Daten sammeln, kommunizieren und Entscheidungen treffen: Zukünftige Reifen sind intelligent und müssen mehr können als heute. IoT-Konnektivität und optimierte Sensorik machen es möglich. (Update)
Zukünftige Reifen sollen intelligent sein und sowohl sich selbst als auch ihre Umgebung permanent überwachen und so auf Veränderungen reagieren.
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Ist der Asphalt der Straße nass, nur feucht oder sogar glatt? Was der Autofahrer nur abschätzen kann, sollen künftig intelligente Reifen sicher erkennen. Mithilfe von Sensoren können smarte Pneus sowohl sich selbst als auch ihre Umgebung permanent überwachen und so auf Veränderungen reagieren, bevor sie dem Fahrer auffallen. Gerade auf dem Weg zum autonom fahrenden Auto werden mit Sensoren vernetzte Reifen eine wesentliche Rolle spielen, wenn Maschinen und nicht mehr Menschen die Fahrbedingungen kontrollieren. Die gewohnten Sicherheitsmerkmale eines Reifens, wie Grip auf Eis und Aquaplaning-Widerstand, werden durch Technologie ergänzt, die Echtzeit-Daten liefert. Beim Reifenhersteller Michelin ist man "fest davon überzeugt, dass Reifen durch Fahrzeugdaten künftig gewissermaßen sprechen können", wie es Hélène Bathias, Initiative Leader Connected Solutions bei Michelin, im ATZ-Interview "Dank Konnektivität spricht unser Reifen quasi mit dem Auto" beschreibt.
Dass auch Reifen intelligent werden, überrascht nicht. Wie viele andere Konsumgüter auch, wird der Reifen zunehmend Teil des Internets der Dinge (IoT), das "praktisch alle Dinge auf Erden (und in der Luft und im All) vernetzt", wie des Springer-Autor Ulrich Sendler im Kapitel Vom Internet zum Internet der Dinge aus dem Buch Das Gespinst der Digitalisierung ausdrückt. Der Reifen wird so in die Digitalisierung des Gesamtfahrzeuges und der Umgebung integriert.
Das eröffnet neue Möglichkeiten der Vernetzung, die der finnische Reifenhersteller Nokian Tyres erläutert: Kombiniere man die Informationen, die über die Reifen gesammelt werden, mit beispielsweise aktuellen Wetterdaten, könne sich das Fahrzeug-Informationssystem ein Bild von den vorherrschenden Fahrbedingungen machen und so die Fahrweise entsprechend anpassen. Die Reifensensoren könnten zusätzlich die Abnutzung des Reifenprofils, den Reifenluftdruck und die Reifeninnentemperatur überwachen. Ein Anstieg der Reifeninnentemperatur könnte zum Beispiel ein frühzeitiger Hinweis auf eine Reifenbeschädigung sein, wodurch sich einer gefährlichen Situation auf der Straße vorbeugen ließe.
Der Reifen informiert, wenn er gewechselt werden muss
Die erste Stufe intelligenter Reifentechnik beginnt damit, dass Sensoren verschiedene Variablen messen und die Informationen an den Fahrer weitergeben, entweder direkt über die Konnektivitätssysteme des Fahrzeugs oder über das Smartphone des Fahrers. Continental arbeitet beispielsweise an einem automatischen Warnsystem, dass drohendes Aquaplaning frühzeitig erkennen soll. Der Automobilzulieferer setzt dabei auf die Vernetzung verschiedener Kamera- und Reifensensordaten. Auch die Entwicklung von intelligenten Reifen, die mit Sensoren zur Detektion der Reifen-Fahrbahn-Interaktion ausgestattet sind, wird bei Continental stetig vorangetrieben, wie das Unternehmen im Artikel Fahrbahnzustandserkennung als neuer Teil der aktiven Fahrsicherheit aus der ATZelektronik 5-2017 erläutert. Wissenschaftler der TU Dresden haben sogar einen Reifengummi entwickelt, der selbst als Sensor funktioniert. Dazu ist der Gummi mit winzigen Mengen an hochleitfähigen Kohlenstoffnanopartikeln versehen.
