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02.02.2023 | Fahrwerk | Im Fokus | Online-Artikel

Unterschätzte Umweltgefahr Reifenabrieb

verfasst von: Christiane Köllner

7:30 Min. Lesedauer
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Einige zehntausend Tonnen Reifenabrieb gelangen jedes Jahr in die Umwelt. Welche Folgen hat das für Mensch und Natur? Immer mehr Forschungsprojekte bringen Licht ins Dunkel. Erste Lösungsansätze zur Reduktion des Abriebs gibt es auch. 

Steht der Verkehrssektor in der Debatte über die Luftqualität in Städten im Fokus, wird meist über Fahrzeugabgase diskutiert. Doch der Dreck kommt nicht nur aus dem Auspuff. Auch die Reifen verlieren mit jeder Fahrt kleinste Gummi-Partikel. Und das hat Folgen. Zum einen nimmt die Profiltiefe ab, die Haftung auf der Straße verringert sich und damit auch die Verkehrssicherheit. Zum anderen kann der Reifenabrieb in der Umwelt großen Schaden anrichten. So wird der Abrieb mit dem Wind in die Umwelt geweht und vom Regen in Flüsse und Abwässer geschwemmt – insgesamt etwa 1 kg pro Einwohner und Jahr, wie Forschende der Universität Wien angeben. 

Fachleute diskutieren das Thema Reifenabrieb seit Jahren im Kontext verschiedener Umweltprobleme. Der Abrieb gilt nachweislich als Mitverursacher für Feinstaubbelastungen in den Städten, ist unter anderem verantwortlich für nanopartikulären Ruß und laut einer Studie der Weltnaturschutzunion IUCN eine der größten Quellen für Mikroplastik in der Umwelt, das über unterschiedliche Eintragspfade in die aquatische Umwelt gelangt. "Im Reifenabrieb sind zum Beispiel schwer abbaubare organische Stoffe und Schwermetalle wie Zink und Cadmium enthalten. Bremsabrieb enthält die Schwermetalle Nickel, Chrom und Kupfer, aber auch Antimontrisulfid, das beim Bremsen in das als krebserregend eingestufte Antimontrioxid umgewandelt werden kann", erklärt Springer-Autorin Martina Dierschke im Kapitel Aufkommen und Verbleib von feinen Feststoffen in Verkehrsflächenabflüssen (Seite 53 f) aus dem Buch Wasser, Energie und Umwelt

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2019 | OriginalPaper | Buchkapitel

Wear of Tires

Wear is phenomenologically characterized by not only physical factors, such as fracture, but also chemical factors, such as oxidization. Physical factors, which are the main topic of this book, are related to the relatively strong shear force in what is referred to as abrasive wear. The worn depth is almost proportional to the wear energy, which is the product of the shear stress and slip distance. Wear energy can be estimated by measuring the slip and shear force in the sliding region of the contact patch, by employing an analytical model or through FEA. The wear life can be estimated by integrating the product of the histogram of the external force acting on a tire and the wear energy at the external force. Furthermore, the model for wear progression can be investigated using an analytical model or through FEA. As additional topics, this chapter also addresses a model for diagonal wear, an indoor wear evaluation method and ways of reducing wear.

Das stetig steigende Verkehrsaufkommen tut sein Übriges: "Der zunehmende Kfz-Verkehr führt unweigerlich zum vermehrten Aufkommen an Reifenabrieb", sagt Daniel Venghaus, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Siedlungswasserwirtschaft an der TU Berlin, im Interview "Eintrag von Reifenabrieb in aquatische Umwelt unerforscht". Venghaus untersucht seit Längerem den mengenmäßigen Eintrag von Mikroplastik aus Reifenabrieb im Abflusswasser der Straßen und entwickelt Maßnahmen, den Reifenabrieb zu reduzieren.

"Tyre Wear Mapping": Besseres Verständnis von Kleinstpartikeln

Reifen verlieren mit der Zeit an Substanz und setzen Kleinstpartikel in Form von Feinstaub oder Mikroplastik frei. Ein gängiger Pkw-Reifen wiegt am Ende seines im Durchschnitt 50.000 Kilometer langen beziehungsweise vier Jahre dauernden Lebens gut 1 bis 1,5 Kilogramm weniger als zu Beginn, wie das Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik (Umsicht) angibt. Es werde geschätzt, dass in Europa 1.327.000 t/a, davon in Deutschland 133.000 t/a, an Reifenabrieb verkehrsbedingt in die Umwelt gelangen. Die Bundesanstalt für Straßenwesen (Bast) gibt eine Reifenabriebsrate pro Fahrzeug in Abhängigkeit von Fahrweise, Straßenart usw. von 53 bis 200 mg/km für Pkw und von bis zu 1.500 mg/km für Sattelzüge an. 

