Zahlreiche Hürden, die transnationalem Handeln von Gewerkschaften in Europa entgegenstehen, sind in der Literatur ausführlich beschrieben worden (z. B. Bernaciak
2013; Greer und Hauptmeier
2012; Pernicka und Glassner
2014). Seltener wurde aber bisher in eine nationale Gewerkschaft hineingeschaut, um zu untersuchen, ob und inwiefern die innergewerkschaftlichen (Macht‑)Verhältnisse ihre europabezogene Arbeit beeinflussen (s. als eines der wenigen Beispiele Rüb
2009 zur IG Metall). Eine solche Perspektive könnte allerdings einerseits zu einem besseren Verständnis der Schwierigkeiten transnationalen Handelns von Gewerkschaften beitragen, andererseits jedoch auch vorhandene europabezogene Praktiken zum Vorschein bringen, die bei einem auf die „Makroebene“ beschränkten Blick verdeckt bleiben. Ein solcher Blick ins Innere einer nationalen Gewerkschaft soll hier am Beispiel der deutschen Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di versucht werden. Ver.di ist die größte Dienstleistungsgewerkschaft in Europa und spielt entsprechend eine bedeutende Rolle für die europäischen Gewerkschaftsdachverbände. Daher ist eine Untersuchung dieser Organisation auch über den Einzelfall hinaus von Interesse.
Für den beabsichtigten Blick ins Innere der Gewerkschaft wird hier eine feldtheoretische Perspektive vorgeschlagen, um damit „die ungleiche Verteilung von Machtressourcen (‚Kapitalsorten‘) als ein konstituierendes Element der sozialen Genese organisatorischer Strukturen und Strategien“ ins Zentrum der Betrachtung zu rücken (Dederichs und Florian
2002, S. 77). Mit Bourdieu ist „ein Feld als ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen“ (Bourdieu und Wacquant
1996, S. 127) zu sehen, wobei die Positionen und ihre Relationen zueinander durch die Struktur der Kapitalverteilung innerhalb des Feldes bestimmt werden (Bourdieu und Wacquant
1996, S. 127). Welche Kapitalsorten in einem Feld relevant sind, muss empirisch bestimmt werden. Feldspezifisches Kapital ist das, was in dem betreffenden Feld auf dem Spiel steht und was es seinem Besitzer oder seiner Besitzerin erlaubt, in diesem Feld überhaupt Einfluss zu nehmen (Bourdieu und Wacquant
1996, S. 128). Aus einer feldtheoretischen Perspektive muss man davon ausgehen, dass auch eine Organisation in einem Feld selbst keine einheitliche Akteurin ist, sondern wiederum als Feld begriffen werden muss (Bourdieu
2005, S. 205). Nicht „die Organisation“ trifft eine Entscheidung, verfolgt eine europapolitische Strategie oder hat sich bestimmte europabezogene Praktiken angeeignet. Vielmehr kann eine Organisation als ein „‚mesosoziale[r]‘ Zusammenhang“ begriffen werden, „der durch die sozialen Kräfteverhältnisse und mikropolitischen Auseinandersetzungen der in Bereiche und Abteilungen, Berufs- und Arbeitsgruppen differenzierten ‚Mitglieder‘ hergestellt wird“ (Dederichs und Florian
2002, S. 89 f.). In feldtheoretischer Perspektive laufen in einer Organisation permanent Auseinandersetzungen und Aushandlungsprozesse um Regeln, Strukturen und Strategien ab, die von AkteurInnen ausgetragen werden, die mit unterschiedlichem und unterschiedlich viel Kapital ausgestattet sind und ihre Anliegen daher besser oder schlechter gegenüber anderen durchsetzen können (Dederichs und Florian
2002, S. 77). Dabei ist es wichtig zu beachten, dass die formale Organisationsstruktur nicht der faktisch wirksamen Machtstruktur in der Organisation entsprechen muss. Dies ist damit zu erklären, dass „formales Kapital“ oder das Kapital, das mit der Einnahme einer Position in der formalen Organisationsstruktur verbunden ist, nur
eine der Kapitalformen ist, die im Feld der Organisation zählen können. Darüber hinaus können durchaus noch andere Kapitalsorten in der Organisation wirksam sein (Emirbayer und Johnson
2008, S. 23). Welchen Arten von Kapital in einer Organisation besonderer Wert beigemessen wird, ist das Ergebnis von Auseinandersetzungen im organisationsinternen Feld der Macht (Emirbayer und Johnson
2008, S. 25). Obwohl davon ausgegangen wird, dass ein Feld nach eigenen Spielregeln „funktioniert“, kann eine Organisation-als-Feld nicht unabhängig von ihrer Umwelt analysiert werden, durch die es zwar nicht determiniert, aber doch beeinflusst wird. Die Deutung und Perzeption externer Zwänge im Feld hängt davon ab, welche Deutungen in den Macht- und Herrschaftsverhältnissen im Feld durchgesetzt werden (können) (Hofbauer
2012, S. 437 f.).
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In dieser Forschungsnotiz sollen nun erste Vorschläge und Überlegungen für eine feldtheoretische Betrachtungsweise der Europaarbeit ver.dis präsentiert werden. Diese sind im Rahmen eines Dissertationsprojektes entstanden und bedürfen der weiteren Ausarbeitung, um dem Vorhaben, eine Organisation als Feld zu analysieren, tatsächlich gerecht werden zu können. Zunächst sollen ver.dis Organisationsstruktur und die Verteilung der „Europakompetenzen“ skizziert werden. Um die Heterogenität der Europaarbeit ver.dis zu illustrieren, sollen danach kurz drei Fachbereiche porträtiert werden, die unterschiedlichen Branchenbedingungen ausgesetzt sind und die sich besonders stark in ihrer Betroffenheit von „Europa“ und ihrer europäischen Arbeit unterscheiden. Danach werden die Position des EU-Verbindungsbüros innerhalb ver.dis und seine Beziehungen zu den Fachbereichen genauer in den Blick genommen. Es folgt eine kurze Schlussbetrachtung. Die vorgestellten Ergebnisse basieren auf 12 ExpertInnen-Interviews mit VertreterInnen der Gewerkschaft ver.di aus Fach- und Querschnittsbereichen, die zwischen Februar 2013 und Juni 2015 geführt wurden, sowie den Erfahrungen im Rahmen eines Praktikums bei ver.di. Meine Untersuchung beschränkt sich auf die Ebene der ver.di-Bundesverwaltung.