4. Erklärungsfaktoren der Hinterziehung direkter Steuern

Die Forschungsaktivitäten zur Steuerhinterziehung sind auch heute noch umfangreich. Im Rahmen des Forschungsprogramms „EU Horizon 2020“ der Europäische Kommission wurde 2016 beispielsweise ein grosses Forschungsprojekt lanciert: REV-INEQUAL-08-201, Fighting inequalities through policies against tax fraud and tax evasion; Combatting Fiscal Fraud and Empowering Regulators (COFFERS); http://​coffers.​eu/​. Das Projektziel von COFFERS ist wie folgt definiert: „Since 2008 ‚fiscal leaks‘ have become an immediate policy challenge for EU governments, partly as a result of tax abuse. The COFFERS project unfolds as EU tax authorities transition to a new era in tackling tax abuse based upon policy innovation at the OECD, EU and national levels. […] COFFERS recognizes that identifying and tackling the tax gap to relieve inequality is the ultimate aim. Noting the tax gap exists both domestically and internationally and ranges from criminal money laundering to sophisticated tax avoidance, COFFERS benchmarks current understanding of these issues, undertakes comparative analysis of approaches taken to tackle them across EU Member States, and assesses resources being allocated to the task of closing the tax gap. In parallel expert networks in business, the tax profession, secrecy jurisdictions and the criminal economy that develop the mechanisms undermining the expected effectiveness of tax systems will be appraised, especially with regard to responses to regulatory changes taking place. […] Deliverables of use to EU tax authorities include new tax gap analyses by state, tax risk maps identifying risk by jurisdiction, a new anatomy of money laundering risk, and tools to help tax authorities understand the risks that they face domestically and internationally. COFFERS delivers value for money in enhancing tax yield, effectiveness in creating the tools to achieve that goal, and behavioural change in taxpayers and their advisers as a result of recommendations made, all with the aim of reducing inequality“; https://​cordis.​europa.​eu/​project/​id/​727145. Es ist auffallend, dass das Projekt als zentrale Zielsetzung die Reduktion des Tax Gaps sowie die Verminderung von Ungleichheiten in der EU hat, vor allem durch wirkungsvollere Instrumente in den Händen der Steuerbehörden. Es gibt kaum Hinweise darauf, dass in diesem Projekt systematisch der Frage nachgegangen wird, weshalb die Steuerpflichtigen überhaupt Steuern hinterziehen.

Vgl. das bereits eingeführte taxpayer-as-gambler TAG-model (Baur 2012, S. 4).

Interessant ist der Bezug zur Volksabstimmung über die Versicherungsdetektive in der Schweiz, welche im Jahr 2018 mit einer Ja-Mehrheit von rund 2/3 angenommen wurde. Das Gesetz ermöglicht es den Behörden, für die Aufdeckung von Missbräuchen in den Sozialversicherungen Detektive einzusetzen, welche verdeckt ermitteln. Mit dem Argument, dass die Steuerhinterziehung einen vergleichbaren Unrechtsgehalt habe, verlangten verschiedene politische Stimmen die Einführung von „Steuerdetektiven“. Eng damit verknüpft ist die Forderung nach der Aufweichung oder gar gänzlichen Abschaffung des inländischen Bankkundengeheimnisses, um die Steuerhinterziehung besser bekämpfen zu können (Quelle. https://​www.​nzz.​ch/​zuerich/​steuerdetektive-sp-betreibt-in-zuerich-symbolpolitik-ld.​1504621). Zumindest die Ergebnisse für Deutschland lassen vermuten, dass zwischen Sozialbetrug und Steuerhinterziehung in der Bevölkerung ein unterschiedliches Unrechtsbewusstsein besteht. Es scheint, dass es etwas anderes ist, beim Staat ungerechtfertigt Leistungen zu beziehen als ihm Einnahmen vorzuenthalten.

Stammtischwissen: Vermutlich sind alle gleichermassen etwas unzufrieden. Herumnörgeln am Staat gilt in der Schweiz als fünfte Landessprache …

Gewisse Steuerpflichtige haben aufgrund der Öffentlichkeit des Steuerregisters anscheinend mehr Vermögen und Einkommen deklariert, als sie tatsächlich hatten, und damit auch übermässig Steuern bezahlt. Sie wollten bei ihren Nachbarn nicht als „arme Schlucker“ dastehen, so zumindest die anekdotische Evidenz. Ob dies tatsächlich stimmt, lässt sich nicht überprüfen.

Diese Angst ist nicht unbegründet. Im Zuge der grossen Finanzkrise hat beispielsweise Zypern im Jahr 2013 zur Sanierung seines maroden Bankensystems Kapitalverkehrskontrollen eingeführt und Bankkontoeinlagen, welche über die Einlagesicherung von 100‘000 Euro hinausgingen, teilweise zum Zwecke der Bankensanierung enteignet (Quelle: Marco Kauffmann Bossart, Wo Zypern noch unbewältigte Altlasten hortet, NZZ vom 27. Januar 2018). Damit wurden vermögende Personen klar schlechter gestellt als weniger vermögende. Auch im Zuge der Covid-Pandemie wurden entsprechende Forderungen laut: „let the rich pay for the pandemic“.