Aber auch neue Dienstleistungs-Modelle sind möglich, die schon zum Einsatz kommen könnten, lange bevor tatsächlich autonome Fahrzeuge auf den Straßen unterwegs sein werden, wie Nokian Tyres erklärt. Während sich die Reifen abnutzen, können Sensoren den nächstgelegenen Reifenhändler kontaktieren, der dann einen neuen Satz Reifen liefert oder ihn sogar gleich vor Ort montiert. Vorbeugende Wartungstätigkeiten werden besonders in Bezug auf die steigende Beliebtheit von gemeinschaftlich genutzten Fahrzeugen wichtig – und eben auch in Zukunft für das automatisierte Fahren.
Smart Tires sind aktuell noch Zukunftsmusik
EU-Reifen sind bereits heute auf dem Weg in Richtung "Smart Tires". Seit 2014 sind in der Europäischen Union (EU) Sensoren zur Kontrolle des Reifendrucks (direkt messende und indirekt arbeitende Reifendruckkontrollsysteme (RDKS)) bei allen Neufahrzeugen Pflicht. Echte intelligente Reifen, die selbstständig eingreifen und sich beispielsweise automatisch an Wetter- und Straßenverhältnisse anpassen, indem sie selbstständig ihr Profil ändern, findet man allerdings noch nicht auf den Straßen. Allerdings können Goodyear und Gatik das Haftungspotenzial von Reifen auf der Straße für automatisierte Lkw unter aktuellen Wetter- und Straßenbedingungen abschätzen. Und Falken Tyres macht den Reifenverschleiß messbar dank Stromerzeugung im Reifen.
Immer wieder machen die Reifenhersteller auch mit zukunftsweisenden Konzeptreifen auf sich aufmerksam. Goodyear hat in der Vergangenheit den futuristischer Reifen Eagle-360 in Kugelform mit künstlicher Intelligenz, den Konzeptreifen Aero, der Autos beim Fliegen unterstützen kann, und den Konzeptreifen Goodyear Recharge, der seine Lauffläche regenerieren kann, präsentiert. Die Konzeptstudien sind Vorboten des vermehrten Zusammenspiels von Fahrerassistenzsystemen mit den Reifen. "Intelligente Reifen werden sich zuerst bei elektrischen Fahrzeugen etablieren, da diese Fahrzeuge größere Reifen benötigen und es bereits eine große Anzahl an Sensorik und Verbindung zu den Reifen gibt", fasst Jukka Kasi, Senior Vice President Products & Marketing bei Nokian Tyres, zusammen.
Vernetzung für mehr Sicherheit
Neben einer intelligenten Reaktionsfähigkeit ist die wichtigste Anforderung der Verbraucher an einen Reifen die Sicherheit. Laut einer im Dezember 2018 und Januar 2019 durchgeführten Umfrage von Nokian Tyres wünscht sich fast jeder zweite Fahrer sicherere Reifen, als sie es heute bereits sind. Und das nicht ohne Grund: "Als Bindeglied zwischen Fahrbahn und Fahrzeug überträgt er alle Kräfte und Momente, sein Übertragungsverhalten geht deutlich in Sicherheit, Fahrverhalten und Komfort des Gesamtfahrzeugs ein", steht im Kapitel Bestandteile Reifen und Räder aus dem Fahrwerkhandbuch. Jüngst haben Bosch und Pirelli mitgeteilt, gemeinsam neue softwarebasierte Lösungen und Fahrfunktionen durch In-Tyre-Reifensensoren entwickeln zu wollen. Sie möchten eine verbesserte Logik für die Reifensignalberechnung als potenziellen Input für verbesserte Fahrdynamikregler erforschen. Für den Fahrer soll dies mehr Sicherheit, Komfort sowie eine verbesserte Fahrdynamik bedeuten.
