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12.06.2018 | Fahrwerk | Nachricht | Online-Artikel

"Das pilotierte Fahren wird brutal komplex"

verfasst von: Michael Reichenbach

5 Min. Lesedauer

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Über 500 Fahrwerkentwickler zeigen auf der chassis.tech plus 2018 auf, wie ihre Lösungen für das automatisierte Fahren aussehen – ein Rekordwert. Thomas Müller von Audi präsentiert dabei die Sicht des OEMs auf das Fahrwerk der Zukunft.

Auch wenn der Tagungsleiter Prof. Peter E. Pfeffer zur Begrüßung der 525 Teilnehmer und 19 Aussteller die Frage aufwirft, ob das Fahrwerk noch das differenzierende Merkmal ist, sind sich alle fünf Plenarredner schnell einig, dass das Chassis mit den beiden untergeordneten Funktionen elektrifiziertes und automatisiertes Fahren samt Assistenzsysteme seinen wichtigen Stellenwert noch ausbauen wird. Denn es geht sowohl darum, Lösungen für das schnelle und sportliche Fahren zu entwickeln, als auch teil- oder vollautomatisiert im People Mover möglichst komfortabel und ohne Seekrankheit chauffiert zu werden. 

Dass das Fahrwerk die Nase vorne hat, zeigt sich auch daran, dass die Häuser Porsche und Audi den Bereich der Assistenzsysteme kürzlich der Chassiseinheit zugeordnet haben. Denn hier bei der Fahrdynamik ergibt sich für den Endkunden der Nutzwert, dieses Thema hat also eine starke Aufwertung bei den Autoherstellern erfahren.

Brutal komplex

Thomas Müller, Audi, wagt in seiner Keynote einen Blick in die Zukunft des Fahrwerks aus der Sicht eines OEMs bis ins Jahr 2025. Wird es zur strategischen Schlüsselkomponente oder zum Alltagsprodukt? Die letzten sieben Jahre hätten für das Fahrwerk im Zeichen der Mechatronik, der Softwarefunktionen und der Elektrifizierung gestanden. Er sagte: "Die nun folgenden sieben Jahre dürfen wir nicht mehr nur auf die Technik gucken, der Markterfolg wird in Zukunft nicht mehr über die Produktqualität bestimmt". Vielmehr würden die Lösungen und Funktionen wichtiger werden. "Das pilotierte Fahren wird brutal komplex werden, mit einem riesigen Verantwortungsumfang", fügt Müller hinzu. Premium als Audi heiße, weiterhin Spaß anzubieten, es heiße, auch die letzten zehn Prozent zu holen. Beim Thema autonomes Fahren müsse an die Seekrankheit gedacht werden. "Was nützt es mir, wenn mir nach zwei Minuten schlecht wird, das Auto anhalten muss." Die Fahrwerkentwicklung mit all ihren Facetten werde die einzige strategische Schlüsselkompetenz. Nur das Fahrwerk bilde das Fundament für überlegene Produkteigenschaften.

Fahrwerk als Tausendsassa

Holger Klein, ZF, muss gegenüber Audi als Zulieferer einen noch größeren Spagat beherrschen. Ein breiteres Portfolio an Produkten und Kunden muss sicher gesteuert werden. Dabei dürfe die Vision von null Unfalltoten und null Emissionen nicht aus den Augen verloren werden, die schneller Realität werde, als wir es uns derzeit denken. Die einzelnen Gewerke bei ZF wie Lenkung, Bremse, Elektroantriebe, Assistenzsysteme und Insassensicherheit müssen in einer transformatorischen Aufgabe zueinander geführt werden, die Anschlüsse zwischen ihnen müssen gebaut werden, um auch neben dem Komponentenwissen eine Know-how auf Systemebene zu erreichen. Mit eigenen Ressourcen, sagt Klein, geht das nicht, es müssten Partner wie Ibeo mit ins Boot geholt werden. Das Fahrwerk werde somit zum integrierenden Tausendsassa. "Auf der einen Seite sehen wir das entkoppelte Fahren im People Mover, auf der anderen das sportliche Selbstfahren. Die Fahrdynamik hat weiterhin ihre Berechtigung, da kommen wir her, dort wollen wir bleiben", führte Klein aus.

Disruptive Veränderungen

Stefan Randak, Atreus, skizzierte die zahlreichen disruptiven Veränderungen in der Autobranche, wie z.B. alternative Antriebe, Car Connectivity, autonomes Fahren oder neue Mobilitätskonzepte. Tesla setze den etablierten OEMs zu, neue Player aus China wie Saic kämen auf. Die Automobilbranche steht vor einer radikalen Transformation, sagt Randak. China sei heute bereits der Automobilmarkt Nr. 1, gefolgt von Nordamerika und Europa auf Rang 3. Gefahren bestehen: Schon ein Absatzeinbruch von 10 bis 15 Prozent könne einen Zulieferer vor erhebliche Liquiditätsprobleme stellen. Somit, sagt Randak, seien drei wichtige Dinge zu tun: Durchführung einer Kernkompetenzanalyse und einer Szenarioplanung, Überprüfung des Portfolios auf zukunftsträchtige Felder und Fokussierung des Investments auf Key Product Innovations.

Lenkgefühl bleibt wichtig

Roland Greul, Robert Bosch Automotive Steering, erster Redner auf der steering.tech 1999, sieht in Steer-by-Wire-Lenksystemen eine Lösung für das automatisierte Fahren. Das Interieur kann freier gestaltet werde. "Ein Durchbruch in den Fahrgastraum für die Lenksäule ist nicht mehr notwendig", sagt Greul. Damit diese Systeme funktionieren, müssten sie fail-operational sein. Die Bedeutung des Lenkgefühls wird noch wichtiger, weil diese Fahraufgabe bei Stufe-3 und 4-Systemen noch benötigt wird, auch wenn die Software viele Funktionen variabel je nach OEM gestalten könne. Ein Baukasten deckt die gesamte Bandbreite von heutigen und zukünftigen Fahrzeug-Plattformen ab.

Zum Abschluss der fünf Plenarredner rief Prof. Bernhard Schick, Hochschule Kempten, die Ingenieure dazu auf, mehr an den Endkunden zu denken. User Experience und Probandenstudien werden immer wichtiger, denn oft sei die von Entwicklern erdachte Lösung, nicht die beste für Lieschen Müller. Dazu stellte er zwei Studien zu einem Spurhalteassistenzsystem näher vor. In der ersten wurde das Ausfallverhalten mit 70 Testpersonen untersucht. "Es zeigt sich, dass der Stressfaktor beim Probanden hoch bleibt, auch wenn das System einwandfrei funktioniert", sagte Schick. Sie fühlten sich sehr gestresst, das Vertrauen in das System sinkt rapide. Die zweite Studie verglich drei Fahrzeuge mit einem LKAS, wobei heraus kam, dass die Teilnehmer den Reifegrad dieser Systeme als gering einschätzten, zwischen 40 und 58 Prozent. Ein schlechter wert, wenn man bedanke dass technikaffine Early Adopters oder Nerds bei Werten über 70 Prozent auf eine technische Entwicklung annehmen.

Das Münchner Fahrwerk-Symposium chassis tech plus findet 2018 zum neunten Mal statt. Die Veranstaltung kann mit 20 Prozent Teilnehmern aus dem Nicht-DACH-Bereich einen hohen Anteil internationaler Gäste vorweisen. Nächstes Jahr wird das Programmteam auf die zehnte chassis.tech plus in dieser Form und auf eine 20-jährige Historie der chassis.tech zurückblicken können.

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Quelle:
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