Silica hat die Reifentechnologie transformiert. Vor rund 30 Jahren wurde erstmals Industrieruß in Laufflächenmischungen durch Silica ersetzt – mit Vorteilen für die Sicherheit und Nachhaltigkeit.
In Continentals Autoreifen, dem UltraContact NXT, wird das Silica aus der Asche von Reishülsen serienmäßig verwendet.
Continental AG
Der Reifen als alleiniges Bindeglied des Fahrzeugs zur Fahrbahn ist ein Kompromissprodukt: Wird eine bestimmte Eigenschaft optimiert, wirkt sich dies unweigerlich zum Nachteil auf andere Eigenschaften aus – und geht zu Lasten der Ausgewogenheit. Daher "besteht ein Zielkonflikt, wenn prinzipbedingt gegensätzliche Eigenschaften gleichzeitig optimiert werden sollen", schreiben die Autoren von Bosch im Kapitel Fahrwerk des Kraftfahrtechnischen Taschenbuchs. Zu den gegenläufigen Entwicklungszielen, die sich negativ beeinflussen können, würden Haftungspotenzial und Rollwiderstand, Trockenbremsen und Nassbremsen, Aquaplaning und Trockenhandling, Haftung und Abrieb zählen.
Hebel zur Optimierung gibt es aber dennoch. Der Zielkonflikt zwischen Rollwiderstand, Haftung und Abriebsfestigkeit ließ sich in den 1990er-Jahren auf ein höheres Kompromissniveau heben. Möglich machte das die Einführung von Silica zusammen mit Bindungshilfsstoffen, den Silanen. Silica ist der Handelsbegriff für veredeltes Kieselsäuresalz. Als graupulvriger Füllstoff ersetzte Silica immer mehr den bis dahin üblichen Industrieruß und ist heute aus vielen Gummimischungen für Auto-, Van- und Zweiradreifen nicht mehr wegzudenken.
Mitte der 1990er Jahre: erste Serienreifen mit Silica
Continental hat vor rund 30 Jahren erstmals Silica in den Laufflächenmischungen für Pkw-Reifen verwendet. Die Eigenschaften dieses Füllstoffs verbesserten die Fahrsicherheit und die Energieeffizienz der Reifen. "Der Rollwiderstand wurde deutlich reduziert, und die Bremswege haben sich seitdem um fast 50 % verkürzt", erklärt Continental. Möglich werde dies durch die besonderen Oberflächeneigenschaften von Silica. Sie könne laut Continental chemische Bindungen mit dem Kautschukpolymer eingehen. Bei der Vulkanisation sei unter anderem Silica dafür verantwortlich, dass sich ein besonders festes Netzwerk zwischen den Kautschukmolekülen ausbilde. So entstehe ein elastischer Reifen mit sehr guten Sicherheitseigenschaften.
Füllstoffe wie Silika können auch mit Nachhaltigkeit punkten. "Silica-Mischungen sind zudem ein Gewinn für die Umwelt, denn sie sorgen für geringeren Rollwiderstand des Reifens. Das heißt weniger Kraftstoffverbrauch bei Verbrennern und eine vergrößerte Reichweite bei heutigen E-Autos", sagt Prof. Dr. Burkhard Wies. Er war Mitte der 1990er Jahre bei Continental der Entwickler erster Reifen mit Silica in den Gummimischungen und arbeitet heute dort als Leiter der Abteilung Angewandte Forschung und Innovation. Nach Angaben des Chemieunternehmens Solvey könne hochdisperses Siliziumdioxid (HDS) in Reifen die Kraftstoffeffizienz um etwa 7 % verbessern, wie indische Forscher im Zeitschriftenartikel Recent trends in industrial and academic developments of green tyre technology schreiben.
Festes Netzwerk zwischen den Kautschukmolekülen
Kieselsäure wird in zahlreichen Industrien verwendet. In der Bauindustrie zum Beispiel wird der Füllstoff für Beton und Ziegel eingesetzt, so Continental. Damals wie heute werde Silica hauptsächlich aus Quarzsand gewonnen. Für den Einsatz in der Reifenproduktion sei dieses kristalline Silica allerdings ungeeignet. Hier werde stattdessen eine technisch aufbereitete "amorphe" Kieselsäure verwendet.
Was macht Silica nun so besonders? Dessen Eigenschaften werden laut Continental während des Mischprozesses aktiviert. Dabei reagiere Silica mit dem Bindemittel Silan. Im nächsten Schritt, während der Vulkanisation, wird dann die Gummimischung bei Temperaturen von 120 bis 160° Celsius gezielt unter Druck gesetzt, der Reifen erhält seine Form. Gleichzeitig entstehe mithilfe von Schwefel aus der Gummimischung und Kieselsäure ein biegsamer und elastischer Gummi. "Denn der Schwefel bildet bei der Vulkanisation Brücken zwischen den langkettigen Molekülsträngen des Kautschuks aus. Die Kieselsäure geht – unterstützt durch Silan – zusätzliche Bindungen zwischen einzelnen Kautschukpolymeren ein", heißt es von Continental. Auf diese Weise entstehe ein besonders festes Netzwerk zwischen den Kautschukmolekülen. Dem Reifen ließen sich so gezielt physikalische Eigenschaften wie bestmögliche Nasshaftung, Abriebfestigkeit und Rollwiderstand verleihen. Gleichzeitig halte er sehr hohen Belastungen stand.
"Spagat" auf höherem Niveau
Allerdings: Gänzlich auflösen lässt sich der eingangs erwähnte Zielkonflikt nie. "Moderne Gummimischungen mit hohem Füllstoffanteil an Silica und optimierten Bodenaufstandsflächen heben diesen Spagat auf ein höheres Niveau, doch der Konflikt wird dadurch nicht ausgeschaltet", so die Autoren von Bosch im Kapitel Fahrwerk des Kraftfahrtechnischen Taschenbuchs.
Dennoch zeigten ersten Fahrversuche von Continental mit dem neuen Füllstoff in den Reifenmischungen im Jahr 1994 deutliche Vorteile. Besonders beim Bremsen auf nassen Straßen und beim Rollwiderstand schnitt Silica deutlich besser ab als Industrieruß. Ein Jahr später verwendete Continental Silica erstmals in einem serienreifen Produkt. Ab 1996 folgte der erste Winterreifen mit Silica in der Reifengummimischung.
Reishülsen-Asche als Ausgangsmaterial für nachhaltiges Silica
Seitdem arbeitet die Reifenindustrie daran, Reifen leistungsfähiger, sicherer und nicht zuletzt nachhaltiger zu machen. So forscht Continental an der Verwendung von alternativen, nachhaltigeren Silica mit vergleichbaren Eigenschaften und Sicherheitsvorteilen. Zum Beispiel haben sich Reishülsen als künftiges Ausgangsmaterial für nachhaltig hergestelltes Silica bewährt. Solvay hat zum Beispiel ein patentiertes Verfahren zur Herstellung von kreislauffähigem HDS aus Reishülsenasche entwickelt. Auch der Chemiekonzern Evonik beliefert die Reifenindustrie mit nachhaltiger Kieselsäure.
Reishülsen sind ein Nebenprodukt der Reisproduktion, können jedoch nicht als Nahrungsmittel oder Tierfutter verwendet werden. Die Herstellung aus Reishülsenasche ist energieeffizienter als Silica aus herkömmlichen Materialien wie Quarzsand. In Continentals bisher nachhaltigstem Serienreifen, dem UltraContact NXT, wird das Silica aus der Asche von Reishülsen bereits serienmäßig verwendet.