Das Problem mit dem Reifenabrieb ist seit Längerem bekannt. Allerdings gab es bislang kaum umfassende Studie zu Mengen und Verbreitungswegen von Reifenabrieb in Deutschland. Das vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) geförderte Verbundprojekt "Tyre Wear Mapping" hat diese wissenschaftliche Lücke geschlossen und einen Bericht veröffentlicht, der sich mit der Verteilung, Ausbreitung und Quantifizierung von Reifenabrieb beschäftigt. Gemeinsam mit Projektpartnern aus der Industrie haben Forscher von Fraunhofer Umsicht mittels neuartiger Berechnungsmodelle GIS-basiert Karten entwickelt, um die Verteilung von Reifenabrieb in Deutschland zu visualisieren. 

Das Ergebnis: Der größte Anteil an Stoffeinträgen findet mit knapp 57 % in Siedlungsbereichen statt. Ein Großteil davon entfällt auf den Straßenraum. Der Reifenabrieb ist im städtischen Bereich an viel befahrenen Straßen und Kreuzungen sowie außer Orts an stark befahrenen Autobahnen am größten.

Wohin verschwindet der Reifenabrieb?

Auch die Bundesanstalt für Gewässerkunde (BfG) und die Bast gingen in einem gemeinsamen Forschungsprojekt im Rahmen des BMVI-Expertennetzwerks der Frage nach, wohin der Reifenabrieb verschwindet. Die Ergebnisse der Wissenschaftler zeigen: Jährlich gelangen 60.000 bis 70.000 Tonnen Reifenabrieb in den Boden und 8.700 bis 20.000 Tonnen in Oberflächengewässer. Dabei kommt es maßgeblich darauf an, wo der Reifenabrieb entsteht: Auf Straßen in Ortschaften und Städten spüle Regen den Reifenabrieb über kurz oder lang in die Kanalisation, so die Forscher. Handele es sich um ein sogenanntes Mischwassersystem mit Kläranlage, werden dann mehr als 95 % des Reifenabriebs zurückgehalten. An Straßen außerorts finde die Versickerung der Straßenabflüsse in der Regel über Bankett und Böschung statt. Der größte Teil des Reifenabriebs werde so in den straßennahen Boden eingetragen und von der oberen bewachsenen Bodenzone zurückgehalten. Circa 12 bis 20 % des Reifenabriebs könnten in Oberflächengewässern landen. Dort wird ein Teil der Partikel abgebaut beziehungsweise lagert sich im Sediment ab.

Wie Forschende des Zentrums für Mikrobiologie und Umweltsystemwissenschaft der Universität Wien kürzlich in einer Laborstudie herausgefunden haben, könnten Chemikalien aus Reifenabrieb über Klärschlamm und Abwasser auch in unser Gemüse und letztlich auf unseren Tellern gelangen. Die Umweltgeowissenschafter setzten Nährlösungen von Salatpflanzen fünf Chemikalien zu. Vier dieser Chemikalien – nicht alle davon wurden bereits als schädlich eingestuft – werden bei der Reifenherstellung verwendet. Die fünfte in der Studie verwendete Chemikalie sei ein Umwandlungsprodukt einer dieser vier Chemikalien. Die Analysen der Wissenschaftler ergaben: Salatpflanzen nahmen alle untersuchten chemischen Verbindungen – einige davon hochgiftig – auf. Weitere Untersuchungen sollen zeigen, wie dieser Prozess konkret in Ackerböden abläuft.

Die Abriebpartikel können auch von Organismen aufgenommen werden. "Auch in den Böden gibt es viele Organismen, die mit Reifenabriebpartikeln in Kontakt kommen. Etwa Regenwürmer, die Böden richtig umpflügen. Von diesen Regenwürmern leben dann wieder andere Organismen", erklärt Bernd Sures, Fachgebietsleiter Aquatische Ökologie an der Uni Duisburg-Essen, gegenüber dem WDR-Wissenschaftsmagazin Quarks.

