Skip to main content
Erschienen in:
Buchtitelbild

Open Access 2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

Es wimmelt von Henne-Ei-Problemen: Transformation als koevolutionärer Prozess

verfasst von : Klaus Jacob

Erschienen in: Transformation und Emanzipation

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

Aktivieren Sie unsere intelligente Suche, um passende Fachinhalte oder Patente zu finden.

search-config
loading …

Zusammenfassung

Es stellt sich nicht nur aus Umweltsicht, sondern auch aus der Perspektive sozialpolitischer Akteure ein weitreichender Transformationsbedarf. Ernährung, Wohnen, Verkehr, Gesundheit, Bildung lassen sich nach Auffassung vieler nicht mehr mit kleinschrittigen Verbesserungen sichern, sondern es wird nach grundlegendem Wandel gefragt. Natürliche Ressourcen zu extrahieren und die Umwelt als Deponie für Schadstoffe und Abfälle zu nutzen, ist genauso wie die Ausbeutung von Arbeit eine Möglichkeit, um Kosten zu reduzieren und in der Konkurrenz mit anderen Unternehmen Vorteile zu erringen. Die gemeinsame Formulierung der Veränderungsanliegen durch sozial- und umweltpolitische Akteure wäre ein starker Impuls für eine Beschleunigung tiefgreifender Prozesse nachhaltigen Wandels. Wenn ein dominanter gesellschaftlicher Diskurs entsteht, in dem sich die Delegitimation des Bisherigen und die Machbarkeit und Vorteilhaftigkeit einer Alternative miteinander verbinden, hat das eine enorme Wirkung: Es gibt dem ungerichteten Innovationsgeschehen in den Nischen eine Richtung, verbindet und koordiniert das Handeln von Akteuren in eine gemeinsame Richtung. Das Geschehen erfährt große Dynamik.
Wirtschaften ist – jedenfalls in der hiesigen Wirtschaftsordnung – der Prozess zur Herstellung von Gütern und dem Verrichten von Diensten mit immer neuen Eigenschaften zu immer niedrigeren Kosten. Der Antrieb dahinter ist Konkurrenz: Anbieter, die hier nicht erfolgreich sind, zu spät kommen, weniger absetzen, werden früher oder später damit bestraft, dass sie vom Markt verschwinden, und neue Anbieter, die mit neuen oder billigeren Produkten in den Markt eintreten, werden belohnt.
Dieses immer neu, immer mehr, immer billiger ist mit erheblichen Kosten verbunden, zuallererst mit sozialen Kosten. Die Geschichte des Wirtschaftens ist auch eine Geschichte der Ausbeutung von Arbeitskraft und Lohndruck. Abhängige Beschäftigte haben und brauchen den Schutz der Gewerkschaften und des Staates. Die Aushandlung fairer Löhne und guter Arbeitsbedingungen, der Schutz gegenüber Armutsrisiken, wenn Einkommen ausfällt, mag Einzelnen in Ausnahmefällen gelingen, sofern diese über gesuchte Qualifikationen verfügen – im Regelfall war und ist das aber eine kollektive Aufgabe, die entweder die Tarifpartner oder die Gesellschaft als Ganzes reguliert. Die Mittel dafür sind unter anderem Tarifverträge, Arbeitsschutzbestimmungen, Sozialversicherungen und die Gestaltung von Steuern.
Aus unternehmerischer Sicht bedeuten diese Mittel Kosten, und sie zu senken, lenkt beträchtlich das Innovationsgeschehen. Gerade industrielle Arbeit wird immer produktiver. Der nächste Rationalisierungsschub kündigt sich an: Mit künstlicher Intelligenz werden viele Arbeitsplätze auch im Bereich von Dienstleistungen, auch und gerade dort, wo Kreativität notwendig ist, unterstützt, wenn nicht gar sogar völlig obsolet. Sogar das Innovationsgeschehen selbst ist betroffen – absehbar ist, dass neue Technologien, neue Software, neue Prozesse nicht mehr von Menschen, sondern von Maschinen geplant und entwickelt werden.
Das Immer-Neu, Immer-Mehr und Immer-Billiger ist aber auch mit ökologischen Kosten verbunden. Natürliche Ressourcen zu extrahieren und die Umwelt als Deponie für Schadstoffe und Abfälle zu nutzen, ist genauso wie die Ausbeutung von Arbeit eine Möglichkeit, um Kosten zu reduzieren und in der Konkurrenz mit anderen Unternehmen Vorteile zu erringen. Dem wird mit Appellen, Grenzwerten und seit einigen Jahren auch mit marktbasierten Instrumenten begegnet. Auch das hat erhebliches Innovationsgeschehen nach sich gezogen – schadstoffärmere Produkte und Prozesstechnologien sind, wenn sie nicht absehbar vorgeschrieben werden, ein wesentliches Wettbewerbsmerkmal, weil damit letztlich auch Kosten gespart werden können.

