktionen im softwaredefinierten Fahrzeug aus der ATZ 10-2024 Möglichkeiten auf, wie sich krankheitsbedingte Unfälle künftig vermeiden lassen, indem intelligente Software sowie Sensorik im Fahrzeug die Gesundheitsparameter der Insassen ständig überwachen. Auch das "Invisible Biometrics Sensing Display" von Continental erfasst mit hinter dem Bildschirm platzierter Kamera sowie Laserprojektor die Vitalparameter der Passagiere. Der Clou: Die Technik erkennt die Fahrzeuginsassen durch den hochauflösenden OLED-Bildschirm hindurch und bleibt so komplett unsichtbar.
Für die Fahrerzustandserfassung wird insbesondere das Lenkrad eine große Rolle spielen. "Da direkter Hautkontakt im Fahrzeug ausschließlich am Lenkrad zu finden ist, ist dieses optimal für die Erfassung [von Vitaldaten]", erklärt Takata im Artikel Beitrag des Lenkrads zur aktiven Erkennung des Fahrerzustands aus der ATZ 7-8/2015. Die Autoren stellen Systeme im Lenkrad vor, die als Handerkennungssystem und integrierte Kamera zur biometrischen Zustandsüberwachung des Fahrers dienen. Aber auch die Autositze eignen sich sehr gut zum Vitalmonitoring. Ein kapazitives, in den Autositz integriertes Elektrokardiogramm-Messsystem kann zum Beispiel die Herzaktivität des Fahrers überprüfen. Über den Gurt ließe sich auch die Atemrate sensieren, wie Continental-Experte Knut Ehm im Interview "2026 wird jedes Auto mindestens eine Insassenkamera haben" aus der ATZ 4-2020 erklärt. Doch auch berührungslose Messsysteme könnten den Fahrerzustand mittlerweile gut erfassen. Deren Vorteil ist: Sie arbeiten unbemerkt und schränken den Fahrer nicht bei Bewegungen ein.
Das Auto wird zum rollenden Sprechzimmer
Mittlerweile bewegen sich die Gesundheitsanwendungen in einem "Kontinuum zwischen Schutz des menschlichen Lebens, Diagnostik und Gesundheitsüberwachung, Gesundheitsförderung und Prävention bis hin zu mentaler Förderung und Verbesserung", wie die Springer-Autoren weiter im Kapitel Überblick zu Automotive Health erklären. Richtig Schwung in das Thema Automotive Health sei im Jahr 2016 gekommen. Das habe unter anderem an intensive Marketingarbeit von Audi rund um die Fit-Driver-Funktionen gelegen. Audi hatte damals das Konzept eines empathischen Fahrzeugs, das sich um die Bedürfnisse des Fahrers kümmert, präsentiert. Mit dem Slogan "My Car cares for me" habe sich das Unternehmen frühzeitig im Kampf um den Automotive-Health-Markt positioniert.
Neben Audi arbeiten auch andere Hersteller wie BMW, Ford, Kia, Nissan, Toyota und Volkswagen an Gesundheits- und Wellnessdiensten im Auto, wie Springer-Autor Cornel Stan im Kapitel Das Auto als Doktor und als Polizist des Buchs Automobile der Zukunft aufzählt. Aber auch der Engineering-Dienstleiser IAV ist auf diesem Feld aktiv. So hat das Unternehmen zusammen mit der Universität Oldenburg den Gesundheitsassistenten "The car that cares" entwickelt. Dieser besteht aus einem zertifizierten Brustgurt, der Puls und Atemfrequenz erfasst, einer KI-gestützten und im Fahrzeug implementierten IAV-Software sowie einer intelligenten und gesicherten IAV-Cloud-Infrastruktur.
Neue Ebene der Gesundheitsversorgung
Allerdings wird die Entwicklung der Automotive Health nicht bei einzelnen Gesundheits- und Wellnessdiensten Halt machen. Glaubt man den Springer-Autoren, dann wird das Auto künftig "als eine weitere Modalität im Bereich der Gesundheitsüberwachung" funktionieren.
Automotive Health beherbergt große Potenziale einer Disruption zweier Branchen durch die Digitalisierung, das Gesundheitswesen und die Automobilität", so die Autoren.
Sie sprechen von nichts weniger als der "Veränderung der Gesundheitsversorgung". Gerade die Kopplung von E-Health-Lösungen in ein autonom fahrendes Auto, das digital und vernetzt ist, ermögliche eine neue Ebene der Gesundheitsversorgung. Die Vorstellungen reichen dabei vom autonom fahrenden MRT beziehungsweise Röntgengerät, der autonomen Apotheke bis hin zum autonom fahrenden Behandlungszimmer mit dem Arzt.
Sensible Gesundheitsdaten
Also alles gut in der schönen, neuen, mobilen Gesundheitswelt? Nicht ganz. Denn neben den Chancen und Potenzialen der Automotive Health existieren auch einige Hürden, die es zu überwinden gilt. Hierzu zählen nach Angabe der Springer-Autoren die Akzeptanz und der Reifegrad der Technologie, gesetzliche Bestimmungen und Regelungen, das Know-how der Automobilindustrie und das Thema Datenschutz und Datensicherheit. Hinzu kämen die Strukturen des Gesundheitssystems.
Überhaupt ist die Frage, ob das traditionelle, konservative Gesundheitssystem eigentlich für innovative Geschäftsmodelle ausgelegt ist? Momentan scheinen disruptive Geschäftsmodelle schwer denkbar. "Viele medizinische Organisationen, Ärzte, Juristen, Datenbeauftragte und Sicherheitsexperten zeigen keine Begeisterung für derartige mobile Gesundheitszentren. Das befürchtete Entwenden von Daten oder ihre Nutzung für illegale Zwecke ergäben nur ein Problemgebiet", so Stan im bereits erwähnten Buchkapitel Das Auto als Doktor und als Polizist. Hacker und Übeltäter aller Art könnten in diesem Zusammenhang auch recht gefährlich werden.
Die Springer-Autoren Glanz und Deserno sind indes vom Potenzial der Automotive Health überzeugt: "Für die Autoindustrie wäre es ein Fehler, diese Chancen hinsichtlich Kundenakzeptanz und Marktgröße zu ignorieren". Schließlich werde auf der Suche nach neuen Systemen und Märkten für die Autoindustrie der Kundennutzen entscheiden, auch wenn heute dieses Segment der eher medizinnahen Dienstleistungen immer noch schwer in kostenpflichtige Sonderausstattungen integrierbar sei. Klar sei: "Die Nachfrage nach 'Extras' dieser Art wird mit der älter werdenden Bevölkerung und den gerade in der Entwicklung befindlichen, neuen technischen Möglichkeiten ein beträchtliches Marktsegment erschließen".