Abriebfestere Reifen und Feinstaubpartikelfilter

Doch die Daten- und Wissensbasis zum Thema Reifenabrieb zu optimieren, ist nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite betrifft die daraus abgeleiteten Maßnahmen: Wie gelangt zukünftig weniger Reifenabrieb in die Umwelt? Zum einen durch abriebfestere Reifen. Deshalb empfehlen Umweltexperten Autofahrern, beim Reifenkauf unbedingt auf den Verschleißfaktor zu achten. So hat zum Beispiel der Spezialchemie-Konzern Lanxess mit "Nanoprene" ein Kautschuk-Additiv im Angebot, dass den Abrieb der Laufflächen von Automobilreifen deutlich verringern soll. Nanoprene trage laut Lanxess auch zur Erhöhung der Reifenlebensdauer und zur Reduzierung der Kautschukpartikel-Emissionen bei. Einen Blick in die umweltfreundliche Reifen-Zukunft wagt Michelin: Die Rad-Reifenstudie Visionary Concept des französischen Reifenherstellers besteht aus biologisch abbaubaren Materialien, die recycelt werden können. Auch können optimierte Achssysteme den Reifenabrieb reduzieren, wie die Universität Paderborn herausgefunden hat.

Einen anderen Weg geht Mann + Hummel. Der Ludwigsburger Filtrationsspezialist hat einen Unterboden-Feinstaubfilter entwickelt. Die Idee: Der Feinstaubpartikelfilter nimmt so viele Staubpartikel auf, wie beim Fahren durch Reifen-, Bremsen- und Straßenabrieb entstehen. Der Feinstaubpartikelfilter ist mit einem aktiven Filtersystem ausgestattet. Hinter dem Filter sind Ventilatoren eingebaut, die dem Filter Luft aus der Umgebung zuführen. Somit sollen die Fahrzeuge auch im stehenden Betrieb in der Lage, Feinstaub aus der Umgebungsluft heraus zu filtern. Und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) entwickelt im Projekt Zedu-1 ein Fahrzeug, das mithilfe eines neu gestalteten Radkastens den Reifenabrieb minimieren soll.

Infrastruktur-Maßnahmen: Mikroplastik in Gullys auffangen

Neben Optimierungen am Reifen und den Fahrzeugen können auch Verkehrsplaner etwas tun, um die Umweltbelastung durch Reifenabriebspartikel zu reduzieren, und zwar indem sie für nicht zu Verschleiß neigende Fahrbahnbeläge und einen möglichst fließenden Verkehr sorgen. Je ruhiger der Verkehr fließen kann, desto weniger Abriebprodukte entstünden, erklärt Springer-Autorin Dierschke im Kapitel Aufkommen und Verbleib von feinen Feststoffen in Verkehrsflächenabflüssen (Seite 54). Liege dagegen gestörter Verkehr vor – etwa Stop-and-go-Verkehr oder häufiges Bremsen und Anfahren an einer Ampelkreuzung – könne das Feststoffaufkommen auf das 10-fache steigen. Vor allem Schwerlastverkehr trage laut Dierschke fahrzeugspezifisch zu einem weitaus höheren Abrieb (Faktor 5 bis 10) als normaler Pkw-Verkehr bei. 

Auch die beiden Forschungsprojekte der TU Berlin und des Fraunhofer Umsicht zielen auf verkehrsplanerische Maßnahmen. Das Vorhaben der Berliner Wissenschaftler ist eine Bewertungsmatrix, die es Planern, Kommunen und Straßenreinigungsbetrieben ermöglichen soll, für unterschiedliche Standorte geeignete Maßnahmen abzuleiten, um den Reifenabrieb zu reduzieren. Die Fraunhofer-Forscher haben aus den Projektergebnissen eine Art Leitfaden für die Entscheidungsträger entwickelt. Ein digitales Planungs- und Entscheidungstool soll bei der Erneuerung und dem Bau neuer Verkehrsnetze sowie sekundärer Infrastruktur unterstützen. 

Die Wissenschaftler des BfG-Bast-Forschungsprojekts betonen, dass die Verbesserung der Reinigung von Straßenabflusswasser und die gute Unterhaltung der Behandlungsanlagen genauso wie intermodale Transport- und Verkehrskonzepte wichtige Schritte seien, um den Reifenabrieb zu reduzieren. Zum Beispiel arbeitet der bereits erwähnte Wissenschaftler der TU Berlin Venghaus an der Entwicklung eines "Urbanfilters" zur Reinigung von Straßenablaufwasser in Gullys. Dabei handelt es sich um ein Filterkonzept für Straßenabläufe. Dieses soll Schmutzpartikel auffangen, bevor sie durch das Regenwasser in die Kanalisation gelangen. Der Filter hält nicht nur das Mikroplastik auf, sondern auch allen anderen Straßenschmutz wie Zigarettenfilter oder auch Bonbonpapier. Auf der Berliner Clayallee befindet sich seit Anfang 2022 der erste Filter im Praxistest, um den Wirkungsgrad im Realbetrieb im Verlauf der Jahreszeiten zu ermitteln.

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