Ist der Kapitalismus gebändigt?

Wer meint, dass soziale oder Umweltfragen nun erledigt seien, weil doch – zumindest in der ‚westlichen Welt‘ – der Zustand der Gewässer oder der Luft verbessert oder der Hunger eingedämmt sei, der irrt. Zwar ist richtig: bei einer Reihe von sozialen und ökologischen Indikatoren sind Verbesserungen erzielt worden. Selbst wenn Ungleichheit zunimmt, das Risiko absoluter Armut, Wohnungslosigkeit, Hunger seien doch geringer geworden. Selbst wenn industrielle und landwirtschaftliche Produktion oder der Verkehr wachsen, sei doch mindestens die relative Umweltwirkung, also pro gefahrenem Kilometer, Euro Wertschöpfung oder Tonne zurückgegangen, für viele Indikatoren sogar in absoluten Größen.
Ist der Kapitalismus also gebändigt und sind wirksame Spielregeln in Kraft, die Mensch und Umwelt vor weitergehender Ausbeutung schützen? Ganz offensichtlich nicht. Durch ökonomische Globalisierung gelingt es immer wieder neu, dass sich Hersteller sozialen oder Umweltstandards entziehen; oder es kommt mit Verweis auf internationalen Wettbewerb gar nicht erst zu Regulationen. Das Ergebnis des Hungers nach Rohstoffen, der stetigen Ausweitung von Märkten ist die umfassende Umgestaltung der Erde inklusive sozialer und ökonomischer Strukturen. Das Innovationsgeschehen ist insbesondere darauf gerichtet, immer weitere Rohstoffquellen zu erschließen, in immer niedrigeren Konzentrationen, größeren Tiefen. Daran ändert auch das Auseinanderbrechen von Lieferketten in Folge des Ukrainekriegs oder der Coronapandemie nichts. Im Gegenteil wirkt das sogar noch verstärkend, nun ist Frackinggas wieder eine Option, die Intensivierung von Landwirtschaft wird vorangetrieben.
Und das wirkt auf Deutschland zurück, nicht nur ökonomisch, sondern auch physisch. Im Agrarexportland Deutschland gibt es ebenfalls einen enormen Stickstoffüberschuss, geht Biodiversität verloren, werden die Klimaschutzziele gerissen, die aus dem Parisabkommen für Deutschland abgeleitet sind. Auch in Deutschland gelingt es nicht, die Bedürfnisse nach Wohnraum, Ernährung und Verkehr in einer Weise zu stillen, die Ungleichheiten nicht noch verstärkt und den sozialen Zusammenhalt gefährdet. Nicht nur die explodierenden Preise für Wohnraum, Ernährung und Mobilität betreffen Bezieher:innen niedriger Einkommen in besonders starkem Maße. In den jeweiligen Wertschöpfungsketten gibt es vielfache prekäre Arbeitsverhältnisse, seien es Kleinbäuer:innen, Beschäftigte in Schlachtbetrieben oder vermeintlich selbstständige Fahrer:innen.

