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08.07.2022 | Fahrzeugakustik + NVH | Interview | Online-Artikel

"Metamaterialien sind eine junge Disziplin"

verfasst von: Frank Jung

6:30 Min. Lesedauer

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Metamaterialien können Schall- und Lichtwellen manipulieren. Emanuele Merlo, Akustikingenieur bei Edag, spricht im Interview über die Potenziale von Metamaterialien im Automotive-Bereich. 

ATZ: Herr Merlo, mit ihrer Entdeckung 1968 sind die sogenannten Metamaterialien eine relativ junge Disziplin. Wie kam es dazu, und wie ist der Begriff definiert?

Merlo: Ja, Metamaterialien (MM) werden seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erforscht und sind daher in der Tat eine junge Disziplin. Sie wurden zunächst entwickelt, um die Ausbreitung von Licht und Funkwellen zu kontrollieren beziehungsweise zu beeinflussen. Aus diesem Grund nutzte der russische Physiker Veselago – der Erfinder der MM – periodische Anordnungen von dielektrischen Materialien in Strukturen wie Drahtgittern, die einen negativen Brechungsindex haben. Deshalb weisen MM Eigenschaften auf, die von Materialien in der Natur nicht zu beobachten sind. Genau deswegen wurde das Präfix "Meta" davorgestellt, weil diese Materialien "nach" den herkömmlichen Werkstoffen kommen. Besonders in den letzten 20 Jahren wurde erprobt, wie ihre Eigenschaften in der Praxis eingesetzt werden können. Auffällig ist, dass auch in der praxisrelevanten Literatur, die meisten Bücher über akustische Metamaterialien und deren Anwendungen nach 2009 veröffentlicht wurden. Bevor die Physiker J. Pendry und U. Leonhardt Anfang der 2000er auf Metamaterialien aufmerksam gemacht haben, war das Thema abstrakter. Wenn ein Wissenschaftler ankündigt, dass ein Material einen negativen Brechungsindex hat weckt er unter Laien keine Aufmerksamkeit. Wenn stattdessen veröffentlicht wird, dass ein Material Gegenstände unsichtbar macht, ruft die Neuigkeit ein großes Interesse hervor. 

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Wenn veröffentlicht würde, dass ein Material Gegenstände unsichtbar macht, stieße diese Neuigkeit auf ein großes öffentliches Interesse. Einen ähnlichen Effekt ruft es unter Wissenschaftlern hervor, wenn ein Material einen negativen Brechungsindex aufweist. Emanuele Merlo, Akustikingenieur bei Edag, klärt im ATZ-Interview auf über die erstaunlichen Eigenschaften von Metamaterialien.

Mit Metamaterialien lassen sich Schallausbreitungen gezielt manipulieren. Wie geschieht dies im Automobil und welche Potenziale sehen Sie für die Zukunft?

Die Schallausbreitung im Automobil kann durch akustische MM in bestimmten Frequenzbereichen durch die sogenannten Stoppbänder verhindert werden oder zum Beispiel durch metamaterialbasierte akustische Linsen umgeleitet beziehungsweise fokussiert werden. Bei dieser Anwendung muss man auch den grundlegenden Unterschied zwischen akustischen und vibroakustischen Metamaterialien darlegen. Bei akustischen MM wird versucht die Ausbreitung vom Luftschall zu verhindern – mit dem Einsatz periodischer Anordnung akustischer Resonatoren. Die Impedanz der Oberfläche eines MM wird durch die der einzelnen lokalen Resonatoren bestimmt. Die resultierenden Impedanzsprünge in bestimmten Frequenzbereichen, in Funktion der Resonanzfrequenz der "Unit Cells", hat zur Folge, dass die Ausbreitung von akustischen Wellen verhindert wird. Diese Eigenschaft wird auch von vibroakustischen MM genutzt. Hier wird versucht, besonders die Ausbreitung von Biegewellen, die am stärksten den Luftschall aufrufen, zu verhindern. Periodische Anordnungen mechanischer resonanten Elementen in Form von Feder-Masse Systemen beziehungsweise Tilgern werden an Bauteilen wie Türen angebracht, um deren Schwingungen abzuschwächen. Auch bei diesen vibroakustischen Maßnahmen werden die Unit Cells gezielt so getuned, um gezielt problematische Schwingungen anzugehen. Obwohl MM im Vergleich zu aktiven Systemen den Vorteil haben keinen zusätzlichen Stromverbrauch zu erfordern, sehe ich für die Zukunft Potential für eine Kombination der zwei Methoden in aktiven MM. 

Ihr Steckenpferd ist die "Entwicklung und Validierung von Resonatorkonzepten für den Einsatz in metamaterial-basierten Schalldämpfern", so der Titel Ihrer Masterarbeit. Wie lauten Ihre Ergebnisse?

Bei der Entwicklung eines Metamaterials ist die Auswahl ihrer Struktur beziehungsweise ihrer resonanten Elemente der erste Schritt. Das Volumen der Meta-Atoms ist von dem Ziel-Frequenzbereich abhängig und vom Volumen des gesamten Bauteils beschränkt. Die Auswahl des Helmholtz Resonators (HR) als Unit Cell wurde getroffen, weil HRn mit einem eingeschränkten Volumen bei tiefen Frequenzen abgestimmt werden können. Durch die Verlängerung des Halses in die Kavität des Resonators selbst, werden diese Elementen noch tiefer abgestimmt. In meiner Arbeit wird klar gezeigt, dass die Performance in Bezug auf dem Transmission Loss (TL) stark frequenzabhängig ist. Deshalb muss ein Kompromiss zwischen einer tiefen Resonanzfrequenz und einer höhen Dämpfung gefunden werden. 

