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2009 | Buch

Europa zwischen Nationalstaat und Integration

verfasst von: Olaf Leiße

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Über dieses Buch

Als die Staats- und Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs, Italiens und der Benelux-Staaten am 25. März 1957 den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Rom unterzeichneten, legten sie den Grundstein für eine Organisation, die sich bis heute grundlegend von allen anderen internatio- len Zusammenschlüssen unterscheidet. Denn sie taten dies „in dem festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen“ und „entschlossen, durch gemeinsames Handeln den wi- schaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Länder zu sichern, indem sie die Europa trennenden Schranken beseitigen“ (Präambel EWGV). Die prominente Stelle direkt am Anfang der Präambel des EWG-Vertrags zeigt die herausgehobene Bedeutung, die die Staats- und Regierungschefs dem Prozess der allmählichen Integration beimaßen. Es geht um eine möglichst dichte Verknüpfung der Völker u n d Staaten in Europa, um gemeinsames Handeln und eine langfristig und zukunftsoffen an- legte Verflechtung von Nationen und Nationalstaaten. Sie sind bis heute die Grundpfeiler der Integration geblieben. Dieser doppelte Charakter der europäischen Integration ist von Politik und Wissenschaft lange vernachlässigt worden. Lange, viel zu lange Zeit stand vor allem die Integration der Staaten im Vordergrund. Es ging um die Etablierung tragfähiger Verhandlungssysteme, um Konfliktreduzierung und Konsensprod- tion, um intergouvernementale Kooperation auf unterschiedlichen politischen und administrativen Ebenen und die Stärkung der Gemeinschaftsorgane unter weit- hender Schonung der mitgliedstaatlichen Souveränität. Doch der „Schock von Dublin“ brachte es erneut zu Tage: Die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union stehen der Integration zunehmend skeptisch gegenüber. Am 12.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Einleitung
Auszug
Als die Staats- und Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs, Italiens und der Benelux-Staaten am 25. März 1957 den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Rom unterzeichneten, legten sie den Grundstein für eine Organisation, die sich bis heute grundlegend von allen anderen internationalen Zusammenschlüssen unterscheidet. Denn sie taten dies „in dem festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen“ und „entschlossen, durch gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Länder zu sichern, indem sie die Europa trennenden Schranken beseitigen“ (Präambel EWGV). Die prominente Stelle direkt am Anfang der Präambel des EWG-Vertrags zeigt die herausgehobene Bedeutung, die die Staats- und Regierungschefs dem Prozess der allmählichen Integration beimaßen. Es geht um eine möglichst dichte Verknüpfung der Völker und Staaten in Europa, um gemeinsames Handeln und eine langfristig und zukunftsoffen angelegte Verflechtung von Nationen und Nationalstaaten. Sie sind bis heute die Grundpfeiler der Integration geblieben.
2. Staatlichkeit und europäische Integration
Auszug
Während im langen 19. Jahrhundert und im beginnenden 20. Jahrhundert die Ideen der Nationenbildung und der Nationalstaatsgründung unaufhaltsam schienen, wurden doch bereits in der Zwischenkriegszeit fruchtbare Pläne für die Integration der europäischen Staaten und Völker vorgelegt. Zu nennen sind hier insbesondere die Pläne des französischen Außenministers Aristide Briand, die er im September 1929 vor dem Völkerbund erläuterte, die Paneuropa-Bewegung des Grafen Coudenhove-Kalergi, die die Ideen des Personalitätsprinzips weiterentwickelte, sowie die Veröffentlichungen von Drieu de Rochelle, Arpád Török, Richard Riedl und Alfred Weber. Sie alle entwarfen Pläne für eine supranationale Organisation in Europa, die die Völker und Staaten einbindet, ohne sie aufzuheben. Politisch blieben diese Pläne allesamt Makulatur, ideengeschichtlich haben sie die europäische Integration wesentlich befruchtet und die Einigungsbemühungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vorangetrieben. Mit ihnen lagen nach dem Untergang von Faschismus und Nationalsozialismus sogleich erste Modelle vor, wie die Einigung Europas organisiert werden könnte. Sie alle basierten auf der Idee der Veränderung von Staatlichkeit in Europa durch Integration und Vernetzung.
3. Gesellschaft und europäische Integration
Auszug
Mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft sind die beteiligten Staaten ein hohes politisches Risiko eingegangen. Denn zum ersten Mal in der Geschichte des Kontinents wurde ein Staatenbündnis geschlossen, das á la longue durée zusammenwachsen sollte und dessen Integrationsziel unbestimmt war. Außerdem, und dies unterscheidet den Staatenverbund von den Imperien früherer Zeiten, kam dieses Bündnis nicht durch Zwang, sondern aus einem vollkommen freien Entschluss der Mitgliedstaaten zustande. Die Union war und ist ein Bündnis unter Gleichen, auch wenn reale Ungleichgewichte der Macht existieren, zugleich bei-tritts- und zukunftsoffen angelegt. Die Europäische Union ist ein Projekt mit einer unklaren Zukunft, einer schwach konturierten Gegenwart und einer schillernden Vergangenheit. Dennoch ist, trotz aller Umwege und Rückschläge, am Ziel der immer weiteren Integration erstaunlich unbeirrt festgehalten worden.
4. Eine Verfassung für Europa
Auszug
Die Veränderung von Staatlichkeit wird in Europa vor allem durch den Prozess der vertieften Integration im Rahmen der Europäischen Union vorangetrieben.355 Nach der Überwindung der „Eurosklerose“ mit dem Vertrag von Maastricht scheint wächst die Europäische Union stetig mit ihren Aufgaben. Die Gestaltung der Transformation in Mittel- und Osteuropa und die Heranführung dieser Länder an den Westen des Kontinents, der Krieg in Jugoslawien und die Formulierung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Weg in die Wirtschafts- und Währungsunion waren nur die wichtigsten Herausforderungen, vor die sich die Union gestellt sah. Die Versuche, neue gemeinsame Politikfelder zu erschließen, waren nicht immer erfolgreich, Niederlagen mussten hingenommen, Widerstände akzeptiert werden. Dennoch kann konstatiert werden, dass die gestiegenen Anforderungen an das europäische Politikmanagement den Prozess der Vertiefung und Erweiterung beschleunigt haben. So wurde im Verlauf der Transformation in Mittel- und Osteuropa immer deutlicher, dass diese Länder den Status einer vollen Mitgliedschaft in der Union anstreben. Gleichzeitig wurde innerhalb der Union das Bewusstsein dafür geschärft, dass das ursprünglich für eine Gemeinschaft von sechs Staaten organisierte institutionelle System gravierende Schwächen aufwies. Einer Überbeanspruchung der Gemeinschaft versuchten die Mitgliedstaaten mit den Verträgen von Amsterdam und Nizza zu begegnen. Die normativ und legitimatorisch letztlich unbefriedigenden Ergebnisse der aufwendig vorbereiteten Vertragsrevisionen führten jedoch zu der Einsicht, es mit einer anderen Methode zu versuchen und einen Konvent einzuberufen.
5. Nationale Fragmentierung und Integration in Europa
Auszug
Mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften und schließlich der Europäischen Union setzte nach den Exzessen des 2. Weltkriegs ein gegenläufiger Prozess der Integration von Staaten und Nationen in eine übergeordnete Organisation ein. Ziel war es von Anfang an, in einem bewusst offenen Prozess die beteiligten Nationen einander anzunähern und immer weiter zu integrieren. Im Gegensatz zu anderen internationalen Organisationen, die lediglich das Verhalten der Staaten in bestimmten Sachbereichen reglementieren, war und ist die Europäische Gemeinschaft/Union auf die Schaffung supranationaler Strukturen angelegt. Seit ihrer Gründung ist die Europäische Union zweifellos ein weltweit einzigartiges und vorbildloses Erfolgsprojekt. Sie ist trotz aller Stagnations- und Reflexionsphasen so erfolgreich, dass sie zu einem Magneten für alle Staaten der Region geworden ist. Eine mehr oder minder intensive Einbindung in die Strukturen der Europäischen Union ist das politische Ziel vieler europäischer Staaten außerhalb der EU. Zugleich schreitet die Europäisierung der Nationalstaaten im Sinne einer Ausrichtung der nationalstaatlichen Strukturen auf europäische Strukturen voran. Beide Ebenen sind mittlerweile so eng verkoppelt, dass Formen und Logiken nationalstaatlichen Regierens nachhaltig verändert worden sind. Dieser Transformationsprozess im Sinne einer „EU-ization“ erstreckt sich über sämtliche Institutionen und Bereiche nationalstaatlichen Regierens, von nationalen Parlamenten über Parteien und Verwaltungen bis hin zur nationalen Politikformulierung.
Backmatter
Metadaten
Titel
Europa zwischen Nationalstaat und Integration
verfasst von
Olaf Leiße
Copyright-Jahr
2009
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-91334-6
Print ISBN
978-3-531-16056-6
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-91334-6