Dysfunktionalitäten sozio-technischer und sozio-ökonomischer Systeme

Was sich bis hierhin als unstrukturierter Text gelesen hat, ein stetes Springen zwischen sozialen und ökologischen Aspekten, zwischen nationaler und internationaler Perspektive, zwischen Armut, Ungleichheit, Verteilung und sozialem Zusammenhalt, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und möglicher Zukunft geht doch zurück auf den generellen Befund einer – aus sozialer und ökologischer Sicht – Dysfunktionalität zentraler gesellschaftlicher Systeme.
Gesellschaftliche Systeme können verstanden werden als Konfigurationen aus Technologien, Wissen, Märkten, Institutionen und Regulationen, sozialen Praktiken und Infrastrukturen, die in ihrem Zusammenwirken gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigen. Je nachdem, ob sie sich durch dominierende Technologien definieren oder vor allem auf Märkte fokussieren, lassen sie sich als sozio-technische oder sozio-ökonomische Systeme bezeichnen. Solche Systeme gibt es unter anderem für die Bedürfnisse nach Mobilität, Kommunikation, Energie, Ernährung, Wohnen, Bildung, Gesundheit. Aus ökologischer Sicht sind besonders das Energie-, Ernährungs- und Verkehrssystem sowie das Wohnen relevant. Diese Systeme haben wesentliche Anteile an den Emissionen von Treibhausgasen und der Inanspruchnahme natürlicher Ressourcen. Sie sind für einen großen Teil des Materialumsatzes und Flächenverbrauchs verantwortlich und tragen dadurch zum Verlust von Biodiversität bei.
Trotz des Innovationsgeschehens, seien es verbrauchsärmere Pkw, energieeffizientes Bauen und Sanieren, Bio-Lebensmittel oder Schadstofffilter bei Kraftwerken und erneuerbare Energien: Wesentliche Probleme bleiben ungelöst. Und noch mehr, innerhalb der gegebenen Entwicklungspfade scheinen Lösungen nicht praktikabel oder unzureichend.
Die derzeit diskutierten Lösungen, sei es Strom aus erneuerbaren Quellen, Elektrifizierung von Mobilität, gedämmte und elektrisch beheizte Häuser oder Bio-Lebensmittel, sind auch aus ökologischer Perspektive nicht durchgängig unschuldig, sondern haben mindestens lokale Umweltwirkungen; vielfach werden aber auch die Problemlagen nicht umfassend adressiert (zum Beispiel würde auch ein vollständig elektrifizierter Verkehr eine Infrastruktur nutzen, die erhebliche Zerschneidungseffekte hat) oder sogar neue geschaffen (etwa die für umfassende Elektrifizierung erforderlichen Metalle). Die bisherigen Verbesserungsinnovationen sind genauso wenig ausreichend, wie die Vorstellung, in diesen Systemen problematische Technologien zu ersetzen, alles Übrige aber so zu belassen, wie es ist. Ein Verkehrssystem, das genauso fortgeschrieben wird, bei dem nur die Verbrennungsmotoren durch Elektromotoren ersetzt würden, wäre nicht ausreichend und könnte bestimmte Problemlagen sogar noch weiter verschärfen. Auch bei der Ernährung wäre es nicht ausreichend, Lebensmittel einfach nur umweltschonender zu produzieren, aber weiterhin ein hohes Niveau bei Fleischkonsum und bei Lebensmittelvergeudung zu belassen; oder den hohen und rasch wachsenden Flächenbedarf beim Wohnen nicht zu bremsen.