Nach der Optimierung einer einzelnen Unit Cell muss die Kopplung zwischen den kleinsten resonanten Elementen und der gesamten Struktur des MMs untersucht werden. Der Abstand zwischen Unit Cells in einem Wellenleiter, wurde darüber hinaus untersucht und ein besonderes Verhalten beobachtet. Wenn der Abstand ein Viertel der Wellenlänge der Resonanzfrequenz der "side branch" HRn beträgt, wird ein Maximum des TL in einem engen Frequenzbereich stattfinden. Dies wurde sowohl mit der FEA simuliert, als auch am Prüfstand gemessen. Beide Untersuchungsarten zeigen eine sehr gute Übereinstimmung der Ergebnisse. 

Eine stochastische Verteilung der Unit Cells in dem Wellenleiter oder eine Erhöhung der Dämpfung der resonanten Elemente erweitert zwar den Frequenzbereich bei dem die Schallausbreitung verhindert wird, verringert allerdings die grundlegende Eigenschaft des MM, eine höhe Dämpfung in einem schmalen Frequenzbereich zu gewährleisten. MM sind sehr gut geeignet, um die Amplitude störender tonalen Komponente besonders im tiefen Frequenzbereich zu verringern und können mit porösen Materialien kombiniert werden, um auch in den mitten und hohen Frequenzen Absorption zu erzielen.

Akustik ist immer auch Geschmackssache und subjektiv. Daher hat FEV eine Objektivierungsmethode für Antriebsgeräusche erstellt. Wie gut und genau kann so etwas die Realität abbilden oder bleibt das bloß Stückwerk?

Ob Schallereignisse als störend oder angenehm empfunden werden, wird auf der einen Seite stark von der subjektiven Wahrnehmung, der Tätigkeit die ausgeübt wird, dem Geisteszustand usw. bestimmt. Auf der anderen Seite wird durch die Objektivierung versucht, die Beurteilung von Geräuschen von der subjektiven Komponente zu befreien. Bei einer Untersuchung ist das immer erwünscht, da der Mensch kein lineares System darstellt. Die Psychoakustik hilft bei dieser Gelegenheit diese zwei Aspekte zu berücksichtigen. Die Rauigkeit, die Lautheit nach Zwicker, die Schärfe nach Aures, die Tonalität und die Impulshaltigkeit sind psychoakustische Größen, die für Charakterisierung von Schallemissionen genutzt werden, um Schallereignisse zu beurteilen. Damit werden sowohl der Frequenzinhalt als auch der Schalldruckpegelverlauf von Geräuschen objektiv evaluiert. Deshalb stellt die Arbeit von FEV mit ihrer Objektivierungsmethode sicherlich einen Schritt voran dar. 

Die Elektrifizierung der Nebenaggregate von Verbrennungsmotoren schreitet voran, bei elektrischen Klimakompressoren tauchen laut Magna andere störende Geräusche im Pkw auf, die vorher so nicht hörbar waren. Welche Tipps können Sie mit Ihrer Modellmesstechnik geben?

Meine Erfahrung mit der Modellmesstechnik bezieht sich auf die Raumakustik. In diesem Bereich wird die Modellmesstechnik eingesetzt, um Fehler in der Architektur eines Saales beziehungsweise Theater so früh wie möglich zu erkennen um nachträgliche Umbaukosten zu vermeiden. Diese können leicht im sechsstelligen Bereich liegen. In der Automobilindustrie würden Verbesserungsmaßnahmen der Akustik eines Prototyps vermutlich keine Änderungen der Karosserie zur Folge haben. Die Form/Geometrie unterliegt zu vielen anderen zentralen Merkmalen wie zum Beispiel sicherheitsrelevanten Aspekten, die eine größere Priorität haben. Darüber hinaus wird sowohl in der Raumakustik als auch in der Automobilindustrie viel in Simulationen investiert. Anstatt teure echte Modelle zu bauen, werden eher deterministische und statische Berechnungsmodelle eingesetzt, um die ersten Untersuchungen durchzuführen. Im tieffrequenten Bereich, wo die ersten Moden eines Fahrzeuges klar zu unterscheiden sind, eignen sich deterministische Methoden. Bei höheren Frequenzen, schon ab 2 kHz, sind die einzelnen Moden nicht mehr zu unterscheiden und es spielt nicht mehr eine Rolle, bei welcher Frequenz eine Mode Auftritt, sondern deren Anzahl in einem bestimmten Frequenzbereich. Ich sehe deshalb die Zukunft der Simulation in hybriden Modellen bei denen deterministische Methoden wie die FEA (Finite Element Analysis) und statistische Ansätze wie die SEA (Statistical Energy Analysis) kombiniert werden.

Weitere Einblicke in das Thema Metamaterialien gibt Emanuele Merlo im Interview "Beste Leistung bei kleinstmöglichem Volumen" in der ATZ 7-8-2022.

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