Auch Goodyear und TNO beschäftigen sich mit der Fahrdynamikregelung und untersuchen, wie vernetzte Reifen mit den Bremsen und dem ABS optimal zusammenarbeiten. Goodyear hat sich zudem mit ZF zusammengetan: So soll Goodyears Sightline die ZF-Fahrwerksoftware Cubix mit intelligenten Reifentechnologien ergänzen. Damit ließen sich zum Beispiel Aquaplaning-Situationen frühzeitig erkennen. Und Bridgestone entwickelt zusammen mit Microsoft ein Überwachungssystem zur Erkennung von Reifenpannen in Echtzeit.
Doch der Reifen der Zukunft muss auch einen niedrigen Rollwiderstand aufweisen: In einer Umfrage, die Continental gemeinsam mit dem Marktforschungsinstitut Forsa im November 2019 durchgeführt hat, ist es für knapp 40 % der Befragten am wichtigsten, dass der Reifen zukünftig noch weniger Rollwiderstand hat und damit Kraftstoff spart.
Automatisiertes Fahren und E-Mobilität beeinflussen Reifenentwicklung
Gleichzeitig beeinflussen die Trends automatisiertes Fahren und Elektromobilität Pkw- und Nfz-Reifen. So werde die Konnektivität von Reifen und Fahrzeug bei Elektrofahrzeugen noch wichtiger, so Hélène Bathias von Michelin, da die Anforderungen an die Reifen steigen würden. Damit seien vor allem das zunehmende Fahrzeuggewicht, ein geringerer Rollwiderstand zur Optimierung des Energiebedarfs und zur Steigerung der Reichweite sowie weniger Geräusche für mehr Komfort gemeint. Nicht zuletzt fließe die Entwicklung bei Fahrerassistenzsystemen in die Reifenforschung mit ein.
Auch wird der Einsatz von Virtual Reality (VR) und künstlicher Intelligenz (KI) in der Reifenforschung und -entwicklung immer wichtiger: So hat Nexen Tire kürzlich seinen "High Dynamic Driving Simulator" vorgestellt, einen virtuellen Fahrsimulator für die Reifenentwicklung. Der Simulator kann die Reifenleistung durch Echtzeitsimulationen genau vorhersagen und präzise Reifenmodellierungstechniken in die reale Produktentwicklung und Leistungsbewertung einbeziehen. "Die Simulation wird in den nächsten Jahren das reale Testen ergänzen und deutlich zurückdrängen – auch wenn sie es nicht komplett eliminiert", erläutert Klaus Krause, Vizepräsident und Leiter des Hankook Europe Technical Center in Hannover. Im Ergebnis beschleunige KI virtuelle Testverfahren und liefert Ergebnisse in deutlich kürzerer Zeit, so Krause. Zum Beispiel setzt Hankook in der Entwicklung neuer Materialmischungen verstärkt auf die Unterstützung durch KI.
Die Basis sind Daten
Basis für all diese Optimierungen sind Daten: "Mehr Daten bedeuten, dass wir daraus noch besser Rückschlüsse auf die Fahrsicherheit oder auch den Fahrkomfort ziehen", so Michelin-Expertin Bathias im ATZ-Interview. Diese Daten seien unerlässlich, um auch bei der Elektrifizierung und beim automatisierten Fahren weitere Fortschritte zu machen.
Damit wird klar: Die aktuellen Reifenentwicklungen zeigen, dass die Relevanz von intelligenten Reifen weiter steigen wird. Große Umbrüche, wie komplett neue Rad- oder Reifensysteme, seien in den nächsten Jahren aber nicht zu erwarten, wie Springer-Auto Günter Leister im Ausblick des Buches Fahrzeugräder – Fahrzeugreifen prognostiziert. Der Reifen, eines der letzten rein mechanischen Bauteile am Auto, lässt sich aber mit elektronischer Intelligenz weiter aufrüsten, bis er irgendwann zu einem wirklichen Smart Tire wird. Bis dahin sind aber noch eine Reihe von Aufgaben zu lösen: zum Beispiel, wie man die Sensoren unter der ständig ausgesetzten Belastung langlebig und sicher genug gestaltet und wie man intelligente Technologien zu einem natürlichen Bestandteil des Produktionsprozesses macht.