Nachhaltigkeitstransformationen und ihre Gestaltung

Eine Nachhaltigkeitstransformation geht über die Verbesserung oder den Ersatz von einzelnen Technologien hinaus und bedeutet eine umfassende Rekonfiguration dieser gesellschaftlichen Systeme. Sie beinhaltet die für die Bedürfnisbefriedigung notwendigen Infrastrukturen, die Institutionen und Regulationen, die die Systeme regeln und nicht zuletzt auch die sozialen Praktiken, die mit Mobilität, Ernährung, Wohnen oder Energienutzung verbunden sind.
Auch hier gilt: Es geht nicht darum, ein einzelnes Systemelement zu ersetzen, eine Rekonfiguration erfordert stattdessen Veränderungen bei allen Systemelementen. Mobilität, die nicht mehr auf Lastwagen und Pkw basiert, sondern öffentlichen Verkehr, Fahrrad oder Car-Sharing in den Vordergrund stellt, braucht eben nicht nur die Technologien, sondern auch die dafür notwendigen Infrastrukturen usw.
Hier wimmelt es von Henne-Ei-Problemen: Kommen neue Technologien zuerst oder andere Infrastrukturen? Institutionen oder soziale Praktiken? Transformation kann als ein Prozess von Koevolution verstanden werden: Veränderungen in dem einen Systemelement bedingen die Veränderungen eines anderen. Wenn das auch umgekehrt gilt, dann tritt (regelungsbedürftige) Rückkopplung auf; regelungsbedürftig, weil Rückkopplungen ansonsten Ressourcen aufbrauchen.
Es ist offenkundig, dass dies nicht die einzige Steuerungsaufgabe ist. Auch die Henne-Ei-Probleme gilt es zu lösen und nicht zuletzt auch die Verteilungsfragen, die mit einer umfassenden Rekonfiguration verbunden sind.
Erschwerend kommt hinzu, dass politische Institutionen Teil der Systeme sind. Sie sind auf deren Funktionsfähigkeit und Stabilität gerichtet. Wirtschafts-, Energie-, Verkehrs- und Landwirtschaftspolitik ist zunächst einmal überhaupt nicht transformationsorientiert, ganz im Gegenteil stützt sie die bisherigen Pfade und Strukturen. Zwar sind politische Institutionen – wie auch wirtschaftlich tätige Akteure – an Innovationen interessiert, um Wettbewerb zu beleben und öffentlichen Akteuren kommt in der Innovationspolitik durchaus eine besondere Rolle zu: Aufgrund der Möglichkeit, dass Wettbewerber Innovationen nachahmen, ohne selber in Innovation zu investieren, liegt das Niveau von Forschung und Entwicklung unter dem, was gesamtwirtschaftlich eigentlich wünschenswert wäre. Innovationspolitik soll diese Lücke ausgleichen. Im Ergebnis des durch Konkurrenz motivierten Strebens nach Neuerung, verstärkt durch Innovationspolitik, sind die hier betrachteten Systeme nicht statisch, sondern von permanentem Wandel geprägt – aber innerhalb der gegebenen Pfade und Strukturen.
Durch Ausdifferenzierung sind die Systeme in der Lage, neue Technologien aufzugreifen und zu integrieren, ohne dass bisherige Strukturen grundlegend verändert werden: Landwirt:innen, die neben exportorientierter industrialisierter Fleischproduktion auch eine Produktlinie zu regionalem Biofleisch anbieten, Automobilhersteller, die neben den Diesel-SUV auch eine Produktlinie zu E-Autos einführen, Energieversorger, die gleichzeitig fossil und erneuerbar tätig sind.
Innovation und Ausdifferenzierung gehören zu den Dynamiken der Systeme, das wird durchaus auch von den zugehörigen politischen Institutionen unterstützt. Transformation geht aber darüber hinaus und Nachhaltigkeitstransformation erscheint innerhalb der gegebenen Systeme auch nicht möglich, obwohl noch erhebliche Effizienzpotentiale gegeben sind. Aber die Beharrungskräfte sind enorm: wirtschaftlich, weil damit reduzierte Kosten verbunden sind, politisch, weil die Institutionen auf Stabilität und Innovation innerhalb der vorliegenden Pfade und Strukturen ausgerichtet sind, gesellschaftlich und kulturell, weil die Vorstellungen von Normalität und die sozialen Praktiken als Teil der Systeme darauf gegründet sind und sich – augenscheinlich – allenfalls langsam verändern.
Verschärfend kommt hinzu, dass sich der liberale Staat daran gebunden hat, in Wirtschaft und in individuelles Verhalten nur in begründeten Ausnahmefällen einzugreifen. Zwar kann man argumentieren, dass öffentliche Politik das dennoch, und zwar ständig und in allen Lebensbereichen tut. Aber zur Abwehr von Wandel und einer Politik, die Wandel unterstützt, ist diese Selbstbindung allemal wohlfeil: Die Betroffenen können sich nur zu leicht auf den Schutz von Eigentum, Berufsfreiheit und anderen individuellen Rechten berufen, wenn es um die Abwehr von Politik geht, die ihre Besitzstände gefährden würde.

Veränderungsdynamik ist möglich

Die Abwehr der Transformation ist allerdings daran gebunden, dass die bisherigen Strukturen auch funktionieren und sich daraus legitimieren. Legitimation durch Performanz ist eine zentrale Funktionsbedingung. Frank Geels (2002) stellt in seinem Modell einer Mehrebenenperspektive diese Systeme in einen Kontext von Landschaft und Nischen. Landschaft meint dabei die für das System relevanten Rahmenbedingungen. Dazu gehören die Verfasstheit von Gesellschaft und Staat, die natürlichen Rahmenbedingungen, grundlegende Technologien usw. Auch diese Landschaft verändert sich, aktuell etwa erkennbar an Veränderungen der Weltwirtschaftsordnung, neuen Technologien wie der künstlichen Intelligenz, Wertewandel und damit verbundenen neuen gesellschaftlichen Konfliktlagen (zum Beispiel Materialismus-Postmaterialismus) und nicht zuletzt dem Klimawandel.
Legitimität durch Performanz misst sich zuvörderst an diesen Rahmenbedingungen. Was bisher als gute oder doch hinreichende Performanz bewertet wurde, ist unter veränderten Rahmenbedingungen nicht mehr ausreichend. Autos, die sicher und komfortabel sind und einen sozialen Status vermitteln, werden von postmaterialistisch orientierten Menschen unter Bedingungen des Klimawandels anders beurteilt und stellen letztlich die Legitimität der Autoindustrie infrage.
Problematisch werden solche Prozesse, wenn sie mit dem Ende von langfristigen Innovationszyklen zusammenfallen. Innerhalb von technologischen Paradigmen folgen auf grundlegende Innovationen stetige Verbesserungsinnovationen, die weitere Merkmale ergänzen oder Kosten reduzieren. Schumpeter (1968) vermutet, dass das Potential für solche Verbesserungsinnovationen im Zeitverlauf immer geringer wird und in langer Frist erliegt. Dies erkläre die in den 1920er Jahren von Kondradieff entdeckten langfristigen Konjunkturwellen, die im Laufe von ca. 50 Jahren auftreten und deren Abschwung nur durch neue Basisinnovationen beendet werden könne.
Wenn Veränderungen in der Landschaft mit einem Ende des langfristigen Innovationszyklus zusammenfallen, dann steht die Legitimation von Systemen infrage. Beschleunigt wird die Delegitimation durch Nischen: Damit werden von Geels (2002) kleine Innovationssysteme bezeichnet, die Leistungen für soziotechnische Systeme erbringen, aber in einer grundlegend anderen Weise arbeiten. Sie können als Netzwerke von Akteuren verstanden werden, die Wertschöpfungsketten anders organisieren. Beispiele sind Carsharing, Community Supported Agriculture, gemeinschaftliche Wohnformen, energiewirtschaftliche Bürgergenossenschaften, usw. Wenn diese „bottom up“-Initiativen in einer Konstellation abnehmender Legitimität demonstrieren, dass Bedürfnisse auch anders befriedigt werden können, dann entsteht weiterer Druck auf die dominierenden Systeme, ihre Strukturen und Akteure. Weder Veränderungen in der Landschaft noch das Auftreten von Nischen sind für sich hinreichende Bedingungen für Transformationen, aber ihr Zusammenspiel macht Transformationen wahrscheinlicher.
Mit veränderter Landschaft lässt sich auch eine Zunahme von Nischen beobachten. Die Veränderungsdichte für Innovationen, die eine grundlegend andere Bedürfnisbefriedigung anbieten, nimmt zu. Ganz zweifellos erleben wir das derzeit. Die Richtungen unterscheiden sich aber. So gibt es im Ernährungsbereich Nischen, die hochtechnisierte Fleischherstellung unabhängig von Tieren in vitro produzieren, andere, schon marktgängig, die Fleisch mit pflanzenbasierten Proteinen nachbilden. Innovationsrichtungen sind auch urban farming oder kleinteilige, regionalisierte Landwirtschaft auf der Basis eher traditioneller Technologien. Welche Nischen als nachhaltig zu bewerten sind und welche sich in Zukunft durchsetzen werden und die Ernährung in den kommenden Jahrzehnten bestimmen werden, ist offen und umstritten.
Die Beispiele zeigen, dass es nicht nur einen Wettbewerb zwischen Nischen und dominierendem System gibt (Alt-Neu-Wettbewerb), sondern auch zwischen den Nischen (Neu-Neu-Wettbewerb, vgl. Nill 2009). Auch hier gibt es keinen einzelnen Akteur, der in der Lage wäre, zu wählen und zu entscheiden. Die Auswahl erfolgreicher Basisinnovationen ist ein sozialer und diskursiv geprägter Prozess. Die Diskurshoheit steht in der Konkurrenz von Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, die ja selber wiederum in hohem Maße fragmentiert sind.

Ansätze transformationsorientierter Politik

Wenn aber ein dominanter gesellschaftlicher Diskurs entsteht, in dem sich die Delegitimation des Bisherigen und die Machbarkeit und Vorteilhaftigkeit einer Alternative miteinander verbinden, hat das eine enorme Wirkung: Es gibt dem bis dahin ungerichteten Innovationsgeschehen in den Nischen eine Richtung, verbindet und koordiniert das Handeln von Akteuren in eine gemeinsame Richtung. Das Geschehen erfährt große Dynamik, Veränderungsprozesse gehen zu Koevolutionen über und beschleunigen sich. Nach den oft langen Vorlaufphasen des Probierens treten Veränderungen dann sehr plötzlich auf, bisherige Vorstellungen von Normalität, die als tiefsitzend und allenfalls in historischer Perspektive veränderbar schienen, werden umgestoßen. In dieser Phase existieren alte und neue Strukturen nebeneinander, Strom wird sowohl aus Kohle als auch aus Windkraft produziert, und häufig werden hybride Formen entwickelt – um ein historisches Beispiel zu wählen: Segelschiffe, die von Dampfmaschinen unterstützt werden, waren eine zeitweilige Übergangstechnologie. Aus Umweltsicht sind diese Phasen eher problematisch, weil das Risiko besteht, dass sich die Nachteile miteinander verbinden und dass Ressourcen überbeansprucht werden, weil die Produktion eher zunimmt. Auch das lässt sich belegen, seien es die großen Mengen Strom, die in Deutschland aus Kohlekraft produziert und in die Nachbarländer exportiert werden, oder die Exportorientierung der Landwirtschaft.
Nach dieser Phase der Beschleunigung, des Wettbewerbs Alt-Neu und der Substitution kommt eine Phase der Stabilisierung. Das Neue ist durchgesetzt, Koevolutionen, die als Rückkopplungen auftraten, sind bereinigt, neue Institutionen geschaffen und entsprechende soziale Praktiken reguliert. In dieser Phase der Stabilisierung setzt auch das reguläre Innovationsgeschehen wieder ein, die Basisinnovationen werden kontinuierlich verbessert, aber die Transformation als Systeminnovation ist abgeschlossen.
Die Wirkungen von Transformationen entziehen sich genauso wie deren konkrete Richtung einer Steuerung im Detail. Sicher ist aber, dass ein solcher Strukturwandel mit erheblichen Verteilungswirkungen verbunden ist. Bisherige Qualifikationen und Anlagen werden in ihrem Wert gemindert, andere aufgewertet. Regionen sind in unterschiedlichem Maße davon betroffen. Die Erwartung, genauer: die Befürchtung von solchen Verteilungswirkungen trägt dazu bei, dass Veränderungsprozesse hinausgezögert werden und sich davon betroffene Akteure mehr oder weniger erfolgreich dagegen stemmen.
Dieser Prozess, bei dem Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ja selber Teil von Transformation sind und ihr selber unterzogen werden, lässt sich nicht in einem großen Plan erfassen. Allein die Größe der Aufgabe, sei es das Energie-, Verkehrs- und Ernährungssystem oder auch das ganze Wirtschaftssystem zu transformieren, erscheint absurd. Zumal es ja keinen einzelnen Akteur gibt, der Zuständigkeit reklamieren könnte, diese ist über Ressorts und – noch schwerwiegender – über Ebenen von der kommunalen bis zur europäischen oder internationalen Ebene verteilt. Jede Ebene, jedes Ressort ist dabei auf die jeweils eigene Zuständigkeit und Betroffenheit bedacht. Eine integrierte, Politikfeld- und -ebenen übergreifende Politik erscheint unrealistisch und unwahrscheinlich. Zu sehr unterscheiden sich die Interessen und Notwendigkeiten der Akteure.
Wenn man aber nicht allein den Gegenstand betrachtet, sondern den Prozess von Transformationen, dann ergeben sich durchaus vielfältige Ansatzpunkte gestaltend tätig zu werden (vgl. Wolff et al. 2018): Eine entsprechende Wissensbasis zugrunde zulegen, gesellschaftliche Trends zu analysieren und zu nutzen, um transformativem Wandel Dynamik zu verleihen; Räume für soziale Innovationen zu schaffen und Akteure zur Teilhabe zu befähigen, Schnittstellen zu kreieren, die Koevolution zwischen unterschiedlichen Systemen und Systemelementen ermöglichen; Leitbilder und Visionen zu entwickeln. Solche Optionen, die auch weniger machtvollen Akteuren zur Verfügung stehen, können jenseits einer umfassend integrierten, holistischen Strategie ergriffen werden. Zu einer Gestaltung von Transformationen gehört auch, nicht nur darüber nachzudenken, wie das Neue in die Welt gebracht wird, sondern auch darüber, wie nicht-nachhaltige Strukturen beendet werden können. Dafür ist der Begriff Exnovation als das Gegenstück zu Innovation geprägt worden (Heyen 2017). Hier geht es maßgeblich darum, soziale Friktionen von Transformationsprozessen zu vermeiden.

Verhältnis sozialer und ökologischer Fragen in Transformationen

Wie stellt sich nun das Verhältnis von sozialen (Verteilungs-)fragen und ökologischen Fragen im Kontext von Transformationen der hier betrachteten Systeme dar? Eine oberflächliche Perspektive würde möglicherweise zu dem Schluss kommen, dass Transformationen aus Umweltperspektive angetrieben werden, dass es allenfalls darum ginge, Akzeptanz dafür zu gewinnen, indem sozialer Ausgleich angestrebt wird und sozialpolitische Akteure darauf achten, dass es für ihre jeweilige Klientel nicht zu schnell oder zu teuer wird.
Diese Analyse greift aber zunehmend zu kurz: Vor dem Hintergrund der geschilderten sozialen Dysfunktionalitäten dieser Systeme, verbunden mit dem Wandel der für soziale Fragen relevanten Rahmenbedingungen (demografischer Wandel, Wanderung, Friktionen der Globalisierung, etc.) stellt sich auch aus der Perspektive sozialpolitischer Akteure ein weitreichender Transformationsbedarf. Ernährung, Wohnen, Verkehr, Gesundheit, Bildung lassen sich nach Auffassung vieler nicht mehr mit kleinschrittigen Verbesserungen sichern, sondern es wird nach grundlegendem Wandel gefragt.
Damit stellt sich die Frage, wie sich das mit den Anliegen einer ökologischen Transformation verbindet, welche Zielbilder sich in Deckung bringen lassen, wie Prozesse und Diskurse gemeinsam gestaltet werden können. Auch wenn es hier erste Verbindungen und Netzwerke gibt, die sich zwischen sozialpolitischen und umweltpolitischen Akteuren entwickeln und die über die Vermeidung von sozial unerwünschten Folgen von Umwelt- und Klimapolitik hinausgehen und ein gemeinsames Gestaltungsinteresse formulieren, so wird doch deutlich, dass das nicht konfliktfrei ist (Petschow et al. 2021). Die Veränderungsrichtung und das Veränderungstempo, der Umgang mit Verteilungsfragen bleibt an deren jeweilige, von Fall zu Fall durchaus unterschiedliche Perspektive gebunden. Insofern scheint es sinnvoll, Foren zu entwickeln, die beides zulassen: Kooperation bei der Gestaltung und die Aushandlung von Konflikten. Hier ist institutionelle Innovation geboten. Es ginge darum, weder die Fiktion vollständiger Integration zu pflegen, noch die kleinteilige Verfolgung des jeweiligen Partikularinteresses. Ein solcher Ansatz würde gut unterstützt, wenn der Staat sich beteiligt und solche Foren an der Aushandlung und Formulierung von Politik beteiligt. Sie lassen sich aber auch ohne Staat initiieren und erproben. Die gemeinsame Formulierung der Veränderungsanliegen durch sozial- und umweltpolitische Akteure wäre jedenfalls ein starker Impuls für eine Beschleunigung tiefgreifender Prozesse nachhaltigen Wandels.
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Literatur
Zurück zum Zitat Die Links wurden am 20. Juni 2022 zuletzt überprüft Die Links wurden am 20. Juni 2022 zuletzt überprüft
Zurück zum Zitat Nill, J. (2009). Ökologische Innovationspolitik. Eine evolutorisch-ökonomische Perspektive. Marburg: Metropolis (zugl.: Kassel, Dissertation 2008). Nill, J. (2009). Ökologische Innovationspolitik. Eine evolutorisch-ökonomische Perspektive. Marburg: Metropolis (zugl.: Kassel, Dissertation 2008).
Zurück zum Zitat Schumpeter, J. A. (1968). The Theory of Economic Development: An Inquiry Into Profits, Capital, Credit, Interest, and the Business Cycle (8. Edition). New York: Routledge Schumpeter, J. A. (1968). The Theory of Economic Development: An Inquiry Into Profits, Capital, Credit, Interest, and the Business Cycle (8. Edition). New York: Routledge
Metadaten
Titel
Es wimmelt von Henne-Ei-Problemen: Transformation als koevolutionärer Prozess
verfasst von
Klaus Jacob
Copyright-Jahr
2023
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-39911-5_12